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Ich bin entsetzt über dieses Menschenbild - Erfahrungsbericht eines unseriösen Erfolgsseminars

Ich war auf der Suche nach einem geeigneten Seminar, das mir neue Ideen dazu geben kann, wie ich mich beruflich weiterbilden kann. Ein Kurs bei der Volkshoch­schule war inhaltlich enttäuschend, sehr oberflächlich und wenig inspirierend. Also habe ich weitergesucht, und bin im Internet auf einen vermeintlich interessanten Anbieter gestoßen.

Das Seminar versprach, dass man viel frischen Input bekäme. Die CDs, die ich mir im Vorfeld angehört habe, zeigten neue Sichtweisen und Methoden auf, um mich beruflich und privat zu verbessern. Also meldete ich mich an. Den utopisch hohen Seminarpreis von mehreren Tausend Euro redete ich mir schön, indem ich Vergleiche zu anderen Seminarreihen in diesem Bereich zog: Die dauern zwar länger, sind im Endeffekt aber ähnlich teuer. Man versprach, dass viele Inhalte komprimiert dargestellt werden sollten und „auf das nächste Level gebracht zu werden“ – ich war gespannt auf zwei volle Tage.

Nach der Anmeldung bekam ich einen Infobrief. Es wurde empfohlen, sich im Seminarhotel ein Zimmer zu nehmen und, „damit man in seiner Energie bleibt“, am besten ohne Partner und Kinder anreisen sollte. Auch wenn mein Mann nicht mitfahren wollte, so fand er es sehr befremdlich und es machte ihn hellhörig. Ich hingegen versuchte es, zu verstehen: Wir würden halt viele Inhalte lernen, das wird anstrengend und man hätte sicherlich wenig Zeit, sich noch um anderes zu kümmern. Sowieso hatte ich eine andere Übernachtungsmöglichkeit, so dass ich mir gar kein Zimmer im Seminarhotel nehmen musste. Im Telefonat mit der Agentur empfahl man mir aller­dings dennoch, mir dort ein Zimmer zu buchen, „damit ich nicht abgelenkt werde.“

„Dieses Event erfordert Deine 100 prozentige Aufmerksamkeit und Konzentration. Deshalb bitten wir Dich, keine Kinder, Lebenspartner oder Tiere mitzubringen. Dieses Wochenende geht es ausschließlich um Dich!“

Am Anfang des Seminars gab man uns die Empfehlung, während der zwei Tage besser das Handy auszumachen und sich nicht von der Außenwelt beeinflussen zu lassen. Außerdem war von einer unglaublichen Nacht die Rede. Dort werde man Außergewöhnliches erleben, könne sich aber auch dagegen entscheiden und vorher gehen. In der Nacht sollte man erleben, dass man über seine Grenzen gehen kann. Ich konnte mir darunter nichts vorstellen, nähere Infos bekam man aber auch nicht.

Das Seminar war dann absolut befremdlich, denn ich erlebte eine Welt, die ich bisher nicht kannte. Fast alles, was dort passierte, widerspricht meinem Menschenbild und meinen Werten. Während meiner Teilnahme habe ich darüber nicht klar nachdenken können, denn das Prinzip ist, dass die Menschen unter Druck gesetzt und Stress erzeugt wird – denn, so die Annahme, Menschen verändern sich nur unter Druck.

Menschen verändern sich nur unter Druck.

Das bedeutete konkret, dass es zu wenige Pausen gab, die zeitlich stark limitiert wurden. Man sollte die Nacht durchmachen und man wurde ständig mit lauter Musik zugedröhnt, zu der man tanzen sollte. Systematisch wurde dafür gesorgt, dass man sich nicht ausreichend erholen konnte. Methoden und Tools erinnerten mich stark an das, was ich über Systeme kannte, deren Ziel es ist, das Denken der Menschen zu leiten und zu manipulieren: Affirmationen, die ständig wiederholt wurden, um angeblich positive Gedanken zu generieren. Immer wieder wurde uns erklärt, dass man so ein geschlossenes System erzeugt.

Persönliche Bedürfnisse und Belange mussten unterdrückt werden und durften nicht gehört werden („Ich will deine Geschichte nicht hören; ob du Schnupfen hast oder dir was weh tut. Hier gibt jeder 100 Prozent.“). Einzelne Menschen wurden vor der Menge über ihr Äußeres und Inneres diffamiert, wurden für Ihre Performance vor versammel­ter Mannschaft angebrüllt und niedergemacht. „Das sind keine hundert Prozent. Warum muss ich mir das angucken?“ Alles wirkte total inszeniert, aber alle waren beschämt. Der Coach kommentierte den Auftritt einer jungen Frau: „Schau Dich doch mal an. Du siehst aus wie ein kleines Mädchen. Und so sprichst du auch. So hört dir doch keiner zu. Du musst dich schminken, mach dir die Haare aus dem Gesicht! Du musst erwachsen werden!“ Im Kern vielleicht richtig, aber ein abfälliger Ton. Die junge Frau hat er sich noch öfter vorgenommen, vor versammelter Mannschaft. „Und dann sagte er zu ihr: „Wir sagen dir das alles nur, weil wir dich gernhaben. Damit du größer wirst. Wenn wir jemanden nicht mögen, dann sagen wir nichts.“

Das Absurde: Im Nachhinein bedankten die Menschen sich dafür, sahen ein, dass das notwendig war, ansonsten wären sie nicht zu ihren „1oo Prozent“ gekommen, die sie ihrem Ziel näherbrächten. Denn die Botschaft ist denkbar einfach: Wenn du alles gibst, deine volle Energie entfaltest, negative Gedanken abschaltest, deine Grenzen über­windest, dann erreichst du (finanziellen) Erfolg und Glück. Finde deine Botschaft, die du der Welt mitteilen möchtest, mache dich frei von dem System, das dich unterdrückt und das dich daran hindert, dass du dich voll entfalten kannst. Der Anbieter hat es vorgemacht: Er präsentierte sich als glücklichen, finanziell freien Menschen, der die Liebe seines Lebens gefunden und ganz wunderbare Kinder habe. Davon erzählte er viel. Das perfekte Leben! Und immer wieder argumentierte er mit dem Universum: Es ist alles da, es leitet einen.

Wenn du deine volle Energie entfaltest, erreichst du Erfolg und Glück.

Die Nacht war dann traumatisierend. Es wurde immer wieder mit Höchstspannung davon geredet, wir würden die Nacht der Nächte erleben. Sie würde unser ganzes Leben verändern. Danach wäre alles anders, danach beginne das neue Leben, danach habe man das nächste Level erreicht. In einer großen Inszenierung wurde das Spiel eingeleitet. Man sollte vorher noch einmal auf die Toilette, denn die nächsten Stunden durfte man den Saal nicht verlassen, Handys waren verboten.

Dann waren die Türen zu und das Geheimnis wurde gelüftet.

Noch im Saal bekam man die Chance, zu gehen. Aber man wusste nicht, was einen erwartet. Also war nicht klar, wogegen man sich entscheidet. Alle blieben. Dann waren die Türen zu und das Geheimnis wurde gelüftet. Letztlich ging es darum, dass die Menschen Erotikunterwäsche anziehen und sich dann der Menge präsentieren sollten, zum Teil gab es Equipment aus dem Bereich Sadomaso. Die Teilnehmer wurden aufgerufen und aus dem Raum geführt. Umgezogen ging man einzeln, begleitet von seiner selbst ausgesuchten Musik, durch den Raum auf eine Bühne. Die Gruppe wurde zuvor angeleitet, den Menschen auf der Bühne zu bejubeln, anzufeuern, ihn „energetisch zu tragen“. Auf der Bühne sollte dann jeder an seine Grenze gehen, was für die meisten bedeutete, sich auszuziehen. Ein Mann pinkelte wohl sogar auf die Bühne.

Das Ziel und der Sinn dieser Übung: Ist man einmal über seine Grenze gegangen, hat man einmal diese Energie gefühlt, die in einem steckt, hat man einmal die Angst überwunden, dann ist man bereit für die Bühne. Mit dieser Energie, die man dort entfaltet, ist alles möglich.

Auf der Bühne sollte dann jeder an seine Grenze gehen, was für die meisten bedeutete, sich auszuziehen.

Als der erste Teilnehmer auf die Bühne kommt und sich windet, sich dann aber doch auszieht, möchte ich weg. Ich empfinde es als vorführen, möchte das nicht sehen. Aber ein Zurück ist jetzt nicht mehr möglich. Die Nacht ging bis halb zwei, ohne Pause. Danach, so wurde empfohlen, sollte man für die geplante Performance am nächsten Tag üben. Also am besten durchmachen. Ich selbst hätte die Möglichkeit gehabt, zwei Stunden zu schlafen, tatsächlich habe ich kein Auge zubekommen. Völlig überreizt und überspannt war ich am Limit. Aber das, so versprach man uns, sei notwendig, um das nächste Level zu erreichen. Klagen und Erklärungen darüber, warum man nicht mehr könne, waren verboten. Das sei negative Energie und „Bullshit“.     

Völlig überreizt und überspannt war ich am Limit.

Es gab ein Regelwerk zum Verhalten während der zwei Tage. Das war eine davon, Erklärungen, warum etwas nicht geht, durften nicht geäußert werden. Außerdem sollten wir über das, was in der Nacht passierte, nicht sprechen.

Eine weitere Regel schrieb vor: Jeder muss die ganze Zeit 100 Prozent geben, ansonsten fliegt man raus. Der Anbieter erklärte: „Mein Seminar, meine Regeln.“

Es ist mir bis heute unerklärlich, wodurch diese Gefühle und Entscheidungen bei den Menschen ausgelöst wurden.

Am nächsten Morgen berichteten einige Teilnehmer von ihrem Durchbruch. Euphori­siert erzählten sie von ihrer außergewöhnlichen Erfahrung, dankten der Gruppe für die erfahrene Liebe und Energie, die sie getragen hat, und von ihren nächsten Schritten. Eine Frau erzählte, sie werde jetzt ihren Mann verlassen, auch wenn sie mehrere Kinder haben. Aber er würde ihre Energie nehmen, so dass sie nicht wachsen könne. Die Gruppe klatschte und bejubelte sie. Ein Mann erzählte, dass er die halbe Nacht geweint habe, weil alte Dinge hochkamen, von denen er dachte, sie seien verarbeitet. Aber scheinbar dann doch nicht, Dinge aus der Kindheit. Er war überwältigt von der Liebe, die er hier in dieser Gruppe gefunden hat. In der zehnjährigen Beziehung, die er hinter sich habe, hätte er nicht so viel Liebe gefunden wie in diesen zwei Tagen. Die Gruppe umgab ihn jubelnd, trug ihn zur Bühne, umtanzte ihn. Eine Frau mittleren Alters berichtete, dass sie Kinder habe, aber hier habe sie erfahren, was wirkliche Liebe ist. Die nächste Frau erzählte, sie habe beschlossen, zum nächsten ersten zu kündigen und dann ein freies Leben zu führen. Der einzige Kommentar des Seminarleiters war, er hoffe, dass sie sich etwas aufgebaut habe. Nichts weiter. Alle, die berichteten, weinten und befanden sich in einem außergewöhnlichen Zustand.

Ich war entsetzt, konnte nicht glauben und verstehen, was ich dort höre, gleichzeitig kämpfte ich gegen den Schwindel durch Übermüdung und Überreizung. Es ist mir bis heute unerklär­lich, wodurch diese Gefühle und Entscheidungen bei den Menschen ausgelöst wurden.

„Und wenn jemand sagt, dass hier sei Sekte,
also wenn Erfolg und gute Laune Sekte sind, dann gerne.“

Zwischendurch wurde uns erklärt, wie wir unser eigenes Business aufbauen können. Man soll mit niedrigpreisigen Einstiegsseminaren beginnen. Dort kümmere man sich um die Menschen, die die Bereitschaft haben, die nächsten Produkte zu kaufen. Die aufbauenden Seminare sollen dann von Stufe zu Stufe teurer werden. Wenn man merkt, dass Menschen nicht bereit sind, weitere Produkte zu kaufen, dann solle man sie links liegen lassen. Die seien eben nicht von Wert. Und so durften dann auch am letzten Seminartag diejenigen am Mittagessen mit dem Anbieter teilnehmen, die sich für das nächste Seminar interessierten (zum exklusiven Sonderpreis von € 10.000,-). Die anderen blieben draußen und aßen in der wenig komfortablen Vorhalle.

Eher in einem Nebensatz wurde erklärt, dass alles, was wir dort lernten, von allen Systemen genutzt werde. Auch die negativen. Deswegen sollten wir das Gelernte nur im positiven Sinne benutzen. Diese Worte hallten nach. Es wurde erklärt: „Und wenn jemand sagt, dass hier sei Sekte, also wenn Erfolg und gute Laune Sekte sind, dann gerne.“

Der Anbieter gab an, von ungefähr 200 freiwilligen HelferInnen unterstützt zu werden. Die meist jungen Leute würden in ihrer freien Zeit helfen, denn man müsse erst „dienen“, bevor man bekommen könne. Auch das erinnerte mich an geschlossene Systeme. Es wurde erklärt: „Du musst erst auf das Beziehungskonto einzahlen, bevor Du bekommen kannst.“

Ich war physisch und psychisch überfordert.

Das Seminar endete um halb sieben Sonntagabend. Ich kam nach Hause; völlig über­müdet und doch aufgepeitscht. Später kam der Zusammenbruch, als ich ganz langsam nachvollziehe, was dort passiert war und dass ich teilgenommen hatte, bis zum Schluss. Ich lag einfach auf dem Küchenboden, die Gefühle übermannten mich, ich fühlte mich hilflos und wusste nicht, wie ich daraus kommen könnte. Auch in dieser Nacht fand ich kaum Schlaf. Ich dachte, jemand muss mir helfen, dachte kurzzeitig, dass ich ohnmächtig werde. Ich war absolut überfordert, physisch und psychisch.

Am nächsten Tag wurden WhatsApp-Gruppen gegründet. Teilnehmer bedankten sich weiter für die Liebe, die sie erfahren haben, sprachen davon, dass sie absolut über­wältigt seien, so etwas noch nie erlebt zu haben. Es entstand so eine Art Innenwelt, in der man sich gegenseitig motivierte und sich gegenseitig von den anstehenden Erfol­gen erzählte. Ein Teilnehmer verließ die Gruppe und im Anschluss wurde sein Austritt dann abfällig kommentiert.

Ich versuche, zu verstehen und komme zu Erklärungen. Ich glaube, es werden dort Sehnsüchte der Menschen bedient. Zum einen die Sehnsucht nach menschlicher Nähe und Begegnung. Und es entsteht die Illusion, dass wenn ich dabei sein darf, wenn jemand etwas ganz Intimes macht, was er sonst nicht macht, dann sind wir verbunden, dann sind wir uns nahe. Haben diese Menschen in ihrem Alltag keine stabilen Beziehungen? Wie kommen sie dazu, immer wieder das Wort Liebe für die Erfahrung in der Gruppe zu benutzen?

Haben diese Menschen keine stabilen Beziehungen?

Zum anderen ist es wohl die Sehnsucht danach, gesehen zu werden. Ich stehe auf einer Bühne, die Menge jubelt mir zu, alle schauen mich an. Ich hatte doch bei vielen den Eindruck, dass sie keine eigene Grenze überschritten, sondern vielmehr diesen Auftritt genossen haben.

Ich bin entsetzt über das dort gelebte Menschenbild

Menschen wurden, wie ich finde, entmündigt und systematisch unter Druck gesetzt. Sie wurden klein gemacht und beschimpft, ein enges Regelkorsett erstellt. Der freie Wille wurde subtil und latent eingeschränkt und aufgehoben, Kontakt zur Außenwelt wurde nicht verboten, aber es wurde erklärt, dass das störend sei. In jener Nacht war für mich die Grenze zum Verlieren der menschlichen Würde sehr fließend. Es war alles freiwillig, das stimmt, aber es wurde eine Atmosphäre und ein System aufgebaut, in dem Menschen geführt und, wie ich finde, manipuliert wurden. Sie wurden ihrer Freiheit und ihres freien Willens beraubt – für diese Zeit. Alles, was dort passierte, war in sich schlüssig und wurde durch das zugrundeliegende Menschenbild argumentiert.

Für mich ist es schlicht und ergreifend nicht nachvollziehbar.

 

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