Beratung und Information zu neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen
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ZAHLEN & FAKTEN

Es wurden im Jahr 2022 insgesamt 1172 Anfragen beim Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. registriert. Von den 1172 Anfragen erhielten 488 Personen durch ausführliches Informa­tionsmaterial und ein bis zwei klärende Gespräche Hilfestellung von den Mitarbei­ter*innen des Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. In 684 Fällen war ein inten­siver und längerer Beratungsverlauf mit bis zu 22 Fachkontakten notwendig.

Um einen besseren Vergleich mit den Vorjahren zu ermöglichen, sind wie jedes Jahr die 488 Informationsanfragen und die 684 Beratungsfälle in zehn Kategorien zusammengefasst worden. Insgesamt sind in den zehn Kategorien Anfragen mit der Bitte um Information und Beratung zu 430 verschiedenen Gruppierungen und Anbietern enthalten (vgl. Diagramm 1).

Summe Beratung und Information nach Gruppen

 

Diagramm 1: Summe Beratungsfälle und Informationsanfragen

Die Tendenz der letzten Jahre, dass die Informationsanfragen immer weniger werden, weil die Bürger und Bürger*innen sich mit Hilfe des Internets selbständig informieren, hat sich in diesem Jahr nicht fortgesetzt. Die Anzahl der Beratungsfälle (684) ist zwar immer noch deutlich höher als die Anzahl der Anfragen (488), aber sowohl die Anfragen als auch die Beratungsfälle sind seit Beginn der Corona Pandemie gestiegen und insgesamt sehr hoch.

Viele Menschen fühlen sich überfordert, einsam oder unsicher. Sie verspüren dennoch eine Sehnsucht danach, bedeutsam zu sein und finden es wichtig, sich für ein höheres Ziel zu engagieren. Und genau diese Sehnsucht greifen neue religiöse Bewegungen auf, verstärken die Zweifel an bestehenden Verhältnissen und der stets unzureichenden Gesellschaft, um dann eine vermeintlich einfache Lösung der Probleme anzubieten, verbunden mit der Vision einer besseren und gerechteren Zukunft. Neue religiöse Bewegungen sind umso attraktiver, je komplexer und bedrohlicher die Welt erscheint. Sie geben einfache Antworten auf kompli­zierte Lebensfragen und versuchen mit ihrem oft klassischen Schwarz-Weiß-Denken eine vermeintliche Sicherheit zu erzeugen.

Zusätzlich nimmt die Anzahl kleiner Gruppen und Einzelanbieter ständig zu. Kleinere Gruppierungen mit nur wenigen Mitgliedern sind zum Teil gefährlicher, weil die Kontrolle intensiver und die Abhängigkeitsgefahr größer ist. Teilweise werden Freundschaften oder familiäre Bindungen vorgespielt, aus denen man sich nur schwer wieder befreien kann.

Außerdem wird es immer schwieriger, die Beratungsfälle genau einer Kategorie zuzuordnen.

Verschwörungstheorien kamen auch früher schon im Glauben einzelner Gruppierungen vor, jedoch selten für sich. Sie dienten dazu, die Ideologie der Gruppe zu rechtfertigen und zu stü. Erst durch die Corona-Pandemie glaubten Betroffene an Verschwörungserzählungen ohne Anbindung an eine bestimmte Gruppierung oder trauten sich, ihren Verschwörungs-glauben deutlicher und öffentlich mitzuteilen. Umgekehrt integrierten Gruppierungen Verschwörungstheorien, die sich auf die Coronakrise bezogen, in ihren Glauben und unterstützten damit die Verbreitung von Verschwörungstheorien. Schwerpunktmäßig zählt die Beratungs-stelle die Fälle zu den Verschwörungstheorien, bei denen Menschen an eine „innerweltliche, böse, und mächtige Elite“ glauben, die zum Schaden der ganzen Menschheit agiert.

Verschwörungstheorien sind grundsätzlich veränderbar und passen sich der wandelnden Situation der realen Welt an. Ein Kernmerkmal ist dabei die Ablehnung der offiziellen Darstellung, des „Mainstreams“. Der emotionale Gewinn für den Einzelnen besteht darin, dass der erlebte Kontrollverlust externalisiert werden kann. Bei Menschen, die an viele verschiedene Verschwörungstheorien glauben, ist häufig eine gewisse Verschwörungsmentalität erkennbar. Sie stellt in der Wissenschaft eine eigenständige Persönlichkeitseigenschaft dar und ist gekennzeichnet durch geringes Vertrauen anderen gegenüber, Selbstzweifeln und Gefühlen von Machtlosigkeit und einer niedrigen Ausprägung von Verträglichkeit.[1]

 

Informationsanfragen und Beratungsfälle 2022 im Einzelnen

Bei einem Vergleich der Kategorien in der Tabelle auf Seite drei fällt auf, dass die Tendenz der Jahre 2020/2021 sich im Jahr 2022 fortgesetzt hat. Die Informationsanfragen und Bera­tungsfälle der Kategorie Psychogruppen haben mit insgesamt 334 Anfragen und Beratungs­fällen alle anderen Kategorien deutlich übertroffen und stehen auch in diesem Jahr wieder an erster Stelle. Die Corona-Pandemie hat die Verschwörungstheorien und die Probleme, die damit verbunden sind, explodieren lassen.

In dieser Kategorie werden Anfragen und Beratungsfälle zu Verschwörungstheorien, unse­riö­sen Coaching-Angeboten und zur Reichsbürgerbewegung zusammengefasst. Es gab mehr Beratungsfälle (217) als Informationsanfragen (117).

Der Rückgang gegenüber 2021 lässt sich mit der beruhigteren Pandemie-Lage erklä­ren. In den Beratungsgesprächen mit den Angehörigen von Verschwörungsgläubigen wird deutlich, dass es teils zu einer Beruhigung in den Familien kommt, auch wenn damit nicht immer zugleich eine Abkehr von den geglaubten Verschwörungserzählungen ein­hergeht. Bei einem kleineren Teil ist aber auch von einer fortdauernden oder weiteren Fanati­sierung des verschwörungsgläubigen Familienangehörigen die Rede, welche ein gemein­sa­mes Alltags­leben erschwert oder un­mög­lich macht. Ratlose Angehörige können neben einer Einzelbe­ratung auch in einer Gesprächsgruppe mit anderen Angehörigen von Verschwörungs­gläubigen Unterstützung finden. Immer wieder gilt es, sich weniger konflikthafte Debatten über einzelne Verschwörungstheorien zu liefern, sondern konstruktive Wege zur alltäglichen Problemlösung zu suchen und die die emotionalen Motive ernst zu nehmen.

Nach wie vor möchten nur wenige ehemalige oder noch verschwörungsgläubige Menschen Beratung in Anspruch nehmen. Das zugrundeliegende Misstrauen gegenüber den staatlichen Institutionen und medizinisch-wissenschaftlichen Erklärungen ist nicht so leicht aufzulösen. Bei den Beratungsgesprächen werden die individuellen Motive und Problemlagen deutlich, welche den problematischen Entwicklungen zugrunde liegen. Enttäuschungen in der Partner­schaft, Mobbing am Arbeitsplatz, Erkrankungen und Schicksalsschläge lösten Ohnmachts­gefühle aus. Insbesondere das Gefühl ungerecht behandelt worden zu sein (auch durch die Pandemiebestimmungen), verstärkte das Misstrauen und begünstigte eine Verschwörungs­mentalität, die auf der Suche nach den „Schuldigen“ und nach der bösen Absicht ist.

 

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Weiterlesen:
Bericht über die Arbeit des Sekten-Info NRW und die Aktivitäten neuer religiöser Gemeinschaften 2022