Beratung und Information zu neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen
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Ein anonymer Ausstiegsbericht

Der Tag meines Ausstiegs war ein feucht-windiger Wochentag, das weiß ich noch; ich folgte meiner Mutter über die Rottstraße, vorbei an Straßenmenschen und Taubenkot, verdrängte das Schild, das am Eingang des Hauses hing, in das meine Mutter mich führte - "Sekten-Info": schließlich hatte das mit mir nichts zu tun -, und nun stand ich in einem grau-braun-beigen Raum, die passenden Sitzgelegenheiten im Viereck angeordnet. Natürlich, dachte ich, der Charme einer sozial-pädagogischen Einrichtung. Die haben kein Geld, keinen Geschmack, aber vielleicht, wer weiß, trotzdem eine gewisse Ahnung. Ich hatte keine. Was meine Mutter mir klar gemacht hatte: Hier würde man mir vielleicht helfen können; aber wofür, weshalb, wogegen - das wusste ich nicht. Ich war vor einigen Jahren in einen Psychokult hineingerutscht, selbstverständlich ohne es zu merken, und noch immer wollte ich es eigentlich nicht wissen. Ich wusste nur, es ging mir nicht gut.

Ein paar Minuten später saß ich mit einer Frau, die mir vertrauenswürdig erschien, sogar sympathisch, in ihrem Besprechungszimmer, auch dieses nicht eben elegant, nicht so überkandidelt, wie ich es aus den letzten Jahren gewohnt war. Die Frau, kannte die Gruppierung um den "obersten" meiner "Therapeuten", was mich nicht wenig überraschte. Verunsichert erzählte ich ihr von meinen Schwierigkeiten: Ich fühlte mich den Anforderungen des "Therapeuten" und der "Therapie" nicht mehr gewachsen, ich hatte Angst, in dem gescheitert zu sein, was mir dort als meine "persönliche Weiterentwicklung" vorgegaukelt worden war, und mir fiel nichts mehr ein, wie ich mich vor den dort provozierten Situationen noch schützen konnte.

Drei Stunden dauerte das Gespräch. Nach vielen vorsichtigen Fragen und Erklärungen bekam ich langsam einen Eindruck davon, dass ich mich schon längst nicht mehr in einer üblichen Therapie-Situation befand. Ich war seit vielen Jahren Mitglied eines "Psychokults", der die systematische Zerstörung meiner Persönlichkeit absichtsvoll betrieben hatte. Mir wurde auch klar, dass ich diesen Kult um meinem "Obertherapeuten", meinen "Guru" - denn nichts anderes war es - so schnell wie möglich verlassen musste: Ich musste, um meiner selbst willen, auf der Stelle dort "aussteigen". Unglücklicherweise hatte ich gerade erst eine Gruppenreise organisiert, die in der übernächsten Woche stattfinden sollte. Ich hielt dies für einen Hinderungsgrund. Wieso? Nun, ich hatte die Flugtickets besorgt, ich hatte die Teilnehmerlisten in der Hand, die Gruppe zählte auf mich als erfahrene Begleiterin ... Na und? Die Beraterin machte mir unmissverständlich deutlich, dass ich wohl kaum mit dem Ziel, die Gruppierung nach der Reise zu verlassen, am allgemeinen Gruppengeschehen mich würde beteiligen können, als ob nichts wäre. Ich müsste mich entscheiden: ob ich die schmerzhaften Manipulationen und Unterdrückungsmechanismen, mit denen der Guru mich schon einmal an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte, glaubte ein weiteres Mal aushalten zu können. Und wozu?

Es war meine Entscheidung, mein freier Wille, mein erster, eigener Schritt zurück in ein selbständig geführtes Leben, dass ich nun - trotz aller äußerer Hindernisse (die gibt es immer, und immer werden sie überschätzt: die wirklichen Hindernisse, das sind die inneren) - die folgenden, notwendigen Maßnahmen ergriff. Es gab einfach keinen "sanften Ausstieg", keinen gleitenden Übergang; ich hatte nur die Wahl zwischen Bleiben oder Gehen, und zwar sofort.

Meine unfreiwillige Zugehörigkeit zu dem Kult hatte meine Beziehung zerstört, meine Freundschaften nach draußen dauerhaft untergraben, meine Kontakte - soweit sie nicht vom Kult initiiert, kontrolliert, gebilligt waren - auf ein Minimum beschränkt, meine Selbstkontrolle glatt überrannt, mein Selbstbewusstsein kaputt gemacht, meine sexuelle Selbstbestimmung durch willkürliche Fremdbestimmung ersetzt, meine finanzielle Lage in ein Chaos gestürzt, meine physische Gesundheit schließlich ruiniert und meine psychische Verfassung, immer zwischen Verzweiflung, aufkeimender Hoffnung und um so schlimmerer Aussichtslosigkeit schwankend, bis an den Rand der völligen Selbstaufgabe getrieben. Dies ist in der hier gebotenen Kürze kaum nachvollziehbar darzustellen.

Im Gespräch traf ich die Entscheidung zu gehen und nachdem sie gefallen war, ging es nur noch um die organisatorischen Details. In derselben Nacht schlich ich mich an meinen Arbeitsplatz in der Firma, in der ich - auch dies wieder, ohne es zu wissen - für den Kult tätig gewesen war; nahm meine wichtigsten persönlichen Gegenstände an mich und ging. Am nächsten Morgen verließ ich die Stadt mit meiner Reisetasche. In der Folge räumte eine Spedition meine Wohnung aus, der Rechtsanwalt meiner Mutter kündigte mein Arbeits- und mein Mietverhältnis, meine zahlreichen Vereins-, Firmen- und Kontozugehörigkeiten, die alle mit meiner Position im Kult zusammenhingen, Flugtickets, Firmenschlüssel usw. schickte ich zurück, der Lebensgefährte meiner Mutter sorgte für eine neue Bankverbindung und für die Umschuldung meiner aufgelaufenen Kredite. Ich hatte Glück gehabt: Ich hatte für meinen Ausstieg ein paar starke Partner zwar nicht bewusst gesucht, aber gefunden.
 

Der Ausstieg nach dem Ausstieg


Ich war arbeitslos, ich wohnte bei meiner Mutter, mir war noch nicht klar, wie es weitergehen sollte, was als nächstes kommen würde und wie ich mein Leben gestalten wollte - aber ich hatte es geschafft. Ich hatte es hinter mich gebracht. Ich war "ausgestiegen". Dass der eigentliche Ausstieg, der Ausstieg nach dem Ausstieg, noch vor mir lag, konnte ich nicht ahnen.

Auf die folgenden Erkenntnisse kam ich nicht sofort; es bedurfte vieler Gespräche innerhalb des Sekteninfo e.V. mit der Beraterin, außerhalb des Sekteninfos mit der Familie, ich brauchte manchmal Wochen und meistens viele schlaflose Nächte für jeden kleinen Schritt hinaus ins Freie. Hier einige Einsichten aus der ersten Zeit. Ich musste feststellen, dass ich mich über Schemata definierte. Schemata, die festlegten, wie eine Frau einem Mann zu begegnen hat, Schemata, wie eine Wohnung in Ordnung zu halten sei, wann man was und wie zu essen / zu trinken habe, Schemata, welcher Jahreszeit mein Typ entspreche... Die dazu passende Kosmetik, die dazu passende Wohnungsausstattung und die dazu passende Halskette gab es - Sie ahnen es vielleicht - zufällig genau in jenen Läden zu kaufen, die "freundschaftlich" mit dem Psychokult verbunden waren. Jeden Tag, manchmal fast stündlich, fand ich neue solcher Schemata heraus, die immer noch mein Denken, mein Selbstbild prägten. Und das war noch lange nicht alles.

Das "Kultgeländer" war weggebrochen, das soziale Umfeld, die Arbeitsstelle, die strikte Regelung des Tages, der Abende, der Wochenenden, die abgezirkelten Vorgaben, was richtig und was falsch sei (Zwischentöne gab es nicht), die regelmäßigen "Übungen", mit denen ich die Unterdrückung meiner eigenen Wahrnehmung, meiner immer wieder aufflackernden Selbstbehauptung, meiner Spontaneität selbsttätig fortgesetzt hatte, die ebenso wirksamen wie unscheinbaren, sich durch jede noch so unbedeutende Handlung ziehenden Gruppenrituale, vor allem aber jene Person, mein "Obertherapeut", unser Guru, dem ich auf Gedeih und Verderb jedes Wort geglaubt, jeden manipulativen Schlenker abgenommen hatte, all dies war fort - und ich hatte nichts, noch nichts, was ich an deren Stelle setzen konnte. Ich wusste nicht, wer ich war, noch war oder jemals sein könnte. Diese Mischung aus Befreiung und Verlust und dazu die Angst, gesucht, entdeckt, bedroht, verfolgt zu werden, versetzte mich in eine Art rasenden Stillstands. Jetzt konnte ich also wieder richtig leben? Natürlich nicht.

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich in dieser Zeit ein klares Empfinden für die unzähligen Abstufungen von Farben, Gerüchen, Tönen, Berührungen, die ungeheuer subtilen Zwischentöne von Worten und Sätzen gehabt hätte. Ich war so stark angegriffen, dass ich glaubte, schon die neuerliche Wahrnehmung unterschiedlicher Grüntöne im Garten sei der Beweis einer kompletten Verarbeitung meiner Zeit im Psychokult. Alles war neu, vieles war erschreckend, ich war Mitte Dreißig alt und musste die Wirklichkeit entdecken wie eine aus einem mehrjährigen Koma Erwachte; aber immer noch sah ich Menschen, Verhältnisse, Gespräche und sogar meine eigene Beziehung durch die alles verdunkelnde Brille jener Ideologie, die so vieles, was richtig erschien, in einem ganz und gar falschen System zusammenfasste, - obwohl ich doch, wie ich meinte, den Schrecken des Psychokults längst hinter mir gelassen hatte. Hinzu kamen meine Probleme mit der Sprache. Ich hatte Schwierigkeiten, die einfachsten Zeitungsartikel zu verstehen, brachte "weil" und "und" und "aber" durcheinander - die Deformationsmaschinerie des Kults hatte ganze Arbeit geleistet.

Irgendwann erlebte ich in einem Riesensupermarkt einen Zusammenbruch. Ich bekam einen Heulkrampf, als ich eine mir fremde Konservenbüchse anfasste und plötzlich wusste, dass ich ihren Inhalt nicht essen könnte, da ich ein paar Stunden später entweder sterben oder in der Psychiatrie aufwachen würde. Zum Glück kam es nicht so weit. Schon vorher hatte ein Bekannter mich dazu bewegen wollen, mit einem Psychoanalytiker zu sprechen; aber wie therapiert man jemanden, der jahrelang "übertherapiert" wurde? Die eine Stimme in mir hatte stets beigepflichtet, die andere schrie lauthals vor Angst, wieder einem Therapeuten zu begegnen, missbraucht zu werden, benutzt zu werden, gedemütigt zu werden. Der Zustand, in dem ich mich befand - auf Fachchinesisch: eine reaktive Depression - , führte dazu, dass ich nichts mehr entscheiden konnte, noch wollte, dass ich mich erneut beeinflussen ließ und schwere Fehler machte. Die tiefen Verletzungen meiner Angehörigen gehören dabei nicht zu den geringsten. Aber wenigstens ließ ich mich nun auf professionelle Hilfe im Rahmen des Sekten-Info Essen e.V. ein.

Elf Monate lang erkundete ich zusammen mit einem fachkundigen Psychologen vom Sekten-Info Essen e.V. diese Unterwelt in vielen therapeutischen Gesprächen. Während dieser Zeit blickte ich auf viele Ereignisse aus dieser Zeit und ich erinnerte mich. Um alles verstehen und beschreiben zu können, ging ich sogar soweit, manche der sogenannten "Körperübungen" zu wiederholen - ein durch und durch schmerzhafter Prozess; aber ich spürte den heilsamen Drang in mir, noch den finstersten Winkel meiner Persönlichkeit zunächst mit einem Streichholz, dann mit der Taschenlampe und schließlich mit strahlenden Scheinwerfern auszuleuchten. Es ging um die Zurückgewinnung meiner körperlichen Selbstbestimmung. Selbstverständlich, ich las Bücher dazu. Aber die rein analytische Betrachtungsweise wäre für mich persönlich sicher nicht so wirksam gewesen; ich musste es erleben. Ich musste meine Verletzungen erkennen, die Scham darüber ertragen - die jedes ehemalige Sektenopfer kennt: wie konnte ich das bloß zulassen! - ich musste auch, das ist wichtig, darüber weinen, und ich musste die Angst verlieren, mir könnte etwas Ähnliches noch einmal passieren. Wenn ich eben gesagt habe, es ging um die Zurückgewinnung meiner körperlichen Selbstbestimmung, so ist das noch lange nicht genug. Es ging auch um meine psychische und soziale Re-Integration, einfach um das Gefühl, mit einer Freundin einen Kaffee trinken zu gehen, ohne fürchten zu müssen, jeder auf der Straße würde mir gleich ansehen, was ich hinter mir hatte; es ging um die Wiederentdeckung, den Aufbau meiner Persönlichkeit.
 

Der Ausstieg aus dem Einstieg


Und selbst dies ist noch nicht alles. Immer wieder habe ich gedacht, nur noch dieses Thema, zunächst die Organisation des Ausstiegs, dann die Schemata, dann meine Beziehung, dann die Erinnerung, auch die Wiederholung, das Durcharbeiten und schließlich meine Rückkehr ins normale Leben, - und so wäre er geschafft, der Ausstieg nach dem Ausstieg. Und tatsächlich, ich führe wirklich wieder eine "normale" Existenz, ich mache, mit Mitte Dreißig, nochmal eine Ausbildung, ich arbeite, ich kaufe ein, ich gehe spazieren, ich tue etwas für mich ohne schlechtes Gewissen, und ich kann es genießen. Das ist viel. Aber eins fehlt noch, das ist, schlagwortartig gesprochen, der Ausstieg aus dem Einstieg.

Wie jede Kult- oder Sektenbiographie hat auch die meine eine Vorgeschichte. Diese gilt es zu verstehen. Die Beziehungsmuster, die ein Kult oder eine Sekte anbietet - oder besser: aufgreift -, sind dem Betroffenen in ihrer Struktur durchaus schon bekannt: sei es der Zwang, sich anzupassen und unterzuordnen, sei es die Gewohnheit, Zuwendung über Leistung oder auch Selbstverleugnung zu erreichen, sei es der innere Druck, sich auf eine dominante, alles umgreifende, zentrale Persönlichkeit hin auszurichten. Der Kult, die Sekte braucht diese Muster bloß noch - in mehr oder weniger schädlicher Absicht - gegen den Betroffenen zu wenden. Bei mir betrifft dies früheste Erlebnisse in Familie, Schule und später in meine Beziehung, in meinem Beruf. Aber dazu müsste ich Details beschreiben, mit denen ich den Boden der Allgemeingültigkeit verließe.

Insgesamt hat mein Ausstieg verschiedene, auch schwierige Phasen mit sich gebracht, von der Entscheidung zum Ausstieg über die Bewältigung meiner Zeit in dem Kult bis hin zum Verständnis der Vorgeschichte. Damals, an jenem Tag des Ausstiegs hatte ich noch keine Ahnung; ich hatte noch nicht einmal davon geträumt, wie vielfältig und intensiv das Leben sein kann, und was alles möglich ist.

Heute denke ich, ich habe Glück gehabt. Meine Angehörigen haben mir finanziell in einer Weise zur Seite gestanden, die ich kaum erwarten konnte; ich habe einen Therapeuten gefunden, der sich mit den speziellen Erfahrungen eines Kult- oder Sektenopfers auskennt - was nicht zu unterschätzen ist -, und ich knüpfe neue freundschaftliche Kontakte. Inzwischen kann ich versuchen, ein Leben auf Augenhöhe zu leben: Augenhöhe gegenüber meiner Familie, Freunden, Augenhöhe auch gegenüber den Menschen im Sekten-Info. Ich bin froh, dass ich damals, an einem feucht-windigen Wochentag, meiner Mutter in den Sekten-Info gefolgt bin, ich bin auch froh, dass ich damals nicht wusste, was noch alles auf mich zukommen würde, und froh bin ich auch, dass ich es heute weiß, und zwar ohne zu erschrecken. Das alles ist keine Selbstverständlichkeit.