Beratung und Information zu neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen
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Die Zeugen Jehovas als Körperschaft des öffentlichen Rechts

Das OVG Berlin hat in seinem Urteil vom 24.03.2005 entschieden1, dass die klagende Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas die Voraussetzungen zur Erlangung der Körperschaftsrechte erfüllt. Nach den Erkenntnissen des OVG Berlin verstößt das Verhalten der Zeugen Jehovas an sich nicht gegen das Gebot der Rechtstreue.

Zunächst wird in diesem Artikel die rechtliche Stellung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in Deutschland dargestellt. Dabei werden besonders die Voraussetzungen, die zur Erlangung des Körperschaftsstatus notwendig sind, aufgeführt und erklärt. Danach werden die dem Zeugen-Jehovas-Urteil zugrunde liegenden rechtlichen Erwägungen erläutert und kommentiert. Insbesondere erfolgt eine Stellungnahme zur vielfach kritisierten Beweiswürdigung des OVG. Schließlich sollen die möglichen Konsequenzen dieser Entscheidung aufgezeigt werden.
 

Rechtliche Stellung von Bekenntnisgemeinschaften in Deutschland

In Deutschland gibt es keine Staatskirche. Dies bedeutet, dass Staat und Bekenntnisgemeinschaften keine institutionelle Verbindung miteinander eingehen dürfen.2 Auf der anderen Seite haben wir auch nicht das Erfordernis einer strikten Trennung zwischen Staat und Kirche (Laizismus). In Deutschland hat sich aus dem geschichtlichen Hintergrund heraus eine Kooperation zwischen Staat und Bekenntnisgemeinschaften entwickelt. Gerade die größten Bekenntnisgemeinschaften werden in gesellschaftspolitische Entwicklungen mit einbezogen. Sie sind gehalten, sich in Gremien und Kommissionen (z.B. Ethikkommission, Rundfunkräte) zu beteiligen Jedoch unterliegt diese Kooperationsmöglichkeit gewissen Grenzen. So ist der Staat an das Neutralitätsgebot gebunden. Er darf sich nicht mit einer bestimmten Religion oder Glaubenslehre identifizieren, sondern muss allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften neutral gegenüberstehen.
 

Organisation von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften

Das Recht, sich als Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft zu organisieren, ergibt sich unter anderem aus der Glaubensfreiheit, Art. 4 GG. Es bedarf keiner staatlichen Genehmigung und ist nur durch kollidierende Grundrechte Dritter zu beschränken. Wenn sich jedoch eine Bekenntnisgemeinschaft dazu entschließt, eine bestimmte Rechtsform zu erwerben (z.B. eingetragener Verein), dann muss sie natürlich die dafür geltenden Rechtsvorschriften beachten. Viele Bekenntnisgemeinschaften sind in Deutschland als eingetragener Verein organisiert (z.B. muslimische Gemeinschaften, Scientology-Organisationen etc.).
 

Die religiöse oder weltanschauliche KdöR

Eine besondere Organisationsform für Bekenntnisgemeinschaften ist die KdöR, weil mit ihr einige Privilegien verbunden sind. Der Status der KdöR von Religionsgemeinschaften ist deutlich von der "allgemeinen" KdöR zu trennen. Die Rechtsform der "allgemeinen" KdöR ist für die so genannten Selbstverwaltungsangelegenheiten entwickelt worden. Das sind staatliche Aufgaben, die von den betroffenen juristischen Personen eigenverantwortlich geregelt werden können. Deshalb werden sie aus dem unmittelbar staatlichen Verwaltungsapparat ausgegliedert und einer Organisation übertragen (z.B. Rechtsanwalts- und Ärztekammern, Krankenkassen, Gemeinden und Rundfunkanstalten). Trotz der Übertragung auf eine spezielle Organisation, bleiben es aber weiterhin staatliche Aufgaben. Deshalb sind diese "allgemeinen" KdöR, genauso wie die übrige Verwaltung, besonders an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) gebunden und stehen unter staatlicher Aufsicht. Diese Bindung geht weit über die Grundrechtsbindung privatrechtlicher Organisationsformen (Verein, GmbH, AG) hinaus.3

Dagegen sind die religiösen und weltanschaulichen KdöR nicht organisatorisch in den Staat eingegliedert. Aufgrund der grundgesetzlich festgelegten Trennung von Staat und Kirche übernehmen sie in der Regel auch keine öffentlichen Aufgaben unter staatlicher Aufsicht.4 Sie regeln ihre innerkirchlichen Angelegenheiten (im Rahmen der für alle geltenden Gesetze) eigenverantwortlich.

1. Voraussetzungen zur Erlangung der Korporationsrechte

Der Status der KdöR steht grundsätzlich allen Bekenntnisgemeinschaften offen. Sie müssen jedoch die Voraussetzungen von Art. 140 Grundgesetz (GG) i. V. m. Art. 137 Abs. 5, Satz 2 Weimarer Reichsverfassung (WRV) erfüllen, also durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten. Die Religionsgesellschaft muss aufzeigen, dass sie

  • über eine hinreichende rechtliche Organisationsstruktur (nicht zwingend als juristische Person),
  • über eine ausreichende Finanzausstattung und
  • über einen gewissen zeitlichen Bestand über eine Generation hinaus (ca. 30 Jahre) verfügt.5

Außerdem dürfen der Verleihung des Körperschaftsstatus an eine Bekenntnisgemeinschaft keine Rechtsgüter Dritter entgegenstehen.6 Dem wird entnommen, dass eine gewisse Rechtstreue verlangt wird. Dies bedeutet konkret, dass Glaubensgemeinschaften durch ihr Verhalten die grundlegenden Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundlagen des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts des GG wahren müssen. Nicht erforderlich ist eine darüber hinausgehende Loyalität zum Staat in der Form, dass die Gemeinschaft ihr Handeln an den Interessen des Staates auszurichten habe.7 Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, besteht ein Anspruch auf die Erteilung der Korporationsrechte.

2. Bedeutung des Korporationsstatus

Die Bezeichnung KdöR ist dem Organisationsrecht der staatlichen Verwaltung zuzuordnen. Vor allem enthält die Verleihung der Korporationsrechte keine Wertung über die "inhaltliche Qualität" einer Religionsgemeinschaft. Eine solche Bewertung einer Glaubenslehre würde gegen die Neutralitätspflicht des Staates verstoßen.

Mit dem Körperschaftsstatus stellt der Staat den Gemeinschaften besondere Rechte zur Verfügung, die die Ausstattung mit öffentlicher Gewalt eigener Art beinhalten. Unmittelbar mit dem Körperschaftsstatus verbunden sind folgende Rechte:

  • Dienstherrenfähigkeit:
    Es dürfen öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse begründet werden, die nicht dem Arbeits- und Sozialversicherungsrecht unterliegen. Dies umfasst auch die Befugnis, Disziplinarmaßnahmen (z.B. Entlassung, Umsetzung, Versetzung) mit öffentlich-rechtlicher Wirkung vorzunehmen. Die Beamtengesetze gelten für kirchliche Beamte nur, wenn sie ausdrücklich für anwendbar erklärt wurden.8

  • Organisationsgewalt:
    Das ist die Berechtigung, eigene Untergliederungen zu gründen oder aufzuheben.9

  • Rechtssetzungsgewalt:
    Das ist die Befugnis, eigene Rechtsvorschriften, Satzungen etc. zu entwickeln und anzuwenden.10

  • Parochialrecht
    Alle Angehörigen der jeweiligen Konfession, die in einem gewissen Gebiet wohnen (Gemeinde), werden automatisch Mitglied der KdöR.

  • Öffentliches Sachenrecht
    Es erlaubt der KdöR, Vermögensgegenstände zu öffentlichen Sachen widmen zu können. Diese gewidmeten Sachen dürfen nur so verwendet werden, wie der Zweck der Widmung es vorsieht.

  • Besteuerungsrecht, Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 6 WRV
    Die KdöR hat einen Anspruch gegen das zuständige Land, ihr das Besteuerungsrecht zu verleihen, die Erhebung gesetzlich zu regeln und die Steuern für sie einzuziehen. Dadurch soll die finanzielle Ausstattung der KdöR auf Dauer gesichert werden.11

  • Privilegienbündel
    Dabei handelt es sich um einfachgesetzliche Begünstigungen für die KdöR, die hauptsächlich in folgenden Rechtsbereichen vorkommen:

    • Steuer- und gebührenrechtliche Ausnahmen
    • Sonderregelungen im Arbeits- und Sozialrecht für ihre Mitglieder
    • Freistellung von staatlicher Kontrolle (z.B. beim Immobilienerwerb)
    • Besonderer Eigentumsschutz
    • Datenschutzrechtliche Begünstigungen
    • Mitarbeit in Gremien der Medien
    • Besondere Gestattungen (Betreiben von Friedhöfen, Beurkundung)

Der Betrieb von Einrichtungen wie Kindergärten, Altenheimen und Kirchen sowie der Zugang zur Erteilung von Religionsunterricht an Schulen nach Art. 7 Abs. 3 GG hängt nicht vom Körperschaftsstatus ab. Vielmehr sind diese Möglichkeiten von den allgemeinen verfassungsrechtlichen Bestimmungen (z.B. Art. 4 GG) gedeckt.

3. KdöR in Deutschland

Die einzelnen Bundesländer in Deutschland verleihen die Körperschaftsrechte eigenständig. Deshalb müssen die Bekenntnisgemeinschaften nicht in jedem Bundesland den Körperschaftsstatus innehaben. Diese Liste der KdöR ist nicht abschließend.

  • evangelische Kirche
  • katholische Kirche
  • evangelische Freikirchen (z.B. Baptisten, Brüdergemeinden, Mennoniten, Bund freikirchlicher Pfingstgemeinden, Heilsarmee)
  • orthodoxe Kirchen
  • Jüdische Gemeinschaft
  • Neuapostolische Kirche
  • Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten
  • Apostelamt Jesu Christi
  • Gemeinde Gottes
  • Christengemeinschaft (Anthroposophen)
  • Johannische Kirche
  • (Erste) Kirche Christi, Wissenschaftler (Christian Science)
  • Bund freireligiöser Gemeinden Deutschlands
  • Freireligiöse Landesgemeinschaften/Landesgemeinden
  • Freie Religionsgemeinschaften (Humanistische Gemeinde Freier Protestanten)
  • Unitarische Freie Religionsgemeinde
  • Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage (Mormonen)
  • Bund für Geistesfreiheit Bayern
     

Zeugen-Jehovas-Urteil des OVG Berlin

1. Hintergründe dieses Verfahrens

Die Klägerin "Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas e.V." ist der Verband aller Zeugen Jehovas in Deutschland. Sie begehrt die Verleihung des Körperschaftsstatus. Die Beklagte, das Bundesland Berlin, ist für die Verleihung der Korporationsrechte zuständig, weil der Sitz des Verbandes in Berlin ist.

Das Verfahren begann im Oktober 1990. Die "Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas e.V." begehrte die Bestätigung ihrer Rechtsstellung als KdöR mit der Begründung, sie sei aus der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in der DDR hervorgegangen und wäre dort im März 1990 als Religionsgemeinschaft anerkannt worden. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Die Ablehnung ist seit 1995 rechtskräftig.12

Parallel dazu beantragte der Verband aller Zeugen Jehovas im April 1991 die Neuerteilung des Körperschaftsstatus. Mit Bescheid vom 20.04.1993 lehnte die Beklagte diesen Antrag mit der Begründung ab, dass die Zeugen Jehovas ihren Mitgliedern die Teilnahme an Wahlen verbieten. Damit würden sie sich gegen das verfassungsrechtlich verankerte Demokratieprinzip wenden. Auch ihr negatives Grundverständnis vom Staat und die Ablehnung jeglicher Kooperation mit anderen Religionsgemeinschaften weckten Zweifel an ihrer Verfassungstreue.

Daraufhin reichte der Verband aller Zeugen Jehovas Deutschlands Klage beim Verwaltungsgericht Berlin ein. Dieses gab dem Antrag auf Erteilung der Körperschaftsrechte im Oktober 1993 statt.

Dagegen legte das beklagte Land Berlin Berufung zum Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin ein. Mit Urteil vom 14.12.1995 wies das OVG Berlin die Berufung zurück und verpflichtete das Land Berlin, der Klägerin den Körperschaftsstatus zu verschaffen. Nach Ansicht des OVG Berlin führe der Vorwurf, die Klägerin praktiziere ein totalitäres Zwangssystem, zu keiner neuen Beurteilung des Rechtsstreits. Denn dieser Vorwurf betreffe hauptsächlich (interne) Verhaltensweisen, die nach dem Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft ihrem religiösen Auftrag entsprächen und im staatlichen Bereich keine unmittelbare Rechtswirkung entfalteten. Sie seien deshalb staatlicher Bewertung entzogen.13 An dieser Stelle hat sich das OVG Berlin auf den Standpunkt gestellt, dass die staatliche Neutralität in religiösen Fragen soweit geht, dass der Staat auch ein "glaubensmotiviertes Zwangssystem" innerhalb einer Bekenntnisgemeinschaft nicht bewerten darf.

Darüber hinaus war das OVG Berlin der Meinung, die Haltung der Zeugen Jehovas zur Bluttransfusion bei Kindern könne ebenfalls nicht die Versagung der Korporationsrechte rechtfertigen. Denn die glaubensmotivierte generelle Verweigerungshaltung könne im Einzelfall vom Staat mit Mitteln der Rechtsordnung durchbrochen werden.14 Auch hier muss sich der Staat in der Glaubensfrage der Bluttransfusion grundsätzlich neutral verhalten. Nur zum Schutz der Grundrechtsgüter Leben und Gesundheit darf er im Einzelfall eingreifen.

Gegen dieses Urteil legte das Land Berlin erfolgreich Revision beim Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) ein. In seinem Urteil vom 26.06.1997 (Az: BverwG 7 C 11.96) führte das BVerwG aus, dass von einer Religionsgemeinschaft, die mit ihrem Antrag auf Erhalt des Körperschaftsstatus die Nähe zum Staat suche und dessen spezifische rechtliche Gestaltungsformen und Machtmittel für ihre Zwecke in Anspruch nehmen wolle, erwartet werde, dass sie die Grundlagen der staatlichen Existenz nicht prinzipiell in Frage stelle. Dies sei bei der Klägerin aber der Fall. Mit ihrem religiös begründeten Verbot der Wahlteilnahme und dem entsprechenden Verhalten ihrer Mitglieder setze sie sich in einen verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Widerspruch zum Demokratieprinzip, das zum unantastbaren Kernbestand der Verfassung gehöre.15

Dagegen erhob die Klägerin Verfassungsbeschwerde. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hob mit Urteil vom 19.12.2000 (2 BvR 1500/97) die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts auf. Zur Begründung führte es aus:

"Das religiöse Verbot der Teilnahme an staatlichen Wahlen sei ein Gesichtspunkt, der zwar bei der gebotenen typisierenden Gesamtbetrachtung und -würdigung Berücksichtigung finden könne, der für sich allein die Versagung des Körperschaftsstatus aber noch nicht rechtfertige."

Da in den vorangegangenen Verfahren offen geblieben war, ob die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter einer Verleihung des Körperschaftsstatus entgegenstünden, wurde das Verfahren wieder an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen, um dies zu prüfen.16

Das Bundesverwaltungsgericht wiederum hat den Rechtsstreit durch Urteil vom 16.05.2001 (BVerwG 7 C 1.01) an das OVG Berlin zurückgewiesen und ihm wegen eines zu großzügigen Verständnisses von den rechtlichen Verleihungsvoraussetzungen eine weitere Sachaufklärung zu möglichen Gefährdungen von Grundrechten Dritter aufgegeben. Dabei hat es folgende konkrete Fragen gestellt:

  • ob die "Religionsgemeinschaft aktiv (z.B. durch Ausübung von Druck, durch Drohungen oder durch "Gemeinschaftsentzug") darauf hinwirke, im Falle der Weigerung von Eltern, der Bluttransfusion bei ihren noch nicht einsichtsfähigen Kindern auch dann nicht zuzustimmen, wenn sie nach ärztlicher Beurteilung das einzig lebenserhaltende Mittel sei, staatliche Schutzmaßnahmen zu erschweren oder gar zu verhindern.

    Sofern das Verhalten der Religionsgemeinschaft den staatlichen Schutz, den §1666 Abs. 3 BGB (Gericht kann Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge bei Gefährdung des Kindeswohl ersetzen) biete, oder eine Sofortmaßnahme des behandelnden Arztes von vornherein einbeziehe und sich - gleichsam zur Bekräftigung der als richtig angesehenen religiösen Haltung - darauf beschränke, die Mitglieder darin zu bestärken, nicht selbst die Zustimmung zur Bluttransfusion zu erteilen, könne hierin allein zwar noch keine Gefährdung des Grundrechts des Minderjährigen aus Art. 2 Abs. 1 Satz 1 (körperliche Unversehrtheit) gesehen werden, der die Versagung des Körperschaftsstatus rechtfertige.

    Andererseits könne aber auch das Verhalten in einem Einzelfall ausreichen, wenn sich aus den sonstigen Umständen (einschließlich der Erklärungen und Schriften der Klägerin) ergebe, dass es sich um ein typisches Verhalten der Religionsgemeinschaft handele."17

  • ob die "Religionsgemeinschaft gegenüber den in der Gemeinschaft verbliebenen Familienmitgliedern in einer den Bestand der Familie oder der Ehe gefährdenden Weise aktiv darauf hinarbeite, dass diese den Kontakt zu aus der Gemeinschaft ausgetretenen oder ausgeschlossenen Angehörigen auf das absolut Notwendige beschränken oder ganz aufgeben. Ein solches aktives Hinarbeiten auf eine Trennung von Ehepartnern oder Familien stelle einen ausreichenden Grund für die Versagung des Körperschaftsstatus dar.

    Habe der Austritt aus der Gemeinde typischerweise derartige Konsequenzen, wirke sich dies regelmäßig auch als nachhaltige Sperre gegen einen Austritt aus. Ein solches Verhalten - sei es als schwerwiegende Nebenfolge, sei es als gezielte Maßnahme - gefährde zugleich das Grundrecht der Austrittswilligen aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, welches das Recht umfasse, mit Wirkung für den Bereich des staatlichen Rechts aus der Religionsgemeinschaft auszutreten. Als gezielte Maßnahme wäre ein solches Festhalten austrittswilliger Mitglieder mit vom Grundgesetz missbilligten Mitteln (Art. 6 Abs. 1 GG) ein Grund, der der Verleihung der Körperschaftsrechte entgegenstehen könne.18

  • ob durch das Verhalten der Religionsgemeinschaft, insbesondere durch verbindliche Vorgaben an die Eltern zur Erziehung, die Entwicklung von Kindern zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Gemeinschaft in einem Maß beeinträchtigt werde, dass eine Gefährdung des Kindeswohls zu besorgen wäre.

    Hierfür biete der bisherige Vortrag des Landes Berlin allerdings (noch) keine genügenden Anhaltspunkte. Das Verbot, Kontakt zu Nichtgläubigen zu halten oder an weltlichen Veranstaltungen teilzunehmen, könne die Kinder zwar zu Außenseitern machen; das allein könne jedoch mit einer Gefährdung des Kindeswohls nicht gleichgesetzt werden. Auch auf die behauptete bildungsfeindliche Grundhaltung der Zeugen Jehovas könne eine Grundrechtsgefährdung nicht gestützt werden. Denn das Land Berlin behauptet selbst nicht, dass die Religionsgemeinschaften den Besuch weiterführender Schulen oder von Universitäten verbiete oder generell die Ausbildung der Kinder über einem Grundniveau ablehne." 19

Das OVG Berlin wurde also vom BVerwG verpflichtet, diese drei Fragen zu entscheiden. Hauptaufgabe des OVG Berlin war es, die Fakten zusammenzutragen, die für die Beantwortung der Fragen notwendig waren, und diese rechtlich zu bewerten. Danach ist das OVG Berlin - wie auch schon die Vorinstanzen - zu dem Ergebnis gekommen, dass die Klägerin alle formalen Voraussetzungen zur Erlangung der Körperschaftsrechte erfüllt. So bietet sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer. Außerdem hat das OVG Berlin nach Prüfung der ermittelten Tatsachen entschieden, dass auch kein Verstoß gegen das Gebot der Rechtstreue vorliegt. Deshalb hat das OVG Berlin entschieden, dass der Klägerin der Körperschaftsstatus zu erteilen ist.

2. Entscheidungsgründe des OVG Berlin

Prüfungsmaßstab für die Entscheidung des OVG Berlin war das (nicht im Gesetz genannte) Erfordernis der Rechtstreue, insbesondere unter Berücksichtigung der vom BVerwG aufgeworfenen Fragen (s.o.). Angeknüpft werden darf dabei aufgrund des Neutralitätsgebots des Staates in glaubensrechtlichen Fragen nur an das tatsächliche Verhalten der Mitglieder der Klägerin. Das Bundesverfassungsgericht20 hat dieses Erfordernis so präzisiert: "ob das tatsächliche Verhalten der Religionsgemeinschaft eine Beeinträchtigung oder Gefährdung der genannten Schutzgüter erwarten lässt, ist im Wege einer prognostisch orientierten, typisierenden Gesamtbetrachtung und Gesamtwürdigung zu klären."

An diesem Punkt stellt sich die Frage: "Wie bekommt das Gericht einen realistischen Einblick in das tatsächliche und typische Verhalten der Mitglieder?" Dazu sind Informationen aus den unterschiedlichsten Quellen gewonnen worden. Insgesamt ist Beweismaterial in dem Umfang von weit über 16 Leitzordnern gesichtet worden: Hier ist ein Überblick über die im Urteil genannten Beweismittel:

  • schriftliche Stellungnahmen und Veröffentlichungen der Klägerin (z.B. Wachturm, Erwachet, Lehrbuch für den Königreichdienst "Gebt acht auf Euch selbst und die ganze Herde")

  • Endbericht der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" des Deutschen Bundestags: Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen in der Bundesrepublik Deutschland

  • Forschungsprojekte und Gutachten der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" des Deutschen Bundestages

  • Rechtsprechung in familienrechtlichen Verfahren mit Bezug zu Zeugen Jehovas

  • Kinderpsychologische Gutachten aus Sorgerechtsverfahren

  • Anfrage beim Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin

  • Anfrage bei der Generalstaatsanwaltschaft des Landgerichts Berlin

  • Anfrage bei den Referenten für kirchliche Angelegenheiten der Länder

  • Anfrage bei der Berliner Sektenbeauftragten

  • Anfrage bei allen Jugendämtern Berlins

  • Anfrage bei den familienpsychologischen Beratungsstellen Berlins

  • Aussteigerberichte

  • Berichte von Betroffenen- und Elterninitiativen

Das OVG Berlin hat seine Urteilsbegründung folgendermaßen aufgebaut: Zunächst hat es die vom BVerwG vorgegebenen Fragen vorangestellt. Dann hat es die unterschiedlichen Positionen der beteiligten Parteien dargelegt und schließlich geprüft, inwieweit diese Positionen bewiesen werden konnten.

Das beklagte Land Berlin hat seine Vorwürfe gegen die Klägerin hauptsächlich auf Aussteiger- und Betroffenenberichten aufgebaut. Die behördlichen und gerichtlichen Anfragen des Landes Berlin zu den Grundrechtsverletzungen durch Zeugen Jehovas sind großenteils ohne Ergebnis geblieben.

Bei der Beweiswürdigung fällt jedoch auf, dass sich das Gericht nur sehr pauschal mit diesen Berichten auseinandersetzt. Inhaltlich werden sie kaum gewertet. Das OVG Berlin begründet diese mangelnde Berücksichtigung ausführlich mit den Erkenntnissen der Enquete-Kommission zum Beweiswert und zur wissenschaftlichen Verwertbarkeit von Aussteigerberichten. Denn danach ist - vollkommen unabhängig von der Frage, ob die betreffenden Personen bei der Wiedergabe ihrer persönlichen Erfahrungen glaubwürdig sind oder nicht - ohne Kenntnis vom psychosozialen Hintergrund des Betreffenden eine Beurteilung, ob und zu welchen Anteilen die als destruktiv empfundenen Konflikte in der Struktur oder Lehre der Gemeinschaft begründet sind, nicht möglich.21

Bei der Einschätzung der Situation stützt sich das OVG Berlin hauptsächlich auf die Erkenntnisse aus dem Endbericht der Enquete-Kommission. Dabei betont es ausdrücklich, dass der Endbericht der Enquete-Kommission das Ergebnis einer zweijährigen Aufklärungsarbeit ist. Bei der Erstellung dieses Berichtes hat die Kommission nicht nur zahlreiche Expertengespräche auf nationaler und europäischer Ebene geführt, sondern auch Aussteiger und Eltern- und Betroffeneninitiativen angehört, Forschungsprojekte in Auftrag gegeben sowie wissenschaftliche Untersuchungen veranlasst und ausgewertet. Damit repräsentieren die Ergebnisse aus dem Enquete-Bericht, nach Ansicht des OVG, den aktuellen Stand der Dinge unter Berücksichtigung vielschichtiger Aspekte.

In dem Zusammenhang wird die Beklagte kritisiert, weil sie die Aussteigerberichte ungeprüft und unbearbeitet eingereicht hat, obwohl sie auf den unzureichenden Beweiswert schon im vorausgegangenen Verfahren vor dem BVerwG hingewiesen worden ist.

Im Folgenden werden das Vorbringen der Parteien zu den drei Fragen und die wichtigsten Beweismittel sowie die Argumentation des Gerichts zur Beweiswürdigung dargestellt.

  1. lebensrettende Bluttransfusion bei Kindern

    Zunächst möchte ich an diesem Punkt noch einmal klarstellen, dass es hier nicht darauf ankommt, dass die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas grundsätzlich die Bluttransfusion aus Glaubensgründen ablehnt (Neutralitätsgebot des Staates in Glaubensfragen). Es ist ebenfalls nicht relevant, dass die Zeugen Jehovas Druck auf ihre Mitglieder ausüben, die Einwilligung in eine lebensrettende Bluttransfusion bei minderjährigen Kindern zu verweigern. Dieses Verhalten gefährdet nach Auffassung des BVerwG noch nicht das Grundrecht des Minderjährigen. Denn nach §1666 Abs. 3 BGB kann das Familiengericht die Zustimmung der Eltern ersetzen. Auch steht dem Arzt das Recht zu, sich im Notfall über eine verweigerte Zustimmung hinwegzusetzen.22

    Das OVG Berlin musste also einzig und allein die Frage beantworten, ob die Klägerin aktiv darauf hinwirke, den zeitweiligen Entzug der elterlichen Sorge (§1666 Abs. 3 BGB) zu unterlaufen oder das eigenverantwortliche Verabreichen einer lebenserhaltenden Bluttransfusion durch den behandelnden Arzt zu verhindern.

    Die Klägerin hat zugestanden, dass sie ihre Mitglieder dazu anhalte, die Einwilligung zur Bluttransfusion zu verweigern. Eine grundsätzliche Einwilligung werde als Austritt aus der Gemeinschaft gewertet. Im Falle der Ersetzung der Einwilligung durch das Familiengericht bestünden die Eltern zwar auf ihrem Recht, ihren Standpunkt in einer gerichtlichen Anhörung darzulegen und Behandlungsalternativen aufzuzeigen, aber sie würden sich letztlich der gerichtlichen Anordnung fügen.

    Dazu hat das beklagte Land Berlin angeführt, dass die Klägerin psychischen Druck auf die betroffenen Eltern ausübe, sie durch Älteste oder so genannte "Krankenhausverbindungskomitees" rund um die Uhr überwachen lasse und familiengerichtlich erwirkte Einwilligungen mit Gemeinschaftsentzug sanktioniere.

    Diese Position der Beklagten war nach Auffassung des OVG Berlin nicht zu beweisen. Anfragen beim Landesamt für Gesundheit und Soziales, bei den städtischen Krankenhäusern und bei der Generalstaatsanwaltschaft sind ergebnislos verlaufen. Auch gibt es weder behördliche noch familien- oder strafgerichtliche Feststellungen, die den Vortrag des Landes Berlin untermauern würden.23 Gegen die Vorwürfe des Landes Berlin spräche auch die familiengerichtliche Rechtspraxis. Sollte sich die Klägerin typischerweise wirklich wie oben geschildert verhalten, dann ergäbe sich daraus eine konkrete Bedrohung von Leben und Gesundheit des minderjährigen Kindes. Damit wäre die gefestigte familiengerichtliche Rechsprechung nicht zu vereinen, dass die Zugehörigkeit eines Elternteils zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas allein seine Eignung zur Ausübung der elterlichen Sorge nicht beeinträchtigt.24 Danach setzt sich das OVG noch im Einzelnen mit vorgebrachten Beweisen des Landes Berlin auseinander und entkräftet deren Beweiswert meistens auf Grundlage der Erkenntnisse der Enquete-Kommission.

  2. Gefährdung des Bestands der Familie (Art. 6 GG) bei Austritt eines Mitglieds

    Es gäbe einen ausreichenden Grund für die Versagung des Körperschaftsstatus, wenn die Klägerin aktiv darauf hinarbeitete, dass ausgetretene oder ausgeschlossene Mitglieder von ihren in der Religionsgemeinschaft verbleibenden Angehörigen in einer Weise ausgegrenzt würden, dass der Bestand der Familie nach Art. 6 GG verletzt würde. Dabei ist zu beachten, dass Art. 6 GG nur die Kleinfamilie, also das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern, schützt.

    Die Klägerin bestreitet nicht, dass sie ihren Mitgliedern empfiehlt, Ausgetretene oder Ausgeschlossene zu meiden. Jedoch gelten diese Anweisungen nicht für die enge Familie. In diesem Fall soll keine "geistige Gemeinschaft" im Sinne von gemeinsamen Gebet mehr gepflegt werden, aber in den Dingen des täglichen Lebens sei weiterhin "in Liebe loyal" miteinander umzugehen. Diese Angaben werden durch eigene Literatur der Klägerin belegt.25

    Die Beklagte hat der Klägerin dagegen folgende Punkte zur Last gelegt:

    • Der Umgang mit Ausgeschlossenen oder Ausgetretenen sei nach der Lehre der Zeugen Jehovas strikt untersagt; dieser Gehorsamsanspruch der Religion gelte für Eltern und Kinder gleichermaßen.

    • Das absolute Kontaktverbot im Falle des Austritts oder Ausschlusses aus der Gemeinschaft führe unweigerlich in die völlige soziale Isolation; mit der Furcht vor dieser Konsequenz halte die Klägerin ihre Mitglieder zwangsweise in der Gemeinschaft.

    • Gerichtliche Umgangs- und Sorgerechtsregelungen in Bezug auf Kinder aus geschiedenen Ehen würden auf Betreiben der Klägerin systematisch unterlaufen.26

    Auch hier kommt das OVG Berlin bei der Würdigung der von der Beklagten vorgebrachten Beweise zu dem Ergebnis, dass sich dieser Vortrag nicht belegen lässt. So ist eine länderübergreifende Anfrage zu diesem Themenpunkt bei den für kirchliche Angelegenheiten der Länder zuständigen Referenten fast ohne Erfolg geblieben. Zunächst haben sich nur drei Referenten zurückgemeldet. Davon konnten zwei nur insoweit beitragen, dass Ihnen keine Einzelfälle zu diesem Thema bekannt geworden sind. Auch die Nachfragen bei familienpsychologischen Beratungsstellen in Berlin und bei der Berliner Sektenbeauftragten führten zu keinem greifbaren Ergebnis.

    Die ergebnislose Nachfrage bei den staatlichen Stellen wertet das OVG als besonders bemerkenswert vor dem Hintergrund, dass bereits seit Jahren interministerielle Arbeitsgruppen des Bundes und der Länder zum Bereich "neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen" existieren, die im wesentlichen dazu dienen, Informationen ressortübergreifend auszutauschen und auf diesem Gebiet mit den kommunalen Spitzenverbänden, der Polizei und anderen Institutionen zusammenzuarbeiten.27 Auch hier lese ich eine erneute Kritik an der Informationsverarbeitung von staatlichen Stellen zu diesem Thema heraus.

    Ein weiteres Hauptargument bei der Beweiswürdigung war darüber hinaus, dass im bundesdeutschen Schnitt der gerichtlichen Familienkonflikte die Zeugen Jehovas nicht besonders in Erscheinung treten. Hier stellt sich mir jedoch die Frage, inwieweit die Religionszugehörigkeit in familienrechtlichen Verfahren überhaupt erfasst wird.

  3. Gefährdung des Kindeswohls durch Vorgaben in der Erziehung

    Gegen die Erteilung der Körperschaftsrechte würde schließlich sprechen, wenn durch das Verhalten der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas, insbesondere durch verbindliche Vorgaben zur Erziehung, die Entwicklung von Kindern zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der Gesellschaft in einem Maße beeinträchtigt würde, dass eine Gefährdung des Kindeswohls zu befürchten wäre.28

    Die Beklagte wirft der Klägerin zu diesem Punkt folgendes Fehlverhalten vor:

    • Einsatz von körperlichen Zuchtmitteln und psychischem Druck (zahlreiche Verbote und ständige Furcht vor Harmagedon) zur Disziplinierung, was zur totalen sozialen Isolation führen würde.

    • Chancen der schulischen oder beruflichen Bildungen wären "gleich Null".

    • Die Einbeziehung selbst kleiner Kinder in die Pflicht zur Teilnahme an den wöchentlichen Versammlungen und am Missionsdienst führe zur körperlichen und seelischen Überbeanspruchung.

    Auch dieser Beklagtenvortrag lässt sich nicht belegen. Als Argument zieht das OVG Berlin wieder die gängige Rechtsprechung in Sorgerechtsstreitigkeiten mit Beteiligung von Zeugen Jehovas heran. Insbesondere bezieht sich das Gericht auf in diesem Zusammenhang erstellte kinderpsychologische Gutachten, die überwiegend belegen, dass durch die Zugehörigkeit zu der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas keine Beeinträchtigung des Kindeswohls zu erkennen ist.

    Bei der Nachfrage bei familienpsychologischen Beratungsstelle und Jugendämtern in Berlin hat sich zwar ergeben, dass einige Fälle von Erziehungsdefiziten und Beeinträchtigung des Kindeswohls durch hohen moralischen Druck, rigide Erziehungsmethoden und einengende Erziehungsvorstellungen aufgetreten sind. Diese Fälle geben aber aufgrund ihrer geringen Anzahl und der geschilderten Inhalte keinen Anlass, an dem Bild, das die Rechtsprechung vermittelt, zu zweifeln. Diese Einzelfälle seien kein alleiniges Kennzeichen des typischen Verhaltens einer religiösen Gruppierung, weil sie sich in den verschiedensten Erziehungsmilieus finden lassen.29

    Die übrige Argumentation entspricht wieder der vorab genannten Argumentationslinie (Berufung auf den Enquete-Bericht) des OVG Berlin.

    Bei der Beweiswürdigung hat sich das OVG Berlin an die belegbaren und wenig vorhandenen wissenschaftlichen Fakten gehalten. Dadurch sind die Berichte von Aussteigern und Betroffeneninitiativen inhaltlich nicht gewürdigt worden. Jedoch sind die Argumente dieser Gruppen nach Auffassung des Gerichts mitberücksichtigt worden, weil sie Eingang in den Enquete-Bericht gefunden haben.

    Es ist empfehlenswert, die geäußerten Kritikpunkte des OVG Berlin aufzugreifen. Staatliche Stellen sollten noch mehr Wert darauf legen, Vorgänge aus diesem Bereich zu dokumentieren. Außerdem scheint immer noch Forschungsbedarf auf diesem Gebiet zu bestehen.
     

Abschlussbemerkungen

Das OVG Berlin hat die Revision gegen dieses Urteil nicht zugelassen. Gegen diese Entscheidung hat das beklagte Land Berlin Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Diese ist am 01.02.2006 zurückgewiesen worden, so dass das Urteil mittlerweile rechtskräftig ist.

Das Urteil des OVG hat zunächst nur direkte Auswirkung auf das Bundesland Berlin. Die Verleihung der Körperschaftsrechte ist Angelegenheit der Bundesländer. Jedes Bundesland entscheidet grundsätzlich nach eigener Prüfung, ob die Verleihungsvoraussetzungen vorliegen. Jedoch sind durch die Urteile des BVerfG und des BVerwG konkrete Vorgaben zur Frage der Rechtstreue gemacht worden. An diese Vorgaben müssen sich die einzelnen Länder halten. Deshalb wird ihnen bei einem entsprechenden Antrag der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas kaum noch Entscheidungsspielraum zustehen.

Nun stellt sich noch eine letzte Frage im Zusammenhang mit diesem Urteil:

"Welche Auswirkungen wird das Urteil auf die Stellung der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in der Gesellschaft haben?"

Diese Frage ist natürlich schwer zu beantworten, da noch nicht absehbar ist, inwieweit die Zeugen Jehovas von ihren Privilegien Gebrauch machen werden. Auf jeden Fall wird die Zuerkennung des Körperschaftsstatus finanzielle Vorteile bringen, da viele Verwaltungsgebühren und Abgaben entfallen. Ob von der Rechtssetzungsbefugnis Gebrauch gemacht werden wird, bleibt fraglich. Die Zeugen Jehovas verfügen schon über ein umfangreiches Schrifttum, das verbindliche Regelungen für den Gemeinschaftsbetrieb enthält. Es ist fraglich, ob diese Regeln wirklich in Gesetze umgewandelt werden. Außerdem wird es tatsächlich kaum einen Unterschied machen.

Meines Erachtens ist es unwahrscheinlich, dass die Zeugen Jehovas ein eigenes Kirchenbeamtentum einrichten werden. Die innerkirchlichen Aufgaben werden bisher hauptsächlich von ehrenamtlichen Mitarbeitern erfüllt, so dass die Einführung eines Beamtentums nur zusätzliche Kosten verursachen würde.

Die Zeugen Jehovas selbst hatten sich im Rahmen des Verfahrens vor dem OVG Berlin dahingehend geäußert, dass sie weder Kirchensteuern erheben noch Kirchenbeamte einführen wollen. Sie hätten vielmehr Interesse an den Steuervorteilen, die mit der Anerkennung als KdöR einhergehen.

Viele sehen - über die genannten Privilegien hinaus - in dem Körperschaftsstatus eine Aufwertung der Gemeinschaft. Diese Aufwertung, sofern man überhaupt davon sprechen kann, kann sich aber nur auf rein formale Gesichtspunkte beschränken. Denn aufgrund des Neutralitätsgebotes des Staates darf die Verleihung des Körperschaftsstatus keine inhaltliche Bewertung der Glaubenssätze der Religionsgemeinschaft darstellen.

Auch die gepriesene Gleichstellung mit der evangelischen und katholischen Kirche relativiert sich, wenn man die anderen Bekenntnisgemeinschaften mit Körperschaftsstatus betrachtet. Diese haben lange nicht den gesellschaftspolitischen Einfluss, den die beiden "großen" Kirchen haben. Denn gesellschaftliche Anerkennung lässt sich nur über das tatsächliche Verhalten in der Öffentlichkeit erlangen und nicht über den Erhalt einer Organisationsform.

 

Anmerkungen:

1    Az. 0VG 2 B 12.01
2    Art. 140 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit Art. 137 Abs. 1 Weimarer Reichsverfassung (WRV)
3    Wikipedia, Körperschaft des öffentlichen Rechts
4    Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band III Artikel 83 - 146, Mohr Siebeck 2000, Morlock, Art. 140 Rn. 77
5    Dreier, Morlock, Art. 140 Rn. 98
6    Dreier, Morlock, Art. 140 Rn. 99
7    BVerfGE 102, 370 ff. (Zeugen Jehovas)
8    Dreier, Morlock, Art. 140 Rn. 87 f.
9    Dreier, Morlock, Art. 140 Rn 90
10  Dreier, Morlock, Art. 140 Rn 91
11  BVerfGE 19, S. 253 (258)
12  Urteil des OVG Berlin vom 14.12.1995, Az.: OVG 5 B 20.94
13  Urteil des OVG Berlin vom 24.03.2005, Az. OVG 2 B 12.01, S. 3
14  aaO S. 3
15  aaO S. 4
16  aaO S. 4
17  OVG 2 B 12.01, S. 5
18  OVG 2 B 12.01, S. 5f.
19  OVG 2 B 12.01, S. 6
20  BVerfG NJW (Neue Juristische Wochenschrift) 2001, S. 429 (433)
21  OVG 2 B 12.01, S. 23
22  BVerwG NVwZ (Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht) 2001, S. 924 (925) OVG 2 B 12.01, S. 6
23  OVG 2 B 12.01, S. 13
24  aaO S. 14
25  aaO S. 17
26  OVG 2 B 12.01, S. 18
27  aaO S. 19 f.
28  BVerwG NVwZ 2001, S. 924 (926)
29  OVG 2 B 12.01, S. 33