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Es wurden im Jahr 2023 insgesamt 1016 Anfragen beim Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. registriert. Damit ist wie bereits im letzten Jahr erneut ein Rückgang zu verzeichnen nach dem durch die Corona-Pandemie bedingten Anstieg. Mit 1016 Anfragen und Beratungsfällen bewegen sich die Zahlen wieder auf dem Niveau von vor der Krise. Thematisch ist der Rückgang eindeutig auf rückläufige Anfragen zu Verschwörungstheorien zurückzuführen.
Bei den 1016 Anfragen an unsere Beratungsstelle konnte 482 anfragenden Personen mit kürzeren, aufklärenden Gesprächen und Informationsmaterial ausreichende Hilfestellung geleistet werden. In 534 Fällen gab es einen intensiveren und längeren Beratungsverlauf. Familiäre und andere Konfliktthemen im Zusammenhang mit problematischen weltanschaulichen Aspekten machten bis zu 21 Fachkontakte notwendig. Die 482 Informationsanfragen und die 534 Beratungsfälle wurden in der folgenden Übersicht - wie stets - in zehn Kategorien zusammengefasst. Insgesamt sind in Anfragen zu etwa 450 verschiedenen Gruppierungen und Anbieter*innen enthalten (vgl. Diagramm 1).
Diagramm 1: Summe Beratungsfälle und Informationsanfragen
Der überwiegende Teil der Anfragen bezieht sich auf viele kleinere Gruppen - etwa freikirchliche Gemeinden, spirituelle Meditations- und Yogagruppen, sowie Einzelanbieter*innen problematischer esoterischer Lebenshilfe, unseriöse Heilpraktiker*innen, Geistheiler*innen und Coachinganbieter*innen. Die Grenzen zwischen den Kategorien sind fließend.
Als einzelne Gruppen mit erhöhtem Anfrageaufkommen sind die Zeugen Jehovas (45), die Scientology Organisation (34) und Shincheonji (23) zu nennen. Gemeinsam machen sie einen Anteil von nur 10 Prozent aus. Bei Gründung der Beratungsstelle vor 40 Jahren sah diese Verteilung deutlich anders aus. Im Fokus standen 20 große Gemeinschaften, die ein erhöhtes Konfliktpotenzial aufwiesen. Scientology und die Zeugen Jehovas sind von dieser Liste als große Gruppen mit erhöhtem Anfragebedarf geblieben. Darüber hinaus zeichnen die Zahlen die fortschreitende Fragmentierung der Weltanschauungsangebote nach. Gründe finden sich in der Individualisierung der Gesellschaft, der höheren Flexibilität in der Arbeitswelt und einer stärkeren konsumorientierten Erlebniswelt. Die daraus resultierenden Probleme und Bedürfnisse sind spezifischer geworden und fordern individuellere Beantwortung. Traditionelle Kirchen und auch Vereine verlieren sukzessiv ihre lebensbegleitende Bindekraft. Viele Menschen suchen angesichts aktueller Problemstellungen und auch bei seelischen Nöten vermehrt marktförmige, scheinbar schnelle Hilfsangebote und spirituelle Versprechen. Über die Entwicklungen während dieses langen Zeitraums gibt Frau Riede einen Überblick in dem Artikel: 40 Jahre Beratungs- und Informationsarbeit zu neuen religiösen Bewegungen und kein Ende in Sicht
Die Ende letzten Jahres veröffentlichten Ergebnisse der seit 1972 alle 10 Jahre stattfindenden Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der evangelischen Kirche in Deutschland verdeutlicht diese Entwicklung drastisch. Ihr zufolge gehört die Mehrheit der Bevölkerung keiner der beiden großen Kirchen mehr an. 56 Prozent bezeichnen sich als uneingeschränkt nicht religiös. Erstmals waren neben evangelischen auch katholische Christ*innen, Muslime, Anders- und Nichtgläubige befragt worden, um ein repräsentatives Bild zu bekommen.[1]
Der Untersuchung liegen jedoch Kriterien zugrunde, die bei den Fragen nach Glaube und Spiritualität eher organisierte Gemeinschaften im Blick haben. Dies führt bei sowohl organisatorisch als auch ideologisch loseren Formen unserer Ansicht nach zu verzerrten Ergebnissen. Den Fragestellungen für die Zustimmungswerte zum Bereich Esoterik liegen unseres Erachtens veraltete Vorstellungen zugrunde, entsprechend niedrig ist das Ergebnis.[2] Die hier typischen loseren Bindungsformen werden nicht sichtbar. Gleichwohl ist der in der Untersuchung festgestellte Trend der weiteren Deinstitutionalisierung von Religion nachvollziehbar.
Die Suche nach Antworten auf Lebensfragen und die Sehnsucht nach Sinnstiftung – auch angesichts persönlicher und gesellschaftlicher Krisen - bleiben mit dem Verlassen der großen Kirchen in der Regel nicht auf der Kirchenbank liegen. Und der Bedarf ist nicht weniger geworden. Die genannten gesellschaftlichen Entwicklungen werden auch im Zuge des fortschreitenden Einzugs der „Künstlichen Intelligenz“ in alle Lebensbereiche eher verstärkt. Während manche angesichts der rasanten Entwicklung in Euphorie verfallen, fühlen sich andere verunsichert. Die „KI“ ermöglicht leider auch immer raffiniertere Täuschungen. Bei sogenannten „Deepfakes“ werden z. B. Politiker*innen in Videos beliebige Aussagen in den Mund gelegt. Dies bietet auch Verschwörungsideolog*innen neue Möglichkeiten und erschwert damit die Suche nach verlässlichen Informationen.
Anfang 2024 zeigte sich mit den unzähligen Demonstrationen eine gesellschaftliche Reaktion auf die vielfältige Krisenstimmung. Der im Januar vorgelegte Bericht des Recherche-Netzwerks "Correctiv" über ein konspiratives Treffen der rechten Szene in Potsdam im November 2023, mit Plänen einer groß angelegten „Remigration“, hatte eine Welle der Empörung zur Folge, die nach wie vor anhält. Bei den folgenden Demonstrationen „gegen Rechts“ entlud sich anscheinend ein länger zurückgehaltenes Bedürfnis, seinen Unmut über erstarkende rechte Kräfte zu äußern. Das Kölner Forschungsinstitut Rheingold hat in einer Studie untersucht, wie sich die Geheimplan-Recherche und die darauf folgenden Demonstrationen psychologisch auf die Menschen im Land ausgewirkt haben:
Die Teilnahme an den aktuellen Demos gegen Rechtsextremismus vermittle den Menschen das Gefühl, nicht länger alleine mit den multiplen Krisen durch Corona, der Inflation, dem Klima oder den Kriegen umgehen zu müssen, sondern Teil einer kraftvollen Bewegung zu sein.[3]
Damit bot der massenhafte Protest die Chance auf ein länger vermisstes „Wir-Gefühl“. „Mit der Teilnahme an den Demonstrationen ist das befreiende Gefühl wiedererlangter Handlungsmacht und Zusammengehörigkeit verbunden.“
Bei der Suche nach einer individuell passenderen und damit notwendigerweise kleineren Gemeinschaft kann bei der Vielzahl an Möglichkeiten leicht ein (oft nur scheinbar) passgenaues Angebot gefunden werden. Kleinere Gruppierungen können gerade durch die kleinere Anzahl an Mitgliedern höhere Bindekräfte entfalten, was die Abhängigkeitsgefahr vergrößert. Die Außenkontrolle ist dagegen erschwert. Die wachsende Anzahl und Fluidität von Gruppen und Angeboten führt dazu, dass bei einer Suche nach Informationen oft keinerlei (oder keine kritische) Information zu finden ist. Daher ist der Bedarf an neutraler, orientierender Information und unterstützender Beratung geblieben. Doch führt diese Entwicklung auch zu einem erhöhten Rechercheaufwand für die Mitarbeiter*innen der Beratungsstelle.
Art der Betroffenheit
Diagramm 2: Informationsanfragen und Beratungsfälle aufgeteilt nach Art der Betroffenheit
28% der Anfragen an unsere Beratungsstelle kamen von Selbstbetroffenen. Weitere 32% verteilten sich auf nahe Angehörige oder den/ die Partner*in. 10% kamen aus dem Umfeld von Bekannten und Kolleg*innen. Deutlich gestiegene 21% baten uns im Rahmen eines institutionellen Arbeitsauftrages um Hilfe (z.B. Polizei, Schule, Hochschule, Beratungsstellen, Jugendhilfe, Psychiatrien). Viele dieser Anfragen bezogen sich auf den Bereich der Verschwörungstheorien und Reichsbürger-Bewegung. Aus diesem Grunde hat sich mit 9 % auch der Anteil an Presse-Anfragen erhöht. (vgl. Diagramm 2).
Informationsanfragen und Beratungsfälle 2023 im Einzelnen
(...) Weiterlesen: Bericht über die Arbeit des Sekten-Info NRW und die Aktivitäten neuer religiöser Gemeinschaften 2023
[1] https://www.sueddeutsche.de/politik/kirche-als-gott-aus-deutschland-verschwand-ein-bischof-bilanziert-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-231231-99-454129, abgerufen am 15.03.2024.
[2] https://www.ezw-berlin.de/aktuelles/artikel/triumph-der-saekularisierung-skeptische-rueckfragen-an-die-kmu-vi-news/, abgerufen am 15.03.2024.
[3] https://www.rheingold-marktforschung.de/rheingold-studien/psychologische-wirkungen-der-demonstrationen-gegen-rechtsextremismus/, abgerufen am 6.3.2024.