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Gestern bin ich aus so einer Art Sekte geflohen...

Erfahrungsbericht zu einem 10-Tage Meditationskurs nach S. N. Goenka

(Lesen Sie hierzu auch: "Die Vipassana Meditation im 10 Tage Kurs nach S. N. Goenka"
mit Kommentar zu diesem Erfahrungsbericht.)

Gestern bin ich aus so einer Art Sekte geflohen. Ich hatte mir in der Fastenzeit vorgenom­men, etwas für meine spirituelle Erbauung zu tun, und eine Kollegin hatte mir ein Vipassana Seminar empfohlen. Umsonst, auf Spendenbasis, zehn Tage meditieren. Die Internetseite versicherte, es gebe keinerlei Konflikte mit anderen Religionen, es gehe allein um eine Methode, den Geist zu reinigen. Eine universelle Methode. Bis ich einen Seminarplatz bekam wurde es Mai, die Kurse schienen sehr gefragt zu sein. Wir durften keine persön­lichen Gegenstände, keine Bücher, keine religiösen Objekte und nichts zu Essen mitneh­men, also packte ich meinen Schlafanzug und meine Zahnbürste ein und fuhr nach Belgien an die Maas. Ich traf zwei Holländerinnen und einen Thailänder, wir alle wurden auf der anderen Seite des Flusses von dem Auto des Vipassanazentrums abgeholt. Dort mussten wir unsere Portmonees, Handys, und alles, was wir sonst noch an persönlicher Habe mitge­bracht hatten, abgeben. Ich tat das, denn ich fand diese Idee von völliger Auslieferung span­nend und ich dachte, sie können es mir schließlich nicht klauen, es gibt ja eine Adresse, Namen,...

Nun, wir gaben alles ab und für die nächsten neun Tage sollten wir "Edle Stille" halten. Ist ja prima, dann muss ich mich nicht unterhalten, dachte ich. Edle Stille bedeutete: nicht reden, keine Gesten, kein Blickkontakt. Gar keine Kommunikation also. Neun Tage. Und kein Körperkontakt. Außerdem durften wir das Zentrums-Gelände nicht verlassen. Das Tor wurde geschlossen und rings herum waren hohe Zäune mit Stacheldraht. Nicht so hoch, dass man nicht hätte darüber kommen können, aber hoch genug, um es schwer zu machen. Ich fand das furchtbar spannend. Das alles, erklärte man uns, hatte unter anderem den Sinn, dass wir nicht in Versuchung kamen, zu lügen, oder sonst irgendetwas zu tun, was nicht Shila, also unrein war. Ich musste bald zugeben, dass ich bei den wenigen gehauchten Worten, die ich mit den Helfern wechselte, schon höllisch aufpassen musste, um auch wirklich nichts zu beschönigen, zu verdrehen, zu übertreiben. Die Stille sollte uns auch davon abhalten, unsere Meditationsfortschritte miteinander zu vergleichen und damit anzugeben. Und sie diente dazu, dass wir einander nicht sagen konnten, ob wir womöglich für himmelschreienden Unsinn hielten, was hier mit uns veranstaltet wurde. Es nutzte nichts, wie sehr ich auch meine Augen verdrehte; niemand sah mir ins Gesicht.

Männer und Frauen waren vollständig von einander getrennt, es gab zwei Speisesäle, das Haus, in dem wir schliefen war in zwei Teile geteilt und in der Meditationshalle saßen die Männer links und wir rechts vom Mittelgang. Die meisten Frauen waren Holländerinnen, trugen Sackhosen und hießen Mareille. Meine Zimmernachbarin war Belgierin, wir wechsel­ten ein paar Worte, solange es noch ging. Sie hieß Vallerie (Name geändert), hatte, wie ich, ihren Job gekündigt und wollte jetzt gerne Hebamme werden. Ich mochte Vallerie. Der Hof war mit Schnüren in einen Männer- und einen Frauenbereich unterteilt. Das, so erklärte man uns, sollte verhindern, dass wir durch irgendetwas abgelenkt wurden. Wir sollten ja meditieren. Und meditieren ist die langweiligste Sache der Welt, man tut es also nur, wenn man absolut keine Alternative hat. Deswegen war alles verboten. Lesen, singen, tanzen, Alkohol, Musik und Sexualität. Ich enthielt mich für die Dauer des Kurses sogar sexueller Phantasien, wenigstens die ersten acht Tage. Essen gab es zweimal am Tag: um halb sieben morgens und um elf mittags. Um fünf bekam man ein Stück Obst und Tee. Ich hätte gedacht, dass mich das knacken würde, aber es war eigentlich kaum ein Problem.

Wir bekamen Plätze in der Meditationshalle angewiesen. Vorn, auf einem Podest, nahmen zwei Lehrer platz. Sie sprachen kein Wort, surrten nur wie Aufziehmäuse zu ihren Sitzen und die linke Aufziehmaus drückte auf einen Knopf. Aus den Lautsprechern in der Halle drang die sanfte, einschläfernde Stimme S. N. Goenkas, des großen Vipassanalehrers. Er sagte etwas davon, dass wir zu diesem Kurs gekommen wären, um zu arbeiten, und um diese wunderbare Meditationsmethode zu lernen, und unseren Geist zu reinigen. Es würde eine tiefgreifende chirurgische Operation an uns vorgenommen, deswegen müssten wir unbe­dingt volle zehn Tage bleiben. Kein Chirurg, so sagte das Band, würde seinem Patienten gestat­ten, mit offenem Schädel das Krankenhaus zu verlassen. Ich hielt das für übertrieben, nahm es aber nicht weiter ernst. Wenn ich wirklich gehen will, kann ich natürlich gehen, dachte ich. Aber ich wollte ja durchhalten. Dann sprach uns das Tonband die Regeln vor und wir muss­ten sie im Chor auf altinidisch wiederholen. Ich weiß nicht mehr genau, was ich alles versprochen habe, eine ganze Menge jedenfalls. Aber, sagte das Tonband, es sei ja nur für die Dauer des Kurses, nur für zehn Tage, danach seien wir wieder unser eigener Herr. Nur für zehn Tage sollten wir uns den Regeln und dem Willen unserer Lehrer unterwerfen. Ich versprach es feierlich auf altindisch. Anschließend mussten wir das Tonband formell (auf altindisch) darum bitten, uns Anapana zu lehren. Ich tat auch das und wartete voller Hingabe auf die ersten Instruktionen. "Konzentriere deine gesamte Aufmerksamkeit auf deine Nasenlöcher..." schnurrte das Band. „Sei wachsam und aufmerksam. Sehr wachsam. Sehr aufmerksam…“ Ich schlief ein. Schreckte aber gleich wieder hoch und bemühte mich. Den Atem spüren. Hinein, hinaus. Ich kratzte mich am Bein. Nur den Atem spüren, wie er über die Innenwände der Nasenlöcher streicht. Ich bemühte mich wirklich, ich spürte ihn. Aber es war langweilig. So erbärmlich langweilig. Ich rekapitulierte im Geiste den letzten Krimi, den ich gelesen hatte. Nein, das durfte ich nicht, das Tonband hatte gesagt, es sei unglaublich gefährlich, die reine, die einzige, die wahre Methode mit irgendetwas zu vermischen. Und ich wollte ja meditieren lernen. Ausgeglichener werden. Atem geht rein, Atem geht raus. Nicht bewusst atmen. Nur beobachten. Nichts tun als zu beobachten. Ich war überzeugt, dass es interessanter gewesen wäre, Wolken zu betrachten. Oder Gras beim Wachsen, meinet­wegen. Aber ich versuchte es.

Wir taten nichts anderes, die folgenden vier Tage. Wenn um vier Uhr morgens der Gong ertönte, krochen wir aus unseren durchgelegenen Betten und schlurften unter verblassenden Sternen zur Meditationshalle. Den Blick hielten wir auf unsere Füße gerichtet, um einander nicht versehentlich in die Augen zu blicken. Dort hockten wir auf dem Boden, einen bleiernen Ring von Müdigkeit um die Stirn, und beobachteten unseren Atmen, wie er über die Innen­wände unserer Nasenlöcher strich. Man hörte das Rascheln und Schieben der Kissen von Meditationsschülern, die eine bequeme Haltung suchten, und das Krachen der Gelenke hallte von den Wänden wider, wenn einer der Meditierenden aufstand und hinaushumpelte. Während der freien Meditationszeiten durfte man von Zeit zu Zeit für fünf Minuten im Hof auf und ab gehen oder auch in seinem Zimmer meditieren. Dreimal am Tag mussten wir für eine Stunde zur Gruppenmeditation in der Halle sitzen bleiben. Am ersten oder zweiten Tag stand ich während einer solchen Gruppensitzung auf, um mir für ein paar Minuten draußen die Beine zu vertreten. Sogleich kam die weibliche Managerin hinter mir her geeilt und fragte, warum ich die Halle verlassen würde. Ich müsse aufs Klo, log ich. „Du musst in der Halle bleiben“ hauchte sie. „Ich kann’s nicht ändern“ hauchte ich zurück. Sie ließ mich gehen, aber ich fühlte mich miserabel. Ich hatte gelogen, das war nicht Shila, nicht rein, und es würde gewiss meinem Meditationserfolg gewaltigen Schaden zufügen. Ich nahm mir vor, es nicht wieder zu tun.

Am folgenden Tag musste ich während einer Gruppenmeditation tatsächlich aufs Klo. Drin­gend. So ungefähr ab der siebten Minute. Ich hielt volle fünfzig Minuten durch. Ich wand mich auf meinem Kissen. Ich fürchtete die Managerin. Schließlich hielt ich es nicht länger aus und rannte mit eklatantem Mangel an Feierlichkeit und eingezogenem Hintern hinaus. Kaum war ich draußen überkam mich eine heillose Wut. Wenn sie auch nur einen Finger rührt, um mich daran zu hindern aufs Klo zu gehen, da hau ich ihr in ihre frustrierte Zicken­fresse, dachte ich bei mir. Oh, Gott, mein Geist! Wie konnte ich so etwas Gewalttätiges denken, mir tat doch niemand etwas. Das war alles ich, ich selbst, ich tat mir das an. Mein Geist war krank. Das hatte auch das Tonband bei der Abendlichen „Lecture“ gesagt. Wir mussten sie jeweils in unserer Muttersprache hören, anderthalb Stunden. Da es die einzige Abwechslung des Tages war, freute ich mich immer darauf. Unser Geist sei krank, schwer krank, eröffnete uns das Tonband gleich am ersten Abend. Hin und her geworfen zwischen Verlangen und Abneigung. Leiden, weil wir ersehnten, was wir nicht haben konnten, leiden weil wir zu behalten wünschten, was vergänglich war, leiden, weil wir nicht akzeptierten, was war. Da war etwas dran, musste ich zugeben. Hatte ich nicht schon oft gelitten, weil ich unbedingt dieses oder jenes (bzw. diesen oder jenen) haben wollte? Und war es nicht oft so, dass ich den Augenblick nicht genießen konnte, weil ich im Geist schon in der Zukunft weilte? Das Tonband hatte Recht. Meine Undiszipliniertheit während der Gruppenmeditation und die sündhaften Gedanken, die ich zuließ, hatten furchtbare Folgen; meine inneren Verspannungen, die tiefen Sankaras, die sich infolge meiner schlechten Handlungen in meinem Körper manifestierten, verfestigten sich zu einer schmerzhaften Entzündung im Rücken. „Lieber Gott, bitte kein Bandscheibenvorfall“ betete ich während ich zitternd vor Schmerzen auf meiner Meditationsmatte hockte. Aber beten war verboten. Die Schmerzen wurden schlimmer. Ich bat in der Küche (sehr leise) um heißes Wasser, füllte meine Trink­flasche damit und legte mich während der Mittagspause ins Bett. Es tat immer noch weh, war aber immerhin auszuhalten. Liegen durfte ich allerdings nur während der Pausen. Während der freien Meditationszeiten durften wir uns von Zeit zu Zeit auf dem Boden aus­strecken, aber höchstens für fünf Minuten, damit wir nicht einschliefen.

Am nächsten Morgen versuchte ich, trotz Verbot im Bett liegen zu bleiben. Wie durften ja in unseren Zimmern meditieren. Ich fürchtete, Valleries Disziplin dadurch zu stören, denn sie schien sehr ernsthaft zu arbeiten. Vermutlich tat ich das auch. Um viertel vor sechs etwa klopfte es leise an die Tür. „Tocktocktock“ Ich verdrehte mir auf dem Bett liegend den Hals. Was war das? „Tocktocktock.“ Etwas lauter. Ich ging mit gekrümmtem Rücken zur Tür und öffnete. Es war die Managerin. „Du darfst nicht schlafen. Du musst meditieren.“ Ich starrte sie fassungslos an. „Woher wusstest Du, dass ich schlafe?“ fragte ich nicht besonders leise. Sie wich einen halben Schritt zurück. „Ich kontrolliere nur.“ piepste sie, vor Schreck nicht ganz tonlos, „Lehrer haben angeordnet”. Ich warf einen Blick auf das karge Mobiliar. “Ihr habt doch keine Kameras in den Zimmern?” „Nein, nein, ich kontrolliere alle Zimmer. Lehrer haben angeordnet” Ich bemühte mich um ein freundliches Lächeln und erklärte ihr (sehr, sehr leise) das Problem mit meinem Rücken. „Ich weiß nicht,“ murmelte sie. „Ich kontrolliere nur. Du solltest mit Lehrern sprechen.“

Also schrieb ich mich für die Mittagspause auf die Liste derer, die ein Gespräch mit den Lehrern wünschten. Die Halle war leer, bis auf die beiden Aufziehmaus-Lehrer, die am ande­ren Ende der Halle bewegungslos auf dem Podest neben der Stereo-Anlage hockten. Ich trat unsicher auf den langen Teppich, der durch den Mittelgang zum Podest führte, und weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, begann ich, mich bei jedem Schritt zu verbeugen wie ein Idiot. Die rechte Aufziehmaus lächelte gütig. Ich habe Schmerzen, erklärte ich, als ich vor ihnen auf dem Boden kniete. Die Aufziehmaus schnitt mir gütig lächelnd das Wort ab. „Das sind all Deine alten Sankaras, die hochkommen. Es ist gut für Dich. Du musst weiter medi­tieren.“ „Aber es tut immer weh“ versuchte ich einzuwenden. “Ja, ja, bleibe nur gleichmütig” riet die Aufziehmaus. “Everything passes, anitcha, anitcha. Der Schmerz wird vergehen, wenn Du ihn beobachtest. Keep meditating.” Ich war mir sicher, dass ich mich übergeben müsste, wenn ich noch einmal das Wort meditieren hörte. „Thank you.“ Murmelte ich deswe­gen und erhob mich.

Am Morgen des vierten Tages erschienen auf der Anschlagtafel vor unseren Unterkünften Schilder in vier Sprachen, die verkündeten, heute sei Vipassana-Tag. Am Nachmittag würde Goenka (das war die Stimme auf dem Tonband) uns Vipassana lehren. Dies würde ein tiefer, ein chirurgischer Einschnitt in unseren Geist sein. Dazu, erinnerte uns das Schild, war es absolut notwendig, dass wir zwei Stunden lang in der Meditationshalle blieben. Ich machte mir große Sorgen, ob ich bereit sei, für diesen tiefen chirurgischen Einschnitt. Schließlich hatte ich ziemlich häufig Pausen eingelegt und es kaum je mehr als eine Minute geschafft, mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Außerdem kam mir hartnäckig immer wieder der Gedanke, dass dies alles ziemlich hirnrissig sei. In den Abend-Lectures hatte uns das Ton­band auf solche Zweifel vorbereitet. Das sei ein innerer Feind, das seien die tief verwurzelten schlechten Gewohnheiten, die nicht gehen wollten. Wenn wir die Methode lernten, würden sie gehen müssen, also versuchten sie, uns am Meditieren zu hindern, in dem sie uns müde machten, oder mit Zweifeln erfüllten. Wir dürften, schnurrte das Tonband, diesem inneren Feind keine Macht über uns geben.

Des weiteren schnurrte das Band, Jesus Christus sei ein toller Mensch gewesen, ein großer Heiliger, es sei nichts Schlechtes daran, ihn zu verehren, aber wir müssten verstehen, der Weg zur völligen Befreiung konnte nur durch die Erfahrung von Wahrheit beschritten werden. Götter anzubeten würde unseren Geist nur an der Oberfläche reinigen. Tief in unserem Inne­ren würden die Unreinheiten im Geiste bestehen bleiben und unser Leiden vervielfältigen. Unser endloses tiefes Leiden. Leben um Leben. Es ging mir mächtig auf die Nerven, dass mein Geist als ein wildes Tier, als krank und verrückt bezeichnet wurde. Denn das waren die wörtlichen Worte des Tonbands. Wenn wir aber lernten, unseren Geist zu beherrschen, nur zu beobachten, und nicht mit Verlangen oder Abneigung zu reagieren, wenn wir lernten, immerfort gleichmütig die Wahrheit zu beobachten, die sich Augenblick für Augenblick im Körper manifestiert, dann würden wir tiefes reines Glück erfahren, kein neues Leid durch Abneigung oder Verlangen erzeugen und, in Folge dessen, nicht wieder geboren werden. Das erschien mir nicht sehr wünschenswert. Wenn wir unter dem Leiden endlich nicht mehr litten, würden wir nicht mehr wiedergeboren. Na großartig. Und Christus war für mich kein „Heiliger“, sondern Gottes Sohn. Das Tonband hatte uns gewarnt, das wir Kränkung empfin­den würden, wenn etwas über unsere Religion gesagt würde, dass uns nicht gefiel. Das lag an unserem großen Ego. Das Ego aber sei verantwortlich für großes Leid und wir würden, dank Vipassana, lernen, es aufzulösen.

Dazu, deutete das Tonband von Abend zu Abend unverhohlener an, sei es auch sehr wichtig, nicht an seinem Eigentum zu hängen. Seinem Geld zum Beispiel. Dieses zu teilen würde uns sehr, sehr glücklich machen und es nicht zu teilen sehr, sehr unglücklich. Jeden Abend erzählte das Tonband mindestens ein Beispiel von jemandem, der sein ganzes Vermögen für den Bau eines Vipassana-Zentrum gegeben und sehr, sehr glücklich darüber war, weil er damit so vielen Menschen den Weg zur Befreiung geebnet hatte. Und mindes­tens ein Beispiel von jemandem, der an seinem Geld geklebt hatte, und dadurch in so tiefes Elend verfiel, dass er mit Elektroschocks behandelt werden musste. Ich fand es recht dick aufgetragen und suchte heimlich in den Gesichtern der Anderen nach zumindest einem Hauch der Empörung. Aber ich konnte nicht hinter ihre Stirn sehen und in meinem Kopf begann meine eigene ewig zweifelnde Stimme mir grell und unangenehm zu klingen. Vielleicht kamen all diese Gedanken mir nur, weil ich nichts spenden wollte. Ich hatte hundert Euro zu diesem Zweck mitgenommen, aber nun, da ich jede Minute einzeln durchlitt, mir jeden Abend einen Haufen Schwachsinn anhören musste und nicht gehen durfte, da ich ja feierlich versprochen hatte, zehn Tage zu bleiben, war meine Bereitschaft, die schönen hundert Euro abzugeben, damit andere auch in den Genuss eines solchen Kurses kamen, erheblich gesunken. Ich stellte mir vor, wie ich mit meinem Hundert-Euro-Schein nach Hause fuhr, wie ich ihn fest mit schwitzigen Fingern umklammerte und ein hochmütiges Gesicht dazu machte. Wie ich ihn für etwas so eitles und eigennütziges wie neue Kleider und einen Friseurbesuch ausgeben würde. In der Tat, dachte ich, werde ich mich damit sehr elend fühlen.

Das Tonband sagte auch, dass wir schon sehr bald, wenn wir erst erfahren hätten, wie gut, wie wunderbar die Methode sei, in uns den Wunsch verspüren würden, andere Menschen dafür zu begeistern. Unsere Familienmitglieder und Freunde zum Beispiel. Tatsächlich war mir im Laufe der Tage gelegentlich der Gedanke gekommen, dass es dieser oder jener meiner Verwandten und Bekannten ganz gut tun würde, die ein oder andere Weisheit zu schlucken, die hier verkündet wurde. Denn vieles, was das Band sagte, klang gut. Dass man nur sich selbst ändern konnte. Dass es nichts brachte, auf der Schlechtigkeit anderer Menschen herum zu kauen und sie für sein eigenes Leid verantwortlich zu machen. Haha, hör dir das an, Mutter! dachte ich. Außerdem gab es ja auch alte Schüler, solche, die zurückgekommen waren, also musste es ihnen doch etwas gebracht haben. Man erkannte die alten Schüler daran, sann ich bösartig, dass sie besonders verkniffen und unglücklich aussahen. Am verkniffensten sah die Managerin aus.

Nun, der vierte Tag, Vipassana-Tag. Zwei Stunden auf unseren Meditationsmatten in der dämmrigen Meditationshalle erwarteten uns. Die Schmerzen in meinem Rücken waren eher schlimmer als besser geworden. Die Sackhosen-Mareilles, Vallerie und ich machten im Hof heim­lich Dehnübungen. Jeder Sport war verboten, Yoga war verboten, Gymnastik war verboten. Die reine, die wahre, die einzige Methode mit einer anderen zu vermischen war äußerst gefährlich. Schüler waren dadurch in schlimme Krisen gestürzt, aus denen sie ihre Lehrer nur mit Mühe befreien konnten. Ich dachte bei mir, dass dann diese Schüler wohl einen besseren Kontakt zu ihren Lehrern gehabt hatten. Ich hatte es gerade einmal geschafft, der Aufziehmaus zwei halbe Sätze vorzutragen. Wie hätte sie da bemerken sollen, wenn einer eine Krise hatte. Einmal, am Anfang einer Gruppenmeditation, war eine der jüngeren Sack­hosen-Mareilles in Tränen ausgebrochen und hatte laut geschluchzt. Die Aufziehmaus hatte der Managerin einen Blick zu geworfen und die Managerin hatte die schluchzende Sack­hosen-Mareille aus der Halle geschickt. Offensichtlich brauchte sie an dieser Sitzung nicht teilzunehmen, aber falls ihr darüber hinaus Betreuung zuteil wurde, ist mir das entgangen.

Wir ließen uns in der Halle auf unseren Kissen nieder. Inzwischen hatten die meisten aus Kissen und Decken wahre Festungen um sich errichtet. Immer noch gab es erhebliches Geschiebe und Geraschel während der Meditationen. Die Lautsprecher erwachten mit einem leisen Knacken zum Leben und die Stimme auf dem Tonband forderte uns auf, sie auf alt­in­disch darum zu bitten, uns Vipassana zu lehren. Mir fiel auf, dass wir dieses Mal nicht mehr gefragt wurden, ob wir das wollten. Und ich fragte mich, was wir in dem Fall, dass wir es nicht wollten, wohl hätten tun sollen, denn gehen durfte man ja nicht. Das wurde in den Abendvorträgen häufig genug erwähnt. Schwächliche Schüler hätten den Kurs bisweilen abbrechen wollen, aber das sei unmöglich, niemand würde uns das erlauben und wir sollten gar nicht erst fragen. Tatsächlich überhörte ich einmal, wie der Lehrer zu einer knienden Schülerin sagte: „Es ist unmöglich, dass du gehst.“ Ich hielt meinen Blick auf den Boden gerichtet und ging weiter. Ich weiß nicht, was sie antwortete. Jedenfalls blieb sie.

Da wir es darum gebeten hatten, lehrte uns das Tonband jetzt Vipassana-Meditation. Dazu sollten wir unsere Aufmerksamkeit nun von unseren Nasenlöchern zum höchsten Punkt unseres Kopfes führen. Von dort sollten wir unsere Aufmerksamkeit durch den gesamten Körper führen, Stück für Stück, die Empfindungen in jedem einzelnen Stück beobachten und dabei vollkommen gleichmütig bleiben. That’s it. Ich fühlte mich etwas hohl. Das war alles? Das sollte ich die nächsten sechs Tage tun? Was hatte ich denn erwartet, meine Güte? Das war vermutlich das, was buddhistische Mönche tun. Also, reiß dich zusammen, work hard, work concentrated. Mein Rücken tat höllisch weh und meine Knie gaben bei jeder Bewegung schreckliche Geräusche von sich. „Von jetzt an“, verkündete das Band, „werdet ihr euch nicht mehr bewegen.“ Ich glaubte, mich verhört zu haben. Ein mächtiges Verlangen kam mich an, aufzuspringen und etwas in der Art von: „Das könnt ihr euch sonst wohin stecken!“ zu sagen. So laut ich konnte, und das ist ziemlich laut. Ich ging im Geiste verschiedene geeignete Formulierungen auf englisch durch. Aber ich sagte nichts. Am Abend kniete ich vor dem Lehrer-Podest nieder und bat um einen Stuhl.

Die Tage schlichen dahin, einer nach dem anderen, von vier Uhr morgens bis neun Uhr abends. Manchmal ermahnte ich mich, dass meine egozentrischen, verdorbenen Gedanken mich am Meditieren hindern würden. Manchmal ermunterte ich mich, sie zu denken, um bei Verstand zu bleiben. Dann marschierte ich in dem schmalen, zeckenverseuchten Wald­streifen auf und ab und summte in einem Akt der Rebellion „ficken, ficken, ficken“ vor mich hin, oder ähnliche kleine Schweinereien. Ich zählte die Tage rückwärts. Ich ging die Wege auf und ab schlief und aß und meditierte. Ich malte mir im Geiste aus, was ich essen würde, wenn ich heim kam. Ich überlegte, wie das Buch, dass ich gerade las, weiterging. Ich erzählte mir, was ich von Macbeth im Gedächtnis behalten hatte. Der Kurs endet am Sonn­tagmorgen, und ich wusste nicht einmal, um welche Uhrzeit. „Morgens“ konnte hier alles zwischen vier und elf sein. Nur noch einen Tag.

Dieser Tag begann wie jeder andere um vier Uhr mit einem persistierenden Gong. „GONGGONGGONG.“ Damit wir auch wirklich aufwachten. Ich wachte längst ein paar Minuten vor dem Gong auf. Aber das änderte nichts daran, dass ich eine heilige Wut auf die verhuschte Managerin mit ihrem Knüppelchen hatte. GongGongGong. Ich öffnete die Augen und schielte vorsichtig zu Vallerie herüber. Heute sollte das Gebot der Edlen Stille aufgehoben werden, aber man hatte uns nicht gesagt wann. Den ganzen gestrigen Tag hatte ich auf diesen Hinweis gelauert, aber er war nicht gekommen. Also sahen wir weiter auf unsere Füße und tapsten schweigend zur Meditationshalle. „Bald bald bald“ dachte ich und versuchte, ein bisschen zu meditieren und gleichmütig zu sein. Die zwei Stunden ver­strichen. Schweigend gingen wir zum Speisesaal, schluckten schweigend unser Frühstück hinunter, mit mehr oder weniger Aufmerksamkeit auf unsere Körperempfindungen. Schwei­gend gingen wir auf unsere Zimmer. Vor den Unterkünften lagen drei gepackte Taschen. Also ging jemand früher nach Hause? Wie jeden Morgen legte ich mich für eine Stunde ins Bett. Nach einer Weile kam Vallerie hinein und begann zu packen. Ich hatte mich inzwischen genügend unter Kontrolle, um nicht hinzusehen, aber ich konnte hören, wie sie ihren Schlaf­sack in den Beutel stopfte und ihre Sachen einsammelte. Und mit plötzlicher Heftigkeit wurde mir klar, dass ich NICHT einen weiteren Tag aushalten würde. Ganz egal, ob ich konnte oder nicht. Ich wollte nicht und ich würde nach Hause fahren, und zwar sofort.

Ich brauchte ungefähr zwei Minuten, um meine Sachen zu packen. Dann klopfte ich an das Büro der Managerin. Sie war nicht da. Ich marschierte los in Richtung Speisesaal. Ich versuchte, einen leichten, unbekümmerten Ton anzuschlagen und erklärte, dass ich gehen wolle. “Unmöglich.” sagte die Managerin. “Oh doch! Einige gehen heute, ich habe gepackte Taschen gesehen.” “Niemand geht heute.” Schließlich einigten wir uns darauf, dass ich mit den Lehrern sprechen würde. Mir war klar, dass die Lehrer nicht so ohne weiteres zustim­men würden. Ich konnte ohne Ihre Erlaubnis über den Zaun springen, aber ich hatte kein Geld, keinen Ausweis, kein Handy. Ich musste sie dazu bringen, mir meine persönlichen Dinge wieder zu geben. Und der Gedanke, vor ihnen auf den Knien zu liegen, und um meine Freilassung zu feilschen, war mir mehr als schauerlich. Ich legte mir zurecht, was ich sagen würde, aber ich kam nie dazu, diese Strategie anzuwenden.

Als die nächste Gruppenmeditation vorüber war, näherte sich die Managerin demütig dem Lehrerpodest und ich sah sie mit dem Frauen-Lehrer flüstern. Ich blieb auf meinem Stuhl sitzen, in einem letzten Anflug von Höflichkeit, und wartete. Vielleicht bildete ich mir das alles ja nur ein, vielleicht würden sie einfach sagen: okay, sehr schade, aber es ist deine Entscheidung. Die Lehrer verließen die Halle durch den hinteren Eingang, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Die Managerin kam den Gang entlang. Ich sah ihr mit wach­sender Spannung entgegen. Die Augen stur geradeaus gerichtet, ging sie an mir vor bei. Ich lief ihr nach. Sie flüsterte: „Er sagt, es sei nicht möglich.“ “Dann bitte ich Sie jetzt, dafür zu sorgen, dass ich meine persönlichen Gegenstände wieder bekomme.” “Unmöglich. Du kannst nicht gehen.“ “Ich bitte Sie noch ein Mal: Ich möchte mein Eigentum zurück haben!“ “Nein. Unmöglich.” “Dann werde ich dies von nun an als Diebstahl betrachten. Geben Sie mir meine Sachen zurück!” “Unmöglich.” “GEBEN SIE MIR MEINE SACHEN ZURÜCK!!!” Jemand berührte meinen Arm. “Bitte, nicht in der Dhamma-Halle.“ “GEBEN SIE MIR MEINE SACHEN ZURÜCK!!!” “Ich kann nicht, dafür bin ich nicht zuständig.” Die Managerin zwängte sich an mir vorbei und schlüpfte aus der Halle. Ich rannte hinter ihr her und stellte sie vor dem Eingang zum Wohnhaus. Ich war mir keineswegs sicher, ob nicht das belgische Gesetz es vielleicht gestattete, Meditationsschüler festzuhalten. Wage nahm ich war, dass um uns herum Meditations–Schülerinnen mit gesenkten Köpfen davon huschten. Eine ganze Weile wiederholten wir dieselben Sätze, in wachsender Lautstärke. „Ok“ sagte ich schließlich, „warum willst du, dass ich bleibe?“ „Es ist zu deinem eigenen Besten“ sagte sie und funkelte mich hasserfüllt an. „Ich werde gehen. Also, was wirst du tun?” “Du musst noch viel lernen. Du kannst nicht gehen.” Wenn sie mich wütender machen wollte, war das genau der richtige Satz. Von wegen noch viel zu lernen. Nicht von dir. “Wie willst DU mich daran hindern? Habt ihr irgendwelche Waffen?” „Nun, du kannst gehen, aber du bekommst deine Sachen nicht wieder.“ “AHA! Du willst meine Sachen behalten?!?!?” “Du kannst sie nicht bekommen.” Dieser Umstand schien sie äußerst zufrieden zu machen. „Schön, dann gehe ich jetzt zur Polizei.“ Damit verschwand ich Türen knallend im Haus.

Ich musste aufs Klo und meine weiteren Schritte überdenken. Die Managerin stand mit einer älteren Frau zusammen und flüsterte. Es war diejenige, die mich gebeten hatte, nicht in der Dhamma-Halle zu schreien. Ich trat zu den beiden. „Natürlich kannst du gehen, wenn du möchtest” eröffnete sie mir zu meiner Überraschung. Man erlaubte mir nicht mehr, mit Vallerie zu sprechen, schleuste mich an den anderen Meditationsschülern vorbei und brachte mich zum Bus. Man muss Vipassana zu Gute halten, dass mich bis heute auch niemand erschossen und im Wald verbuddelt hat, wie ich auf dem Heimweg fortwährend fürchtete.

 

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