Beratung und Information zu neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen
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Salafisten - Entstehung, Merkmale und die Situation in Deutschland

Der Artikel beschäftigt sich mit einer Facette des Islamismus, die innerhalb weniger Jahre auf die Betrachtung des Islams und auf die Integrationsdebatte enormen Einfluss genommen hat. Nach kurzer Definition und histo­rischer Einordnung des Salafismus wird die Situation in Deutschland aufgezeigt. Der Suche nach den Ursachen für das Anwachsen der Strömung folgt eine Darstellung von Materialien zur Aufklärung und Prävention.

Allgemeine Problemlage

„Wir Muslime bekennen uns eindeutig zur Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und der freiheitlich demokratischen Grundordnung.“ (Essener Erklärung vom 11.9.2005)
 
Die Anschläge vom 11.9.2001 in den USA, der Mord am islamkritischen Filmemacher Theo van Gogh 2004, die Folgewirkung der Mohammed-Karikaturen in der dänischen Tages­zeitung Jyllands-Posten 2005, der Anschlagsversuch der Sauerlandgruppe 2007, das Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin 2010, der tödliche Anschlag auf zwei US-amerikanische Soldaten in Deutschland durch einen Islamisten im März 2011, hinzu kommen die steten Nachrichten von Gewalt aus dem Nahen Osten. Diese Schlagzeilen nähren Ängste und belasten das Verhältnis auch zu gemäßigten muslimischen Bürgern in Deutschland.

In den Fußgänger­zonen deutscher Städte finden sich zunehmend Büchertische islamischer Gruppierungen wie der fundamentalistischen Ahmadiyya Bewegung oder salafistischer Kreise. Bei der Vor­stellung des Verfassungsschutzberichtes 2010 im Juli 2011 heißt es von Bundesinnen­minister Friedrich: „Der politische Salafismus ist eine gefährliche Strömung, die sich gegen unsere Demokratie richtet.“ Im September legte NRW-Innenminister Jäger mit einer Analyse von Lebensläufen konvertierter Islamisten nach: „Jung, fanatisch, gewalt­bereit“. War der islamistische Terrorismus bisher mit getarnten Zellen und kleinen Hinterhof­moscheen asso­ziiert, so rückt seine Vorstufe jetzt in die Fußgängerzonen vor. Da auch die Beratungsstelle des Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. mit Sorgen und Beratungsbedarf angefragt wird, widmet sich nun unsererseits ein Artikel dieser Thematik.
 
 

Salafiya und Salafismus

„Der Islam ist die Lösung!“ (Motto der salafistisch beeinflussten Muslimbruderschaft)

Der Begriff „Salafiya“ bezeichnet eine Strömung im (sunnitischen) Islam, die sich an dem Ideal der musli­mischen Urgemeinde in Medina orientiert, wie es die ersten drei Generationen von Muslimen seit dem Propheten Mohammed (eigentlich Muhammad) gelebt haben sollen. Der Name Salafiya bezieht sich auf diese „rechtschaffenen Altvorderen“ (arabisch al-salaf al-salih). In der dritten Generation begründete Ahmad Ibn Hanbal (verstorben 855 n. Chr.) die hanbalitische Rechtsschule. Die hier zugrunde ge­legten Quellen des Islam – der Koran und die Überlieferungen des Propheten (Sunna) – können als unveränderbare Grundfeste der Salafiya bezeichnet werden. Alle Veränderungen, die der Islam nach dieser Zeit erfahren hat, werden von der Salafiya als „unislamische“ Neuerungen abgelehnt. Dies betrifft auch alle Formen des Volksislam, den mystischen Sufismus und die Schiiten. Die Trennung der sunnitischen Muslime in verschie­dene islamische Richtungen - „Rechtsschulen“ - wird abge­lehnt. Statt der üblichen Berufung auf deren jeweilige Gelehrte soll die reine, nur an Koran und Sunna orientierte Glaubenslehre als Richtschnur der Lebensführung dienen.

Auf dieser Grundlage entwickelte sich einerseits im 18. Jahrhundert die Wahhabiya im regionalen politischen Zusammen­spiel mit dem saudischen Könighaus auf der Arabischen Halbinsel. Die Salafiya andererseits entfaltete sich politisch ungebundener als Strömung im ägyptischen Raum im Zusammenhang mit der Kolonialisierung. Die Erklärung für das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen dem Westen und den unterlegeneren musli­mischen Ländern lag nach Ansicht der Salafiya im Abweichen vom wahren Islam. Nur die Orientierung an den rechtschaffenen Altvorderen der Urge­meinde von Medina könne ein Wiedererstarken der islamischen Gemeinschaft befördern.

Das unmittelbare Wort Gottes sollte auch eine der Gegenwart angemessene Ordnung schaffen. So begründete die Salafiya auch die Vereinbarkeit von Islam und westlicher Fort­schrittstechnologie. Gesellschaftliche Reformen und Erfolg einer Gesellschaft stünden in direktem Zusammenhang mit ihrer Religiosität. Sie sollen zu einer „neuen muslimischen Gemeinde“ aller Muslime (Panislamismus) führen. So gesehen ist diese ursprüngliche Salafiya eine „Reformbewegung“. Die Rückbesinnung auf die Altvorderen erfordert dabei eine Ablehnung von allen Verunreinigungen des Islam insbesondere durch fremde Einflüsse.

Diese Reformgedanken wurden von zunächst einigen wenigen Intellektuellen maßgeblich in Ägypten und nachfolgend in Algerien entwickelt. Im Widerstand gegen den europäischen Kolonialismus und Vertretung des Panislamismus entwickelte sich die Salafiya zu einer einflussreichen Bewegung. Die 1928 in Ägypten gegründete Muslimbruderschaft griff die Reformgedanken der Bewegung auf. Der Islam repräsentiere ein umfassendes System, das sich auf jeden Lebensbereich und damit verbundene Probleme beziehe. Damit forderte die Muslimbruderschaft die Einheit von Politik und Religion. Ihr Slogan: „Der Islam ist die Lösung!“ Nach Unterstützung des Staatsstreiches der „Freien Offiziere“ zur Abset­zung des ägyptischen Königs Faruk I., gerieten die Muslimbrüder mit der Nachfolgeregierung in Konflikt. Ein Attentatsversuch auf Gamal Abd al-Nasser 1954 führte zu einer Verhaf­tungs­welle, infolge derer sich die Salafiya-Bewegung radikalisierte. Zugleich erfolgte eine Annähe­rung und gegen­seitige Beeinflussung mit dem saudischen Wahhabismus. Wahre Muslime sollten sich nun nicht nur gegen westlichen Imperialismus wehren, son­dern auch gegen islamische Regime. Sofern sich diese einer göttlich legitimierten Herr­schaft verwei­gerten, hätten sie sich quasi selbst zu Ungläubigen erklärt und müssten bekämpft werden. Auch heute argumentieren terroristische islamistische Gruppen wie al-Qaida auf diese Weise für den gewaltsamen Kampf gegen „Ungläubige“ und „unislamische Systeme“ (Salafismus - Entstehung und Ideologie, Innenministerium NRW 2009, S. 5).  

Der moderne Salafismus ist keineswegs einheitlich. Kennzeichnend ist aber eine Abgren­zung von der Gesellschaft, die extreme Züge annehmen kann. Man möchte sich in Erschei­nung und Verhalten am Propheten und seinen Getreuen orientieren. Daher kommt die Verwendung traditioneller Gewänder, das Tragen von Bärten, die strikte Trennung der Geschlechter und beispielsweise die Nutzung eines Zahnholzes anstelle einer Zahnbürste. Während die Nutzung moderner Technik wie Computer und Internet keinen Widerspruch zur Lehre darstellt, meiden besonders fromme Salafisten jegliche weltliche Musik. Saudi-Arabien unterstützt die weltweite Verbreitung der salafistischen Ideologie finanziell und logistisch.


Politik, Verschwörung und Jihad 2.0 im Internet

„Mutter bleibe standhaft, ich bin im Jihad. Trauer nicht um mich und wisse, Er hat mich erweckt. Die Umma ist geblendet, doch ich wurde geehrt. Mutter bleibe standhaft, dein Sohn ist im Jihad.“  (aus einem religiösen Lied von Mounir Chouka aus Bonn – jetzt Afghanistan)

Während der Islam als Weltreligion gleichberechtigte Anerkennung findet, gelten der Islamis­mus und der „politische Salafismus“ in demokratischen Ländern als politische Ideologie. Der „wahre Islam“ soll nicht nur den Glauben regeln, sondern auch die verbind­liche Richt­schnur für Staat und Gesellschaft sein. Zum Glauben tritt der Wille zur gesell­schaftlichen Neuordnung nach islamischem Recht. Auch wenn Gewalt als Mittel zur Umset­zung abge­lehnt wird („legalistischer Islamismus“), handelt es sich um eine gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Ideologie. Bestrebungen, die deutsche Verfas­sungsordnung durch eine religiös legitimierte Ordnung zu ersetzen, werden als verfas­sungsfeindlich und extremistisch eingestuft. „Salafismus“ wird hier in diesem Sinn definiert.

Vom Islamismus als extremistischer Ideologie ist daher der islamische Fundamentalis­mus abzugrenzen. Anhänger diverser fundamentalistischer Gruppen (darunter auch „apolitische Salafisten“) äußern sich entsprechend religiös dogmatisch und intolerant, bleiben dabei aber unpolitisch. Sie streben keine gesellschaftlichen Veränderungen an wie die Islamisten.

Gewaltbereiter Islamismus oder auch Jihadismus will das eigene Ideal eines muslimischen Gesellschaftssystems notfalls auch mit Gewalt durchsetzen. Seine Anhänger sehen sich als Opfer einer von westlichen Mächten dominierten, anti-islamischen Verschwörung und rufen zum „notwendigen“ und „gerechtfertigten“ Verteidigungskampf, inklusive Terrorismus auf.

Westliche Gesellschaftsordnungen gelten nach salafistischer Ideologie als schlecht und ungerecht. Die Demokratie wird als von Menschen gemachte Götzen-Religion dargestellt, zu der die perfekte „islamische Ordnung“ auch im religiösen Gegensatz stehe. Der Pluralismus wird für den Verfall der Sitten und Werte verantwortlich gemacht. Mittels der wirtschaftlichen und militärischen Überlegenheit unterdrücke der „Westen“ die islamische Welt. Krisen und Konfliktgebiete in der islamischen Welt sind eigent­lich Anzeichen einer westlichen Verschwö­rung, für die oft geheime, jüdische oder zionistische Kreise bemüht werden. Mit antisemi­tischen Thesen werden der „große Satan“ (USA) und der „kleine Satan“ (Israel) beschuldigt, die Errichtung einer „gerechten“, einer „islamischen“ Weltordnung zu verhindern (Andi 2 „Comic für Demokratie und gegen Extremismus“, S. 22). Verschwö­rungstheorien finden auch außerhalb der extremistischen Gruppierungen eine zunehmende Akzeptanz.

Die ständige Wiederholung wichtiger Begriffe schafft dabei ein profiliertes Bezugssystem. Obwohl die benutzten arabischen Begriffe dabei oft eine einseitige Zuspitzung erfahren, entsteht durch ihre Verwendung der Eindruck einer islamischen Allgemeingültigkeit. Wer bisher unzureichende Islam-Kennt­nisse hatte, wird dadurch an die als „authentisch“ rekla­mierte Ideologie gebunden. So werden „alleingültige“ Positionen des wahren Islam prokla­miert, die weitab aktueller islamischer Meinungsvielfalt liegen. Folglich fällt die sachliche Auseinandersetzung mit anderen Muslimen immer schwerer, obwohl doch die internationale islamische Gemeinde - umma - beschworen wird.

Die da’wa meint die „Einladung“ „Andersgläubiger“, also der Kuffar. Bei islamistischer Ausle­gung gilt die Mission aber auch Muslimen, die neben Koran und Sunna „Weiteres gelten lassen“ shirk. Die Befolgung lokaler Traditionen beispielsweise macht sie bereits zu „Götzenanbetern“ muschrikun. Muslime, die sich durch „Neuerungen“ bid’a gegen den authentischen Islam versündigen, auch islamische Regierungen, werden kurzerhand „zu Ungläubigen erklärt“ - takfir. Zahlreiche Richtlinien durchziehen mit halal „erlaubt“ und haram „verboten“ den Alltag und definieren auch die Grenze zur „Unzucht“ zwischen den Geschlechtern. Während Zina eigentlich die Scharia-Bezeichnung für außerehelichen Geschlechtsverkehr meint, beginnt bei Salafisten die Grenze bereits beim Händeschütteln.

Dieser Zusammenhang von Ideologie und Sprache ist ein deutliches Merkmal problema­tischer Gruppierungen. Besondere Bedeutung in der öffentlichen Debatte gewinnen die islamistisch zugespitzten Konzepte zum Jihad und der Scharia.

Jihad wird allgemein als stete Anstrengung für den Glauben verstanden. Zumeist bedeutet das die friedliche Bemühung des Einzelnen um ein gottgefälliges Leben in Wort und Tat. Dies kann neben den religiösen Pflichten auch missionarische Bemühungen umfassen. Der Jihad schließt als Begriff allerdings durchaus auch die notfalls kriegerische Verteidigung der Gemeinschaft bei Angriff von außen mit ein. Hierher rührt die verkürzende Gleichsetzung mit dem Ausdruck „Heiliger Krieg“. Islamistisch-jihadistische Positionen erklären den Notstand, da der „Westen“ den Islam vernichten wolle. Terrorakte werden daher als Teil des Jihad zur Verteidigung des Islam ausgegeben. Der Tod auch anderer Muslime wird ausdrücklich in Kauf genommen. Der Jihad wird dabei gerne als die jeden Muslim ver­pflichtende sechste Säule des Islam bezeichnet (die als Grundpflichten verstandenen klassi­schen fünf Säulen des Islam sind: Glau­bensbekenntnis, täglich fünfmaliges Gebet, Almosengabe, Fasten im Ramadan, Pilgerfahrt nach Mekka). Je nach ihrem Jihad-Verständnis, beziehungsweise einer Ableh­nung oder Rechtfertigung von Gewalt, werden die Gruppierun­gen des Sala­fismus in legalistisch oder jihadistisch unterteilt. Die Grenzen sind jedoch fließend.

Das islamische Recht Scharia bezeichnet die Gesamtheit der von Gott/ Allah gegebenen Regeln, welche sich aus Koran und Sunna (den Überlieferungen der Worte und Handlungen des Propheten) ableiten lassen. Im Bemühen, aus diesen Quellen durch Auslegung gültige Normen abzuleiten, entwickelte sich schon früh eine Rechtswissenschaft. Verschiedene Auslegungen und die Beeinflussung durch regionales Stammesrecht führten zu einer Anzahl unterschiedlicher Rechtsschulen mit eigenen Regelsammlungen. Weite Teile der Scharia betreffen den Gottesdienst, rituelle Reinheit und Speisevorschriften. Während es viele Regeln bezüglich des Familien- und Erbrechts gibt, fehlt eine intensive Behandlung beim Strafrecht, mit dem der Begriff Scharia hierzulande gerne gleichgesetzt wird. Ein scharia-konformes Leben heißt für die meisten Muslime, ihren religiösen Pflichten nach­zukommen, wie sie die fünf Säulen des Islam (und die jeweilige Tradition) bestimmen.

Der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt ist, dass die Scharia tatsächlich in Deutschland im Einklang mit deutschem Recht zur Anwendung kommen kann. Aufgrund fami­lien- und erbrechtlicher Themen kann das islamische Recht des Herkunftslandes Anwen­dung für hier lebende Muslime finden. Eine allgemeine Anwendung der Scharia - also wie von Islamisten gefordert auch im Strafrecht - gibt es nur in wenigen Ländern. In jedem Fall wäre sie in Deutschland grundgesetzwidrig und damit ausge­schlossen. Bei deutscher Staatsangehörigkeit gilt in jedem Fall deutsches Recht.

Islamisten nutzen den technischen Fortschritt und damit das Internet als probate Methode, um ihre Ideologie zu verbreiten und sich international zu vernetzen. Die Anzahl extremisti­scher Webseiten nahm nach den Terroranschlägen in den USA 2001 und dem anschlie­ßenden Kampf gegen den Terrorismus explosionsartig zu. Über eine leicht einzurichtende Webseite lassen sich ungleich mehr Menschen erreichen und international vernetzen als mit Flugblättern oder Broschüren. Anleitungen zum korangemäßen Leben lassen sich dabei ebenso leicht verbreiten wie Anleitungen zur Sprengstoffherstellung. Die mit „web 2.0“ bezeichneten Möglichkeiten befähigen die Internetnutzer zur vielgestaltigen Eigenbe­teiligung. Durch Foren, Chatrooms und Twitterdienst wird ein direkter und schneller Gedan­kenaustausch ermöglicht. Mittels Videoplattformen wie Youtube und sogenannten Blogs stellen Nutzer selbst Inhalte ein - auch spontan über das Handy. Methodisch aufbereitete missionarische Inhalte vermischen sich mit religiösen Selbstinsze­nierungen Jugendlicher in Peer-Gruppen. Durch die sofortige Diskussion aktueller Aktionen und ihrer Bewertung in einschlägigen Foren bekommt die Entwicklung eine früher unvorstellbare Dynamik. Die virtuelle Onlinewelt verschmilzt mit der realen Welt, wenn Anschlags-, oder Abschiedsvideos von Attentätern auf Online-Profilen Jugendlicher „verlinkt“ werden. Deutsch­land wird seit Ende 2008 in deutscher Sprache durch ausländische Terror-Organisationen wie die 'Islami­sche Jihad Union' und 'al-Qaida' angesprochen. Auch 2010 kritisierten auslän­dische Internetbotschaften den deutschen Afghanistan-Einsatz als „islamfeindlich“, drohten indirekt Anschläge an und warben um Nachwuchs für den bewaffneten Jihad. Gruppierungen mit guten Verbindungen zu ausländischen Netzwerken finden sich in Deutschland ebenso wie unabhängige Kleingruppen und über das Internet radikalisierte Einzeltäter. (Verfassungs­schutzbericht Bund 2010, S. 203)
 

Salafisten in Deutschland

„Dialog und Integration sind nur für Dein Verderben!“     
(Ibrahim Abou-Nagie, vgl. dazu Bonner Generalanzeiger 9.12.2010)


In Deutschland leben etwa 4 Millionen Muslime. Mit 5% der Bevölkerung stellen sie nach Katholiken und Protestanten die drittgrößte Glaubensrichtung. 63% der Muslime ent­stammen der Türkei und sind damit mehrheitlich Sunniten. Aus Südeuropa und Nordafrika kommen ebenfalls Sunniten. Ebenfalls großenteils aus der Türkei kommen die 13% Aleviten. Die mit 7% vertretenen Schiiten kommen meist aus dem Iran und dem Libanon. (Handreichung der Konrad Adenauer Stiftung - KAS) Vergleichs­weise gering ist die Anzahl der gebürtigen Deutschen, die zum Islam konvertierten. Gleich­wohl kommt insbesondere den jungen Konvertiten eine besondere Bedeutung zu. Ein knappes Prozent der Muslime können als Islamisten bezeichnet werden, laut Verfassungs­schutz schätzungsweise 34.700. Als gewaltbereit gelten davon 1500. Den Salafisten, als einer der islamistischen Gruppierungen, sind bis zu 5000 zuzurechnen. Darunter werden an die 100 missionarisch Aktive gezählt. Das ist zahlenmäßig ein kleiner Anteil der insgesamt beziffer­ten Islamisten.

Doch der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, zeigt das hohe Radikalisierungspotenzial dieser Szene auf: "Nicht jeder Salafist ist ein Terrorist, aber fast alle Terroristen, die wir kennen, hatten Kontakt zu Salafisten oder sind Salafisten." Damit geriet diese Szene ins Schlaglicht der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die Gefahr wurde anhand bisheriger Anschläge verdeutlicht: Die US-amerikanischen Soldaten wurden im März 2011 in Frankfurt von einem Salafisten getötet. Damit ist dieser isla­mistisch motivierte Anschlag der erste in Deutschland mit tödlichem Ausgang. Im Februar 2012 wurde Arid Uka zu lebenslanger Haft verurteilt. Bei dem Anschlagsversuch der „Sauerland­gruppe“ 2007 waren zwei der vier Hauptbeschuldigten deutscher Herkunft, welche konver­tierten und salafistisch motiviert waren. Darüber hinaus erhalten auch im Ausland islamisti­sche Terror­organisationen Zulauf aus deutschen Kreisen. Laut Verfassungsschutzbericht (NRW 2010, S. 195) sind einige davon in Propaganda- oder Droh-Videos in Erschei­nung getreten: „Insbesondere von den 'Deutschen Taleban Mujahedin', einem Zusammen­schluss deutsch­stämmiger Kämpfer im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet, ist bekannt, dass sie sich unter anderem aus solchen radikalisierten Einzelpersonen zusammensetzen.“

Zu solchen Radikalisierungsverläufen tragen auch die extremen Thesen der salafistischen Prediger in Deutschland bei. Pierre Vogel, einer der einflussreichsten deutschen Prediger, schlug 2010 öffentlich vor, in Problemvierteln probeweise die Scharia einzuführen („Salafisten-Vorschlag: Köpfen, Steinigen, Handabschlagen“ Spiegel-TV 19.10.2010). Der ehemalige deutsche Junioren-Meister im Boxen konvertierte 2001 zum Islam und nennt sich nun Abu Hamza. Das prominente Mitglied des Vereins “Einladung zum Paradies” bemühte sich um den Umzug des Vereins von Braunschweig nach Mönchengladbach. Dort sollte auch eine „Islamschule“ errichtet werden. Massive Proteste, in die sich auch die rechts­gerichteten Vereinigungen „pro Köln“ und „pro NRW“ einmischten, verhinderten dies. Das Innenministerium prüfte die Einleitung eines Verbots­verfahrens gegen den Verein. Inzwischen erfolgte aber die Auflösung des Vereins. Die missionarischen Aktivitäten verlagern sich über Verbindungen zum Verein „Muslime Aktiv e.V.“ nach Münster sowie nach Solingen. Im Mai 2011 provozierte Vogel mit der Ankündigung eines öffentlichen islamischen Totengebetes für Osama bin Laden. Die betroffene Stadt Frankfurt verbot die Durchführung. Bei der Kund­gebung sollte auch Sven Lau sprechen, der Vorsitzende des Vereins „Einladung zum Paradies“. Gegen den prominenten ebenfalls angekündigten Prediger des Vereins „Die wahre Religion“ Ibrahim Abou-Nagie ermittelt die Kölner Staats­anwaltschaft wegen des Verdachts der Volksverhetzung. In seinen Reden verherrlichte er öffentlich den bewaffneten Jihad. Ebenfalls wegen des Verdachts auf Volksverhetzung hat die Berliner Staatsanwalt­schaft ein Ermittlungsverfahren gegen den Imam Abdul Adhim eröffnet.

Seit 2005 entstehen zahlreiche Gruppen und missionarisch aktive Netzwerke um sala­fistische Prediger. Die deutschen Zentren befinden sich in Berlin, Braunschweig, Frankfurt und im Köln/ Bonner Raum. Die islamistische Propaganda umfasst dabei sowohl gewaltfreie als auch Gewalt verherrlichende Aussagen. Trotz der relativ geringen Anzahl von Salafisten kommt man im Internet an der Fülle ihrer Informationsangebote kaum vorbei. Insbesondere die zeitgemäß inszenierten Informationen und Predigt-Videos im Internet treffen bei einem Teil der Generation Youtube den medialen Nerv. Bei den an Jugendlichen und ihren Nutzungsgewohnheiten orientierten Webseiten überwiegen salafistische Anbieter gegenüber anderen Angeboten mit alternativem Islamverständnis. Fragen und Themen des überwie­gend jungen Publikums werden offen angesprochen und klar beantwortet - im Sinne ihrer extremistischen und verfassungsfeindlichen Ideologie.

Denn auch in Deutschland verstehen Salafisten den Islam nicht als Religion, sondern als göttliches Ordnungs- und Herrschaftssystem. Die grundgesetzlich verankerte Demokratie gilt als damit unvereinbar, da Gesetze nur von Gott, nicht aber von gewählten Menschen einge­setzt werden dürften. Die Bürger sollen ihr Leben wortgetreu nach dem Koran und der Sunna ausrichten. Männer und Frauen bewegen sich dabei getrennt voneinander im öffentlichen Raum - was leichter fällt, wenn die Rolle der Frau auf Haushalt und Kinder­erziehung beschränkt bleibt. Die Koedukation von Jungen und Mädchen in öffentlichen Schulen fällt weg. Zur Lösung von Problemen findet die Scharia Anwendung. Die sala­fistische Ideologie widerspricht damit vielen Grundprinzipien der freiheitlichen Demokratie. Sie begünstigt maßgeblich die Bildung von Parallelgesellschaften und erschwert die Integ­ration. (Verfassungsschutzbericht NRW 2010, S. 217)


Erklärungsmuster, Prävention, Materialien

 „...dass, wer einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen Mord begangen oder Unheil im Lande angerichtet hat, wie einer sein soll, der die ganze Mensch­heit ermordet hat. Und wer ein Leben erhält, soll sein, als hätte er die ganze Menschheit am Leben erhalten...“ Koran, Sure 5, Vers 32

Ein knappes Viertel der in Deutschland lebenden Muslime ist jünger als 16 Jahre. Vor dem Hintergrund der demografischen Veränderungen ist eine nachhaltige Beschäftigung mit der Gegenwart und der Zukunft junger Muslime in Deutschland daher wichtig. (Studie KAS, S. 5)

Während die Statistik unserer Beratungsstelle insgesamt gesehen verhältnismäßig wenige bis einzelne Anfragen und Beratungsfälle zu Gruppierungen des islamischen Spektrums verzeichnet, entfallen bezüglich islamistischer Gruppierungen mehrere auf die salafistische Szene. Hierbei stellt sich auch ein erhöhter Beratungsbedarf bei Angehörigen dar. Die Band­breite reicht von der Sorge, wie man dem missionarischen Kollegen begegnen soll, der einem einen Koran geschenkt hat, über Eltern, deren jugendliche Kinder zum Islam konver­tieren, bis hin zu Beratungsfällen, bei denen sich das „Kind“ bereits in Waziristan (pakista­nische Bergregion an der Grenze zu Afghanistan) in „Ausbildung“ befindet.

Wie lässt sich eine zunehmende Radikalisierung rechtzeitig erkennen? Manch allgemeine islamistische Position dient einer vorübergehenden Provokation. Äußerungen und Verhal­tensweisen zu konkreten Sachthemen lassen eine intensivere Beschäftigung erkennen. Eine Häufung folgender Merkmale zeigt Handlungsbedarf an:   
  • Dualistische Weltsicht: gut oder böse, „Wir“ gegen „die Anderen“

  • Andersgläubige sind Kuffar; Ablehnung auch anderer islamischer Konfessionen

  • Zurückweisung der Demokratie als „Werk des Teufels“

  • Bezeichnung des Jihad als sechste Säule des Islam

  • Ablehnung der Evolutionstheorie

  • Ablehnung der Gleichberechtigung von Mann u. Frau, Betonung Gleichwertigkeit

  • Antisemitische Argumente

  • Salafistischer Dresscode (knöchelfreies Gewand oder Hose, gehäkelte Kappe, Bart)

  • Vermeidung von Augen- und Körperkontakt mit dem jeweils anderen Geschlecht

  • Konsum islamistischer Medien und Materialien und Ablehnung weltlicher Musik
(Handreichung KAS)

Bei den manchmal fließenden Grenzen zwischen fundamentalistischen Positionen und isla­mistischen Äußerungen gilt es zu unterscheiden. Selbst unter den Islamisten ist die Anzahl gewaltbereiter Fanatiker gering. Doch bereiten auch sie als Vertreter extremistischer Posi­tionen den Boden und sind eine wichtige Station bei Radikalisierungsverläufen.

Erklärungsmuster

Die Lebensläufe späterer Attentäter entsprechen zwar keiner Schablone. Aber es gibt Motive für die Suche nach alternativen Lebenskonzepten, für die Empfänglichkeit für vereinfachte, radikale Weltsichten. Durch Gewalt oder Vernachlässigung ausgelöste seelische Erschütte­rungen können zu einer Radikalisierung beitragen. Religiös traditionell geprägte Migranten­familien mit autoritärem Erziehungsstil fördern die soziale Entfremdung und damit Identitäts­konflikte. Jugendliche mit Ausgrenzungserfahrungen fühlen sich von der Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen und suchen Halt. Der Anschluss an eine ent­sprechende Gruppe bedeutet oft eine nahezu gleichzeitige Ablösung vom bisherigen sozialen Umfeld und ist dadurch auffällig. Der Einfluss von charismatischen islamistischen Predigern macht auch für die im Internet zugängliche jihadistische Propaganda empfänglich. Die Gruppe dient mit eindeutiger Lehre und klaren Machtverhältnissen als stützende Ersatzfamilie. In den entsprechenden Moscheen und insbesondere bei den stark beworbenen Islam-Seminaren folgt die intensive Überzeugungsarbeit. Die salafistischen Prediger greifen die Ablehnungs­erfahrungen auf und geben einfache Antworten. Die oft eingesetzten Theorien einer Verschwörung gegen die Muslime erklären auch soziale Probleme. Junge Muslime würden ungerecht behandelt. Vogel sprach in diesem Zusammenhang von einem "Holocaust gegen die Muslime". Viele traditionelle Moscheegemeinden erscheinen den Jugendlichen als lebensfremd. Diese Prediger sprechen hingegen Themen an, mit denen sie bisher alleine blieben. Daher ist der Salafismus die am schnellsten wachsende islamistische Bewegung. Der Wunsch nach globaler Gerechtigkeit, einheitlichen Regeln und verbindlichen Zielen wirkt offensichtlich attraktiv. Die an der tatsächlichen oder behaupteten Benachtei­ligung Leiden­den können nun aktiv mitwirken, um zur wahren Gerechtigkeit unter der Herr­schaft Gottes zu gelangen. Passend zu dieser Vorstellung werden die entsprechen­den Gegensätze aufge­stellt: Gottesgesetz gegen menschliche Willkürherrschaft und Unge­rech­tigkeit. Islamische Reinheit gegenüber westlicher Dekadenz. Zum Islam konvertierte deutsche Jugendliche fallen hierbei besonders durch Ehrgeiz und Fanatismus auf. (Innenminister Jäger, 5.9.2011)

Eine Bewunderung von Pierre Vogel bedeutet noch kein islamistisches Bekenntnis. Für viele muslimische Jugendliche ist es ungewohnt den „Islam“ so positiv vorgestellt zu bekommen. Wenn damit sogar eine moralische Überlegenheit behauptet wird, nutzen manche diese Propaganda, um ihre problembehaftet erlebte Identität „aufzupolieren“. Gerade in ihrer Identitätsfindung verunsicherte Jugendliche wollen anerkannt und respektiert werden. Die gesellschaftliche Debatte zum Islam ist jedoch von gegenseitigen Zuschreibungen und Miss­trauen geprägt. Der schulische „Aufklärungsdruck“ lässt manche Schüler und insbesondere deren Eltern vermuten, dass man ihnen den Islam ausreden möchte. Die familiäre Erwartung leistet einen nicht selten autoritär-fundamentalistisch geprägten Gegendruck. Die beim Fundamentalismus wichtigen Themen heißen Sicherheit, Orientierung und Identität. Die fehlende Trennung von Politik und Religion, beziehungsweise die geforderte Gültigkeit des islamischen Rechtes für das gesamte Leben vereinfacht die Orientierung enorm. Mit der Geborgenheit in einer Gruppe Gleichgesinnter wird die Abgrenzung nach außen gesucht. Die Grenze der Gemeinschaft wird zur Wahrheitsgrenze. Da der „Feind“ das Gute unter­drückt, gilt es, sich in gerechter Empörung vereint zu verteidigen. Gott ist auf der Seite der Wahrheit und diese wird siegen.

Trotz der großen äußerlichen Unterschiede verwundern die strukturellen und inhaltlichen Ähnlichkeiten der fundamentalistisch gesinnten Gruppen verschiedener Religionen nicht. Die Vertreter der monotheistischen „Buchreligionen“ Judentum, Christentum und Islam beziehen sich auf die eine gemeinsame abrahamitische Tradition. Die Funda­mentalisten behaupten dabei die Kenntnis der Wahrheit und des Willens Gottes. Sie rekla­mieren die Autorität Gottes gegenüber der freiheitlichen Selbstbestimmung des Menschen. Die unveränderliche und damit auch für heute gültige Irrtumslosigkeit und Vollständigkeit der Offenbarung ist von grundlegender Bedeutung. Widersprechende Haltungen oder Erkennt­nisse, wie beispiels­weise die Evolutionstheorie, werden abgelehnt und die entsprechende Doktrin verteidigt. Eine Vermittlung oder moderne Auslegung gilt als Verrat an der heiligen Schrift. Darüber hinaus bilden sich weitere Ähnlichkeiten bei der Missionsarbeit heraus. Diese orientiert sich stark an den Problemen und der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen. Informationen werden zur schnellen Verfügbarkeit im Internet aufbereitet, etwa als Predigtvideos zu einzelnen Themen. Der Happening-Charakter bei öffentlichen Veranstaltungen erlaubt Neugierigen eine leichtere Identifikationsmöglichkeit. Hier gibt es wie bei christlichen Missionsveran­staltungen auch die Einladung an Interessierte zum sofortigen öffentlichen Bekenntnis zum Glauben. Die Bekehrungen werden enthusias­tisch gefeiert und zur Hilfe für die ersten Schritte in der neuen (Lebens-) Gemeinschaft werden den neuen Geschwistern im Glauben Gesprächspartner vermittelt.

Prävention

Bei der geforderten Unterordnung unter Autoritäten und dem Befolgen starrer Glaubens­gesetze und Gruppen-Normen bleibt der Orientierungssuchende auf diese äußeren halt­gebenden Strukturen angewiesen. Sie erweisen sich als wenig geeignet, ein an den eigenen Bedürf­nissen orientiertes inneres ethisches Konzept aufzubauen und damit die Handlungs- und Entscheidungskompetenz zu stärken. Statt der Entwicklung von Eigenständigkeit bleibt die Marginalisierung eigener Gefühle und Gedanken zugunsten der überhöhten Gemein­schaftsideologie erhalten.

Für eine rechtzeitige Ablösung von solchen Strukturen sind verständnisvolle Gesprächs­partner wichtig, welche auf die Fragestellungen und Bedürfnisse eingehen. Solche Gesprächspartner brauchen ein gutes Gespür für die Situation des Jugendlichen, um nicht zu stark auf die polarisierenden Argumente einzugehen. Einerseits gilt es, trotz extremer Thesen Offenheit zu signalisieren, andererseits alternative Sichtweisen in respektvoller Weise anzubieten oder auch Hilfestellung zu leisten.

Prävention bedeutet für das Umfeld daher Informationsarbeit um bedenkliche Merkmale schneller zu erkennen und passende Hilfsangebote zu finden. Voraussetzung zur Hilfe bei der Ablösung von radikalen Umfeldern ist dabei die weitere Vernetzung von lokalen Multipli­katoren und Partnern: Schulen, Jugendämter, Familienberatungsstellen, Migrantenver­bände, Polizei, Verfassungsschutz und die jeweiligen islamischen Gemeinden.

Prävention ist in diesem Sinne auch eine Integrationsarbeit, welche der Entstehung von islamischen Parallelgesellschaften entgegenwirkt. Eine interkulturelle Bildungsarbeit bein­haltet zum Beispiel das Kennenlernen verschiedener Selbstbilder, sowie den Abbau von Vorurteilen. Die Vermittlung gesellschaftlicher Werte wie Gleichberechtigung und Meinungs­freiheit ist wichtiger Bestandteil politischer Bildung und dient dem Verständnis von Demo­kratie und den Möglichkeiten auch eigener bürgerschaftlicher Beteiligung.

Wichtig ist allerdings auch eine religiöse Bildung, welche Wissen zu Religion und Her­kunftskultur bietet. Durch eine Stärkung des religiösen Selbstverständnis und damit der eigenen Orientierung (auch im Falle der Ablehnung familiärer Traditionen) können Jugend­liche fundamentalistische Aussagen schneller als solche erkennen. Islamunterricht an Schulen kann hierzu einen Beitrag leisten.

Für Menschen, die sich aus einem islamistischem Umfeld lösen wollen, ist das Programm HATIF gedacht (Heraus aus Terrorismus und Islamistischen Fanatismus). Das Bundesamt für Verfassungsschutz bietet dazu eine Hotline an, unter der auch Angehörige und Freunde Beratung und Unterstützung finden: 0221-792-6999, E-Mail: hatif@bfv.bund.de

Die "Beratungsstelle Radikalisierung" beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bietet als Anlaufstelle ein Netzwerk von Beratungseinrichtungen und Spezialisten an. Die Beratungsstelle ist ein Projekt der „Initiative Sicherheitspartnerschaft“ von Sicherheitsbe­hörden und muslimischen Repräsentanten und steht seit Anfang 2012 allen Bürgern kosten­frei zur Verfügung: 0911-9434343, E-Mail: beratung@bamf.bund.de. Die Webseite bietet viele Informationen zum Thema an: www.initiative-sicherheitspartnerschaft.de

Die innerfamiliäre Konfrontation mit der islamistischen Ideologie löst meist große Sorgen aus. Im Extremfall belasten behördliche Hausdurch­suchungen oder Todesfälle im Zusam­menhang mit Anschlägen oder Anti-Terror­kampf die Familien. Ein Gesprächsangebot für Angehörige hat die Eltern- und Betroffenen- Initiative gegen psychische Abhängigkeit – für geistige Freiheit e.V. (www.ebi-berlin.de) geschaffen. Im Juli 2011 fand ein bundesweites Selbsthilfe-Treffen von Angehörigen der Menschen statt, die sich salafistischen oder jiha­distischen Gruppierungen angeschlossen haben. Für Informations- und Beratungsanfragen aus Nordrhein-Westfalen ist selbstverständlich unsere Beratungsstelle ansprechbar.

Materialien zur Information und Prävention

Materialien zur Thematik Islamismus sind noch recht spärlich. Vermutlich wird sich dies aufgrund der medialen Aufmerksamkeit bald ändern. Aus dem reichhaltigeren Angebot der Konzepte zu Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus lässt sich sicherlich Manches übertragen. Einige bereits vorhandene Materialien seien nachfolgend vorgestellt:

Die Arbeitsstelle Islamismus und Ultranationalismus der Gesellschaft Demokratische Kultur (www.zentrum-demokratische-kultur.de) hat eine sehr empfehlenswerte 88-seitige Handrei­chung für Pädagogik, Jugend- und Sozialarbeit herausgebracht:     „Ich lebe nur für Allah“ – Argumente und Anziehungskraft des Salafismus. Information und Beratung: 030-42018042

Eine ebenfalls gute, 28-seitige „Handreichung“ bietet die Konrad-Adenauer-Stiftung: „Isla­mismus!? Die wichtigsten Fragen und Antworten zu religiöser Radikalisierung bei Jugend­lichen.“ Sie basiert auf einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderten und 2011 veröffentlichten, qualitativen Studie zu Jugendlichen und Isla­mismus in Deutschland.

Die dreisprachige Broschüre (deutsch, türkisch, arabisch) „Zerrbilder von Islam und Demo­kratie: Argumente gegen extremistische Interpretationen von Islam und Demokratie“ der Berliner Senatsverwaltung für Inneres und Sport (2011) stellt in bündiger Form islamistischen Behauptungen die Aussagen anerkannter muslimischer Rechtsgelehrter gegenüber.

Der Comic „Andi 2“ vom Verfassungsschutz, Landeszentrale für politische Bildung und Schulministerium bereitet den Stoff ansprechend gezeichnet und mit Info-Blöcken versehen auf. In der „CoDeX“ Reihe „Comic für Demokratie und gegen Extremismus“ werden Andi und seine Freunde mit islamistischen Vorstellungen (Bd. 2), sowie Rechts- (Bd. 1) und Linksex­tremismus (Bd. 3) konfrontiert und müssen sich bewähren.

Das Arbeitsheft „Wahnsinnig gläubig? Fundamentalismus und Extremismus“ aus der Reihe „Position beziehen“ von Cornelsen behandelt den Fundamentalismus im Islam, im Judentum und im Christentum, sowie den Links- und Rechtsextremismus. Der Salafismus wird nicht expli­zit benannt und leider findet auch die Situation des Islamismus in Deutschland keine Erwähnung.

Auf www.ufuq.de ist ein vielgestaltiges Bildungsprojekt von Islam- und Sozialwissen­schaftlern des Vereins „Jugendkultur, Medien und politische Bildung in der Einwan­derungs­gesellschaft“. Das Angebot richtet sich auch an Multiplikatoren in Schulen, Jugendeinrich­tungen, Behörden, Moscheen und andere Stellen die mit jugendlichen Migranten arbeiten.


Fazit:

„Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“
(Bundespräsident Wulff in der Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3.10.2010)


Muslimisches Leben ist in Deutschland sesshaft geworden und gehört zum Alltag. Ein erheb­licher Teil der in Deutschland lebenden Muslime sieht hier seine Heimat. Daher beteiligen sie sich am gesellschaftlichen und politi­schen Leben und fordern beispielsweise auch den Bau von Moscheen. Diese neue Sichtbarkeit schafft Unsicherheiten. Die mediale Aufmerksamkeit gilt hier oft dem Extremen. Da vielen der Islam fremd ist, wird der in den Nachrichten allge­genwärtige islamistische Terror oft mit dem Islam als Glau­ben in Verbindung gebracht. „Jede Moschee erscheint in dieser Wahrnehmung als ‚Ort einer verfassungsfeindlichen Parallel­gesellschaft’ oder als ‚Rekrutierungszentrum für islamistische Terroristen’“. (Andi 2, S. 36) Islamistische Hetzpropaganda wird in der öffentlichen Debatte leider oft mit Themen vermischt, bei denen es um kulturelle und religiöse Unterschiede geht. Rechts­extreme Kreise polarisieren aktiv für ihre eigenen Zwecke und verstellen zusätzlich den Blick auf die vielfältigen Beispiele tatsächlich erreichter Integration. Missverständnisse und Schuldzu­weisungen belasten das Verhältnis damit auch zu gemäßigten muslimischen Bürgern in Deutschland. Aber selbst fundamentalis­tische Muslime sind noch lange keine „Bomben­leger“. Zum freiheitlichen Pluralismus gehört auch das Aushalten fundamentalistischer Positionen verschiedener Glaubensrichtungen. Ebenso ist die Kritik an fundamentalistischen Positionen zu akzeptieren. Artikel 4 des Grundgesetzes garantiert die freie und ungestörte Religionsausübung für alle Menschen in Deutschland, so lange diese nicht die Grundrechte Anderer verletzen oder in die Grundrechte Anderer eingreifen.

Gemischte Gefühle begleiten den Blick in die schon oder (noch) nicht vom arabischen Frühling erfassten Länder des nahen Ostens. Da sich salafistische Gruppen an international beachteten islamistischen Autoritäten orientieren, schauen auch sie beispielsweise nach Ägypten. Die erste freie Wahl nach der Revolution brachte mehrere salafistisch dominierte Parteien in das Parlament. Daher hatte die turbulente erste Sitzung mit der Vereidigung der Abgeordneten Signalcharakter:

„Als der ultrakonservative Rechtsanwalt Mamduh Ismail von der salafistischen Wahrhaftig­keitspartei dem Eid „Ich schwöre, die Sicherheit der Nation und die Interessen des Volkes zu wahren sowie die Gesetze und die Verfassung zu achten“ in Eigenregie die Worte „es sei denn die Gesetzes Gottes werden verletzt“ hinzufügte, ließ der energische Alterspräsident ihn die Eidesformel so lange wiederholen, bis der fromme Mann schließlich nachgab und auf seinen Gottesschwur verzichtete. Anderen Salafisten, die diesem Beispiel folgten, ließ er kurzerhand das Mikrofon abdrehen. Einen Antrag der Frommen, die Sitzung für das Mittags­gebet zu unterbrechen, wischte er mit ärgerlicher Geste beiseite.“ (Der Tagesspiegel, 24.01.2012: Wahlen in Ägypten. Parlament startet mit Tumulten)

Salafisten lassen historisch kulturell gewachsene Verschiedenheiten des Islams genauso wenig gelten wie die Vorstellung, dass Islam und Demokratie vereinbar seien. So bleiben islamische Verbände, Moscheegemeinden und muslimische Multiplikatoren gefordert, sich in der gesellschaftlichen Debatte wahrnehmbar und deutlich zu positionieren. Hierfür ist die „Essener Erklärung“ der Muslime für Dialog, Integration und Frieden von 2005 ein Beispiel:

„Islam bedeutet Frieden. Wir Muslime verurteilen Terror und Gewalt, Intoleranz, Fremden­feindlichkeit und Ausgrenzung, Pauschalisierungen und Unfrieden, gleich von wem und wo dies verübt oder geduldet wird. Wir Muslime treten ein für Integration, gegenseitigen Respekt und Toleranz, Menschenwürde und Frieden. (...) Wir Muslime fordern auf zu einem zivilen und demokratischen Engagement gegen Tendenzen, welche die Angst in unserer Gesell­schaft schüren, Muslime in ihrer Gesamtheit dabei in den Focus rücken und eine Ausgren­zung im sozialen, schulischen und beruflichen Lebensalltag erreichen wollen. (...)“

Nur seriöse Informationen und ein differenzierender Blick verhelfen zur fundierten Beteili­gung an der gesellschaftlichen Debatte und damit zur Bewältigung der anstehenden Probleme in Deutschland und darüber hinaus. Und ein Tee bei einem der regelmäßig wiederkehrenden Tage offener Moscheen vielleicht auch.


Siehe auch die Rubrik Präventionsmaterial zum Salafimus auf unserer Webseite.

Literatur:

Claudia Dantschke, Ahmad Mansour, Jochen Müller, Yasemin Serbest:
"Ich lebe nur für Allah" Argumente und Anziehungskraft des Salafismus,
Eine Handreichung für Pädagogik, Jugend- und Sozialarbeit, Familien und Politik,
Schriftenreihe Zentrum Demokratische Kultur, Berlin, 2011.

„Zerrbilder von Islam und Demokratie: Argumente gegen extremistische Interpretationen von Islam und Demokratie“,
Senatsverwaltung für Inneres und Sport. Reihe „Im Fokus“,
Berlin, 2011, dreisprachige Broschüre (deutsch, türkisch, arabisch), 129 S. / 43 auf deutsch.

„Islamismus“, Senatsverwaltung für Inneres und Sport. Reihe „Im Fokus“, Berlin, 2005.

Bundesministerium des Inneren, Berlin: Verfassungsschutzbericht 2010, Berlin, 2011.

Ministerium für Inneres und Kommunales, Nordrhein-Westfalen:
Verfassungsschutzbericht 2010,  Düsseldorf 2011.
Ministerium für Inneres und Kommunales, Nordrhein-Westfalen:
„Salafismus – Entstehung, und Ideologie“. Eine Analyse der Ideologie durch den Verfassungsschutz Nordrhein Westfalen, Düsseldorf, 2009.

Friedmann Eißler: „Salafiten in Deutschland“,
Materialdienst 10/2011, Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen,
Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen.

Islamismus!? Eine Handreichung für Pädagoginnen und Pädagogen. Die wichtigsten Fragen und Antworten zu religiöser Radikalisierung bei Jugendlichen,
HG: Dr. Michael Borchard und Katharina Senge im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung. November 2011, PDF erhältlich unter http://www.kas.de/wf/de/33.29497/

Viola Neu: „Jugendliche und Islamismus in Deutschland“
Auswertung einer qualitativen Studie,
HG: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Sankt Augustin/Berlin, 2011,
Gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

„Wahnsinnig gläubig? Fundamentalismus und Extremismus“,
aus der Reihe „Position beziehen“, Cornelsen 2007, Hg: Dr. Petra Moritz.

„Andi 2“, CoDeX Comic für Demokratie und gegen Extremismus,
HG: Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen im Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen,
Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen,
Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, 3. Auflage Dezember 2009.
Comic und Lehrerhandreichung auf www.andi.nrw.de bestellen oder als PDF verfügbar.

Müller/ Nordbruch/ Seidel/ Tataroglu: „Jugendkulturen zwischen Islam und Islamismus“,
HG: Netzwerk „Schule ohne Rassismus“, Berlin, 2010. Siehe auch: www.ufuq.de  Jugendkultur, Medien und politische Bildung in der Einwanderungs­gesellschaft e.V.

„Essener Erklärung vom 11. September 2005“, Muslime für Dialog, Integration und Frieden.
http://media.essen.de/media/wwwessende/aemter/0513/Erklaerung_Essener_Muslime.pdf