Beratung und Information zu neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen
gefördert durch das
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Bericht über die Arbeit des Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. und über Aktivitäten konfliktträchtiger religiöser Gemeinschaften in 2023

Es wurden im Jahr 2023 insgesamt  1016  Anfragen beim Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. registriert. Damit ist wie bereits im letzten Jahr erneut ein Rückgang zu verzeichnen nach dem durch die Corona-Pandemie bedingten Anstieg. Mit 1016 Anfragen und Beratungsfällen bewegen sich die Zahlen wieder auf dem Niveau von vor der Krise. Thematisch ist der Rück­gang eindeutig auf rückläufige Anfragen zu Verschwörungstheorien zurückzuführen.

Bei den 1016 Anfragen an unsere Beratungsstelle konnte 482 anfragenden Personen mit kür­zeren, aufklärenden Gesprächen und Informationsmaterial ausreichende Hilfestellung geleis­tet werden. In 534 Fällen gab es einen intensiveren und längeren Beratungsverlauf. Familiäre und andere Konfliktthemen im Zusammenhang mit problematischen weltanschaulichen Aspekten machten bis zu 21 Fachkontakte notwendig. Die 482 Informationsanfragen und die 534 Beratungsfälle wurden in der folgenden Übersicht - wie stets - in zehn Kategorien zusam­mengefasst. Insgesamt sind in Anfragen zu etwa 450 verschiedenen Gruppierungen und An­bieter*innen enthalten (vgl. Diagramm 1).

 Summe Beratung und Information nach Gruppen

Diagramm 1: Summe Beratungsfälle und Informationsanfragen

Der überwiegende Teil der Anfragen bezieht sich auf viele kleinere Gruppen - etwa freikirchliche Gemeinden, spirituelle Meditations- und Yogagruppen, sowie Einzelanbieter*innen problematischer esoterischer Lebenshilfe, unseriöse Heilpraktiker*innen, Geistheiler*innen und Coachinganbieter*innen. Die Grenzen zwischen den Kategorien sind fließend.

Als einzelne Gruppen mit erhöhtem Anfrageaufkommen sind die Zeugen Jehovas (45), die Scientology Organisation (34) und Shincheonji (23) zu nennen. Gemeinsam machen sie einen Anteil von nur 10 Prozent aus. Bei Gründung der Beratungsstelle vor 40 Jahren sah diese Verteilung deutlich anders aus. Im Fokus standen 20 große Gemeinschaften, die ein erhöhtes Konfliktpotenzial aufwiesen. Scientology und die Zeugen Jehovas sind von dieser Liste als große Gruppen mit erhöhtem Anfragebedarf geblieben. Darüber hinaus zeichnen die Zahlen die fortschreitende Fragmentierung der Weltanschauungsangebote nach. Gründe finden sich in der Individualisierung der Gesellschaft, der höheren Flexibilität in der Arbeitswelt und einer stärkeren konsumorientierten Erlebniswelt. Die daraus resultierenden Probleme und Bedürfnisse sind spezifischer geworden und fordern individuellere Beantwortung. Traditionelle Kirchen und auch Vereine verlieren sukzessiv ihre lebensbegleitende Bindekraft. Viele Menschen suchen angesichts aktueller Problemstellungen und auch bei seelischen Nöten vermehrt marktförmige, scheinbar schnelle Hilfsangebote und spirituelle Versprechen. Über die Entwicklungen während dieses langen Zeitraums gibt Frau Riede einen Überblick in dem Artikel: 40 Jahre Beratungs- und Informationsarbeit zu neuen religiösen Bewegungen und kein Ende in Sicht

Die Ende letzten Jahres veröffentlichten Ergebnisse der seit 1972 alle 10 Jahre stattfindenden Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der evangelischen Kirche in Deutschland verdeutlicht diese Entwicklung drastisch. Ihr zufolge gehört die Mehrheit der Bevölkerung keiner der beiden großen Kirchen mehr an. 56 Prozent bezeichnen sich als uneingeschränkt nicht religiös. Erstmals waren neben evangelischen auch katholische Christ*innen, Muslime, Anders- und Nichtgläubige befragt worden, um ein repräsentatives Bild zu bekommen.[1]

Der Untersuchung liegen jedoch Kriterien zugrunde, die bei den Fragen nach Glaube und Spiritualität eher organisierte Gemeinschaften im Blick haben. Dies führt bei sowohl organisa­torisch als auch ideologisch loseren Formen unserer Ansicht nach zu verzerrten Ergebnissen. Den Fragestellungen für die Zustimmungswerte zum Bereich Esoterik liegen unseres Erach­tens veraltete Vorstellungen zugrunde, entsprechend niedrig ist das Ergebnis.[2] Die hier typischen loseren Bindungsformen werden nicht sichtbar. Gleichwohl ist der in der Untersu­chung festge­stellte Trend der weiteren Deinstitutionalisierung von Religion nachvollziehbar.

Die Suche nach Antworten auf Lebensfragen und die Sehnsucht nach Sinnstiftung – auch angesichts persönlicher und gesellschaftlicher Krisen - bleiben mit dem Verlassen der großen Kirchen in der Regel nicht auf der Kirchenbank liegen. Und der Bedarf ist nicht weniger geworden. Die genannten gesellschaftlichen Entwicklungen werden auch im Zuge des fortschreitenden Einzugs der „Künstlichen Intelligenz“ in alle Lebensbereiche eher verstärkt. Während manche angesichts der rasanten Entwicklung in Euphorie verfallen, fühlen sich andere verunsichert. Die „KI“ ermöglicht leider auch immer raffiniertere Täuschungen. Bei sogenannten „Deepfakes“ werden z. B. Politiker*innen in Videos beliebige Aussagen in den Mund gelegt. Dies bietet auch Verschwörungsideolog*innen neue Möglichkeiten und erschwert damit die Suche nach verlässlichen Informationen.

Anfang 2024 zeigte sich mit den unzähligen Demonstrationen eine gesellschaftliche Reaktion auf die vielfältige Krisenstimmung. Der im Januar vorgelegte Bericht des Recherche-Netzwerks "Correctiv" über ein konspiratives Treffen der rechten Szene in Potsdam im November 2023, mit Plänen einer groß angelegten „Remigration“, hatte eine Welle der Empörung zur Folge, die nach wie vor anhält. Bei den folgenden Demonstrationen „gegen Rechts“ entlud sich anscheinend ein länger zurückgehaltenes Bedürfnis, seinen Unmut über erstarkende rechte Kräfte zu äußern. Das Kölner Forschungsinstitut Rheingold hat in einer Studie untersucht, wie sich die Geheimplan-Recherche und die darauf folgenden Demonstrationen psychologisch auf die Menschen im Land ausgewirkt haben:   

Die Teilnahme an den aktuellen Demos gegen Rechtsextremismus vermittle den Menschen das Gefühl, nicht länger alleine mit den multiplen Krisen durch Corona, der Inflation, dem Klima oder den Kriegen umgehen zu müssen, sondern Teil einer kraftvollen Bewegung zu sein.[3]

Damit bot der massenhafte Protest die Chance auf ein länger vermisstes „Wir-Gefühl“. „Mit der Teilnahme an den Demonstrationen ist das befreiende Gefühl wiedererlangter Handlungs­macht und Zusammengehörigkeit verbunden.“

Bei der Suche nach einer individuell passenderen und damit notwendigerweise kleineren Gemeinschaft kann bei der Vielzahl an Möglichkeiten leicht ein (oft nur scheinbar) passgenaues Angebot gefunden werden. Kleinere Gruppierungen können gerade durch die kleinere Anzahl an Mitgliedern höhere Bindekräfte entfalten, was die Abhängigkeitsgefahr vergrößert. Die Außenkontrolle ist dagegen erschwert. Die wachsende Anzahl und Fluidität von Gruppen und Angeboten führt dazu, dass bei einer Suche nach Informationen oft keinerlei (oder keine kritische) Information zu finden ist. Daher ist der Bedarf an neutraler, orientierender Information und unterstützender Beratung geblieben. Doch führt diese Entwicklung auch zu einem erhöhten Rechercheaufwand für die Mitarbeiter*innen der Beratungsstelle.

 

Art der Betroffenheit 

Art der Betroffenheit

Diagramm 2: Informationsanfragen und Beratungsfälle aufgeteilt nach Art der Betroffenheit

28% der Anfragen an unsere Beratungsstelle kamen von Selbstbetroffenen. Weitere 32% verteilten sich auf nahe Angehörige oder den/ die Partner*in. 10% kamen aus dem Umfeld von Bekannten und Kolleg*innen. Deutlich gestiegene 21% baten uns im Rahmen eines institutionellen Arbeitsauftrages um Hilfe (z.B. Polizei, Schule, Hochschule, Beratungsstellen, Jugendhilfe, Psychiatrien). Viele dieser Anfragen bezogen sich auf den Bereich der Verschwörungstheorien und Reichsbürger-Bewegung. Aus diesem Grunde hat sich mit 9 % auch der Anteil an Presse-Anfragen erhöht. (vgl. Diagramm 2).

 

Informationsanfragen und Beratungsfälle 2023 im Einzelnen

Informationsanfragen im Vergleich der letzten fünf Jahre

Diagramm 3: Informationsanfragen im Vergleich der letzten fünf Jahre

 

Beratungsfälle im Vergleich der letzten fünf Jahre

 Diagramm 4: Beratungsfälle im Vergleich der letzten fünf Jahre


Bei einem Vergleich der Kategorien in der Tabelle auf Seite vier fällt auf, dass sich die Themenverteilung der letzten drei Jahre im Jahr 2023 fortgesetzt hat. Die Informations­anfragen und Beratungsfälle der Kategorie Psychogruppen sind mit insgesamt 239 Anfragen und Bera­tungsfällen zwar erneut rückläufig, haben aber dennoch nach wie vor alle anderen Kategorien übertroffen und kommen wieder an erste Stelle zu stehen. Die Corona-Pandemie wirkt mit den in ihrem Gefolge ausgeuferten Verschwörungstheorien nach.
In dieser Kategorie werden neben Anfragen zu Verschwörungstheorien und Reichsbürger-Bewegung auch solche zu unseriösen Coaching-Angeboten und kleineren Psychogruppen zusammengefasst. Es gab mehr Beratungsfälle (167) als Informations­anfragen (72).

Der erneute Rückgang gegenüber den Jahren 2022 und 2021 spiegelt die beruhigtere Pandemie-Lage wider. Die prophezeiten Schreckensszenarien mancher Verschwörungs­ideolog*innen sind ausgeblieben, der Alltag und andere Sorgen nehmen die Aufmerk­samkeit in Anspruch. Dennoch erreichen uns nach wie vor Beratungsanfragen; hauptsächlich von Angehörigen von Verschwörungsgläubigen. Bei etlichen der längerfristigen Beratungs­verläufe zu diesem Thema konnte zumindest eine Beruhigung in den Familien erreicht werden, die Differenzen zu den Verschwörungsnarrativen wirken sich nicht mehr so zerstörerisch aus. Die Identifizierung mit diesen Narrativen, das Selbstbild der aufgewachten Bürger*innen, die sich vom System und den Politiker*innen nicht mehr „belügen“ lassen – sie sind schwer auf­lösbar. Bei einem kleineren Teil ist daher von einer fortdauernden oder weiteren Fanati­sierung des verschwörungsgläubigen Familienangehörigen die Rede, welche ein gemeinsames Alltags­leben erschwert oder un­mög­lich macht. Gesprächsgruppen für Angehörige von Ver­schwö­rungsgläubigen können in dieser scheinbar ausweglosen Situation unterstützen. Auch unsere Beratungsstelle bietet eine Online-Gesprächsgruppe an. Der Zugang kann über eine Einzel­beratung erfolgen. Neben der gegenseitigen Unterstützung kann immer neu daran erin­nert werden, dass konflikthafte Debatten über einzelne Verschwörungstheorien zu vermeiden sind. Stattdessen kann die Suche nach den Gründen für das oft generalisierte Misstrauen und die Wahrnehmung von zugrundeliegenden emotionalen Verletzungen weiterhelfen. Da solche quasi therapeutischen Zugänge nicht immer leicht und auch nicht immer erwünscht sind, bleibt als wichtigste Maßgabe die Beibehaltung des persönlichen Respekts und die Suche nach kon­struktiven Wegen zur alltäglichen Problemlösung – all dies bei Wahrung der persönlichen Grenzen. Ein schwerer Weg, der zuvorderst die Selbstfürsorge einschließt!

Inzwischen nehmen auch einige ehemalige oder noch verschwörungsgläubige Menschen Beratung in Anspruch. Auch hier stehen natürlich nicht sachliche Beweisführungen im Vorder­grund, auch wenn unsere Berater*innen gelegentlich nach der „Wahrheit“ gefragt werden. Die hierin zum Ausdruck kommende Verunsicherung hat meist tieferliegende Gründe, auf die im Verlauf eingegangen werden kann. Aufgelöst werden können zugrundeliegende chronische Erkrankungen, langjährige Zurückweisungen, Überforderungen oder existentielle Sorgen im Beratungsgespräch nicht. Aber es kann ein Verständnis für Zusammenhänge und die eigene emotionale Ansprechbarkeit für manche verschwörungsideologische Narrative geben. Gemeinsam kann überlegt werden, welche Schritte zur Stärkung der eigenen Resilienz dem­gegenüber gangbar sind. Dies kann ein therapeutischer Weg zur Verarbeitung emotionaler Verletzungen sein. Sinnvoll ist die Bearbeitung aktueller Problemstellungen, evtl. unter Zuhil­fenahme allge­meiner sozialer Dienste. Die Stärkung der Selbstwirksamkeit kann Ohnmachts­gefühle abbauen, welche sich zuvor in Opposition und Wut gegen „die da oben“ entladen haben. Man­chen hilft die gründliche thematische Aufklärung der Verschwörungsnarrative. Bei alldem sollte darauf geachtet werden, dass die emotionalen Anteile nicht diskreditiert werden. Vielleicht können berechtigte Anteile einer Systemkritik oder Kritik am Gesundheitssystem auch in konstruktivere Bahnen gelenkt werden. Manche Verschwörungsnarrative haben Anteile nachvollziehbarer Kritik. Allgemein nutzen Verschwörungstheorien Sorgen und Ängste aber unabhängig ihrer sachlichen Berech­tigung. Ein angemessener Umgang mit den Sorgen tut dennoch Not. Die von der Verunsicherung mitbetroffenen Kinder und Jugendlichen können in der Schule Aufklärung und konstruktiven diskursiven Umgang miteinander einüben.

Im Einzelfall sind Schulen von der Thematik selbst betroffen. Auch unter den Lehrer*innen sind Verschwörungsgläubige und Reichsbürger*innen zu finden. Im Mai 2023 fand ein Schüler bei einem Lehrer einer Waldorfschule in Ravensburg einen Reichsbürger-Ausweis. Auch in den Unterricht seien entsprechende Inhalte der Ideologie eingeflossen. Eltern warfen weite­ren Lehrer*innen vor, die Corona-Pandemie geleugnet zu haben. Auch vom Narrativ des „Great Reset“ war an der Schule die Rede.[4] Wenngleich die der Waldorflehre zugrundeliegende Anthroposophie mit ihrem esoterischen Konzept nachweislich Andock­punkte und damit eine erhöhte Anfälligkeit für verschwörungs­ideologische Narrative aufweist, muss auch den Präventions-Maßnahmen Rechnung getragen werden, mit denen den sichtbar gewordenen Ten­denzen von Verschwörungsglauben und Rassismus entgegengewirkt werden sollte. 2015 klärte bereits eine Broschüre des Schulverbandes kritisch zu Reichsbürger*innen auf.[5] 2020 hat sich der Bund freier Waldorfschulen mit der „Stuttgarter Erklärung – Waldorf­schulen gegen Rassismus und Diskriminierung“ ausgesprochen. Die erwähnte Schule suchte eine Aufarbeitung über den waldorfinternen Verein „Bildung gegen Rechts“.

Dieses Einzelbeispiel mag allgemein die Notwendigkeit der Aufklärung zu diesem Themen­komplex zeigen. Dazu gehört das Einüben der medienkritischen Analyse im Alltag und einer demokratisch diskursiven Auseinandersetzung. In den Fokus wachsamer Aufmerksamkeit gehören ebenso die Bestrebungen mancher Freilerner-Initiativen, die weniger pädagogische Konzepte für besondere Lernumstände als eine reichsbürgerliche Ideologisierung der Kinder im Sinn haben. Eine einflussreiche Plattform mit verschwörungsideologischen Aspekten ist „Wissen schafft Freiheit“ von Trickkünstler Ricardo Leppe.[6] Das freie Lernen führt dabei mit­unter zu einer rechtsesoterischen oder extremistischen Indoktrination gegen die freiheitlich demokratische Gesellschaft.[7] Umso wichtiger ist es für die wehrhafte Demokratie, verschwö­rungsideologische Brandbeschleuniger im Blick zu behalten.

 

Gerichtliche Urteile und Verfahren im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien

Immer mehr gerichtliche Verfahren im Zusammenhang mit Straftaten während der durch die Corona-Schutzbestimmungen geprägten heißen Pandemiephase kommen zu Urteilen. Ein Fall erregte auch wegen des skurrilen Auftretens des Angeklagten mit einer aus Alufolie gebastelten Brille einiges Aufsehen. Er habe massenhaft gefälschte Impfnachweise ausge­stellt. Zudem habe der „massiv vorbestrafte“ ehemalige Heilpraktiker mit der Verabreichung von Medikamenten gegen das Arzneimittelgesetz verstoßen. Er wurde wegen gefährlicher Körperverletzung in 96 Fällen und unerlaubten Handels mit verschreibungspflichtigen Medika­menten außerhalb einer Apotheke in 102 Fällen zu vier Jahren und drei Monaten Haft verurteilt.[8]

Ein weiteres Urteil erging am 8.3.2023 gegen eine Apothekenangestellte und eine weitere Person, die über 1000 gefälschte Impfzertifikate ausgestellt haben. Der Komplize habe sie im Darknet verkauft und soll über 130.000 Euro erzielt haben. Das Strafmaß beträgt zweieinhalb Jahre für die geständige Angestellte, sowie drei Jahre und neun Monate für den Mittäter.[9]

Der Glaube an oft gleiche Verschwörungsnarrative zeigt die Schnittmenge zwischen Szene­angehörigen der Reichsbürger*innen, Selbstverwalter*innen, Staatsleugner*innen/ Delegiti­mierer*innen und den Verschwörungsgläubigen im Allgemeinen auf. Extremistische Ver­schwörungsideolog*innen bedienen sich ihrer gezielt zur Delegitimierung staatlicher Institu­tionen und der Regierung. Einige versuchen aktiv, eine andere Regierungsform zu etablieren. Daneben leben Gemein­schaften ihre Ideale parallel und entgegen den freiheitlich demokra­tischen Gesellschaftsstruk­turen. Als solche wurde am 27. September 2023 der rassistisch-völkische Verein „Artgemein­schaft – Germanische Glaubensgemeinschaft wesens­gemäßer Lebensgestaltung“ vom Bundesinnenministerium aufgelöst. Der kleinen Gemein­schaft von bundesweit etwa 150 Mitgliedern wird eine starke Vernetzung in rechts­ext­reme Kreise und mit extremistischen, staatsdelegitimerenden Akteur*innen nachgesagt. Voran­ge­gangen war eine Razzia in 12 Bundesländern, darunter in NRW. In der von naturreligiösen „germanischen“ Ideen und antisemitischen Ideologie geprägten Gemeinschaft würden die Kin­der gemäß eines „Sittengesetz“ auf­wachsen, das die „gleichgeartete Gattenwahl, die Gewähr für gleichgeartete Kinder“ sowie „Härte und Hass gegen Feinde“ vorschreiben. Damit stünde die Artgemeinschaft in direkter Folge der Blut-und-Boden-Ideologie des Nationalsozialismus. Die Artgemeinschaft zeige, wie Kinder von klein auf indoktriniert würden, in einer von rassis­tischen und antise­mitischen Feindbildern geprägten Lebenswelt aufwüchsen und innerhalb der familiären und politischen Zusammenhänge das Gedankengut an nächste Generationen weitertrügen. Dies erfolge ins­besondere durch die Weitergabe ihrer Ideologie an Kinder und Jugendliche mittels einschlä­giger, teils aus der NS-Zeit stammender, nur minimal abgewan­delter Literatur.

"Wir verbieten eine sektenartige, zutiefst rassistische und antisemitische Vereinigung. Das ist ein weiterer harter Schlag gegen den Rechtsextremismus." „Diese Vereinigung verbindet ver­schiedene Strömungen der extremen Rechten und gefährdet damit die freiheitlich demokrati­sche Grundordnung in besonderem Maße."[10] Bundesinnenministerin Nancy Faeser

Im November 2023 erfolgte auch eine Razzia beim größten Zusammenschluss der Reichs-bürger-Szene, dem „Königreich Deutschland“ um „König Peter I. Menschensohn“ Fitzek.

Den Beschuldigten werden illegale Versicherungs- und Finanzgeschäfte, Betreiben einer Krankenkasse und unerlaubte Bankgeschäfte vorgeworfen. Trotz zwangsweiser Schließ­un­gen und einer Verurteilung wegen unerlaubter Versicherungsgeschäfte, würde der selbster­nannte "König von Deutschland" seine unerlaubten Geschäfte in immer wieder neuen Anläu­fen fortsetzen. Im Februar hatte es bereits eine Razzia in den "Repräsentanzen" der "Gemein­wohlkasse" in Wittenberg, Dresden und dem nordrhein-west­fälischen Menden gegeben.[11] Des Weiteren werden von der Gruppe Seminare zum „System­ausstieg“ angeboten. Ein Online Marktplatz bewirbt Dienstleister*innen und Geschäftsleute (auch aus NRW), die sich dem Königreich zugehörig fühlen und dies etwa im Impressum kund­tun.

Im Kontext Psychogruppen hat uns als kleinere Gruppe die „Entwicklungsgemeinschaft für Lebensqualität - Go and Change“ beschäftigt. Wie etliche solcher kleinen Gruppierungen versteht sie sich als Lern- und teils auch Lebensgemeinschaft. Programm ist hier wie in manch anderen Gruppen die Entwicklung der Persönlichkeit. Hier insbesondere die Bearbeitung und Befreiung hinderlicher „Schattenanteile“ der Psyche. Manche Gruppen sehen sich in der Mis­sion, als spirituelle Elite die Transformation der Gesellschaft zu befördern. „Go and Change“ beschäftigte unsere Beratungsstelle bereits seit einigen Jahren. Zunehmend geriet sie auch in die Berichterstattung der Presse. Drei Todesfälle trieben zudem Spekulationen über den gelebten Alltag an. Ehemalige Mitglieder suchten sich inzwischen aufgrund erlebter Übergriffe juristische Unterstützung. Der Leiter der Gemeinschaft wurde im März 2023 wegen des Vor­wurfs der Vergewaltigung und Körperverletzung in Untersuchungshaft genommen. Das Ver­fahren läuft derzeit. Ungeachtet des Ausgangs kamen viele inzwischen unstrittige Aspekte ans Licht. So spielten neben der Sexualität auch der Konsum von Drogen bei manchen der teils als pseudotherapeutisch zu bezeichnenden Gruppensitzungen eine maßgebliche Rolle.[12]

Ein beachtlicher Teil der Beratungen in dieser Kategorie bezog sich auf verschiedene Coaching-Angebote (46). Durch Werbeclips von Coaches in den sozialen Netzwerken und die Möglichkeiten des Online-Coachings fanden viele den Zugang während der Beschränkun­gen der Corona-Pandemie. Zunehmend haben dabei Jugendliche und junge Erwachsene Coaching-Angebote genutzt. Viele Angebote haben sich auf die Bedürfnisse dieser Zielgruppe spezialisiert. Darunter versprechen auch selbsternannte Persönlichkeitstrai­ner*innen ohne eine qualifizierte Ausbildung schnellen Erfolg und Reichtum. Auch dem jungen Klientel gegen­über werden Schule und Ausbildung gelegentlich als entbehrlich bezeichnet. Verwiesen sei daher noch einmal auf den letztjährigen Artikel von Uta Bange auf unserer Webseite.[13]

 

Fundamentalistische Gruppen      

An zweiter Stelle stehen die Anfragen und Beratungsfälle zu den fundamentalistischen Grup­pen (210). Die 126 Anfragen im Vergleich zu 84 Beratungsfällen zeigen, dass bei diesem The­menbereich früher nach Informationen gefragt wird als im Bereich der Esoterik. Der größte Anteil der Beratungsfälle steht im Zusammenhang mit dem christlichen Fundamentalismus. Sofern die Gemeinde bekannt war, bezogen sich die Beratungen auf 32 verschiedene frei­kirchliche Gemeinden. Besonders häufig ging es um charismatisch geprägte oder soge­nannte Pfingstgemeinden. Eine besondere Problematik entfaltet sich im Zusammenhang mit „geschlossenen Brüdergemeinden“, da hier der Ablösungsprozess besonders schwer sein kann. Die Lebensführung wird hier oft als unter rigiden geschlechterspezifischen Stereotypen eingeschränkt empfunden. Manche Freikirchen empfehlen noch die mittlerweile verbotene Konversionstherapie, wenn die sexuelle Orientierung nicht zur gepredigten „Schöpfungsord­nung Gottes“ passt. Da dies mitunter als dämonisch verursachte Erkrankung aufgefasst wird, kommen hier „Befreiungsgebete“ oder Exorzismen vor. Solche Interventionen können zu schweren Schuld- oder Minderwertigkeitsgefühlen führen, was die Entstehung einer depressi­ven Erkrankung begünstigen kann.

Eine besondere Verknüpfung christlich fundamentalistischer Ideologie mit Verschwörungs­theorien zeigt sich bei der „Organischen Christus Generation“ (OCG). Das ihr zugehörige Online-Format „Klagemauer-TV“ verbreitet seit Jahren Verschwörungstheorien, die in der Szene große Beachtung finden. Eine ehemalige Studio-Mitarbeiterin und Anhängerin der Gemein­schaft berichtet hiervon in einer neuen Doku.[14] Die Schweizer Gemeinde hat auch Anhänger*innen in NRW und löst hier Beratungsbedarf aus.

Fundamentalistische Ideologien bieten Anknüpfungspunkte für Verschwörungstheorien. Die Vorstellung von der „gefallenen Welt“ unter der Herrschaft Satans und seiner Dämonen ge­genüber der eigenen „Gemeinschaft der Heiligen“ liegt nahe am verschwörungstheoretischen Narrativ der finsteren Machenschaften geheimer Verschwörer*innen. Auch in der fundamen­talistisch-christlichen Glaubenswelt schützt die rettende Wahrheit vor der verderbenden Lüge.

Unvergleichbar schlimme Umstände wurden im März 2023 durch die Entdeckung von Mas­sengräbern in einem Waldgebiet in Kenia deutlich. Mitglieder der fundamentalistisch christli­chen Gemeinschaft “Good News International Ministries” sollen der Aufforderung des Pre­digers Paul Nthenge Mackenzie Folge geleistet haben, sich zu Tode zu fasten, um Jesus zu begegnen. Berichten zufolge haben die Autopsien ergeben, dass ein Großteil der Todesopfer tatsächlich verhungert, einige aber wohl erwürgt, erschlagen oder erstickt worden seien. Unter den 429 Toten waren 191 Kinder. Der frühere Busfahrer Mackenzie war bereits zuvor wegen radikaler Predigten im Visier der Behörden. So soll er den Kindern seiner Mitglieder die Schul­bildung untersagt haben und ein nahes Ende prophezeit haben. Der Prozess wegen Radikali­sierung oder Beihilfe zur Begehung einer terroristischen Handlung und weiteren Vergehen läuft derzeit noch.[15] Die grauenvolle Dimension erinnert an frühere Tragödien mit konfliktträch­tigen weltanschaulichen Aspekten in der jüngeren Geschichte.[16]

 

Islamischer Fundamentalismus

Nach wie vor erreichen uns in niedriger Zahl Anfragen zum Bereich des fundamentalistischen Spektrums des Islam. Diese können zumeist an vernetzte Fachberatungsstellen weiterverwie­sen werden. Es fällt jedoch auf, dass die Missionierungsaktivitäten des Salafismus wieder verstärkt werden. Auch hier spielen TicToc und Co eine nicht zu unterschätzende Rolle. An mehreren Schulen in NRW wurden 2023 Vorfälle bekannt, bei denen radikalisierte Schü­ler*innen ihre Mitschüler*innen bedrängt haben, sich an die Regeln der streng ausgelegten Scharia zu halten; die Demokratie wurde hingegen abgelehnt. Es wurden Geschlechtertren­nung im Unterricht, Gebetsräume und Unterrichtsbefreiung für die Gebete gefordert.[17]

Die Polarisierung angesichts des Nahost-Konflikts in proisraelische und propalästinensische Kreise gibt islamistischen Gruppierungen ebenfalls Aufwind. Die Gesellschaft steht zudem weiterhin vor der Aufgabe des Umgangs mit radikalisierten deutschen Rückkehrer*innen aus dem Islamischen Staat (IS) und deren Kindern. Im März 2023 wurde eine bundesweite Razzia gegen Personen des „Islamischen Staats“ durchgeführt. Die Sicherheitsbehörden gehen zu­dem von 600 gewaltbereiten Salafist aus, die sich in Nordrhein-Westfalen aufhalten.[18]

 

Esoterik

An dritter Stelle stehen die Anfragen und Beratungsfälle aus dem Bereich der Esoterik. Mit 107 Beratungsfällen weist die Kategorie Esoterik wie zuvor einen viel höheren Beratungs­be­darf gegenüber den 34 Informationsanfragen auf, wobei sich die Anfragen gegenüber 2022 nahezu verdoppelt haben. Die Angebote des Esoterikmarktes sind in ihrem Gefahrenpotential schwer einzuschätzen. Eine Geistheilbehandlung oder spirituelle Beratung kann sich zu einem fortdauernden kostenintensiven Verlauf mit einer schleichenden Abhängigkeit entwickeln. Teil­weise wird der Anschluss an eine spirituelle Gruppe empfohlen oder eine Ausbildung mit Aus­sicht auf eine eigene Tätigkeit als spirituelle*r Berater*in / Coach. Eine mögliche problema­ti­sche Entwicklung wird auch von den Angehörigen oft erst spät wahrgenommen, sodass auch die Suche nach einer geeigneten Beratung ebenso spät erfolgt. Die im Rahmen der Beratung oft beobachtete fortlaufende Bindung von Klient*innen an eine spirituellen Heil- oder Lebens­beratung widerspricht dem seriösen Konzept einer fachlichen Hilfestellung zur Selbsthilfe, welche eine Abhängigkeit zu vermeiden sucht.

Die für die esoterische Szene typische kritische Haltung gegenüber dem „System“ geht mit einer Skepsis gegenüber der wissenschaftsorientierten Medizin einher. Die besonders zu nen­nende massiv gewachsene Impfskepsis hat sich auch auf bisher weniger beanstandete Imp­fungen ausgeweitet. Insbesondere kommt es aktu­ell zu deutlich steigenden Masernfällen.[19]

An der Masernimpfung hatte insbesondere die anthroposophische Szene seit jeher Anstoß genommen. Im Umfeld von Waldorfschulen ist die Masern-Impfquote gegenüber Regel­schu­len deutlich niedriger. Auch während der Corona-Pandemie zeigten sich hier stärkere Vorbe­halte gegenüber den Schutzbestimmungen. Ein Grund ist in der Ideologie zu finden, der zufolge das Durchleben der „Kinderkrankheiten“ der Seele des Kindes hilft, die noch nicht abgeschlossene Inkarnation in den neuen Leib voranzutreiben.[20] Komplikationen würden hin­gegen als durch frühere Leben karmisch bedingt verstanden.

Bei der Bevorzugung alternativer Heilmethoden wird vielfach in Kauf genommen, dass die Wirksamkeit der Behandlungsmethoden oder Präparate wissenschaftlich nicht nachweis­bar ist. In der Beratung zu Verschwörungstheorien, zu Esoterik und zu Heilergruppen wird häufig die Homöopathie erwähnt. Obwohl sie nicht zu den klassischen Naturheilverfahren gehört, bietet sie mit ihrem ganzheitlichen Image manch Naturheilinteressierten einen „sanf­ten“ Ein­stieg in ein längst widerlegtes pseudomedizinisches Verfahren. Die nicht selten mitge­lieferte Kritik an der wissenschaftlich orientierten Medizin kann dabei Einfallstor für wachsendes Miss­trauen sein. Auf diese Weise können alternativmedizinische Verfahren, insofern sie eine Gleichwertigkeit oder gar Überlegenheit gegenüber evidenzbasierter Medizin behaupten, einerseits Gefahren durch Verschleppung von wirk­samen Behandlungen bergen und anderer­seits auch Verschwörungstheorien Vorschub leis­ten. Auf­grund ihrer unwissen­schaftlichen Grundhypothese will Gesundheitsminister Lauter­bach die Homöopathie vom Katalog der kassenfinanzierten Leistungen streichen. „Wenn Globuli eine Kassenleistung seien, ergebe das "ein falsches Bild von Wissenschaft." "Leistun­gen, die keinen medizinisch belegbaren Nut­zen haben, dürfen nicht aus Beitragsmitteln bezahlt werden", schreibt das Gesundheits­ministerium. Daher werde man "die Möglichkeit der Krankenkassen, in der Satzung auch homöopathische und anthroposophische Leistungen vor­zusehen, streichen".[21] Für weiter­gehende Fragen zur Homöopathie kann das Informations­netzwerk Homöopathie genutzt werden. Dieses leistet seit inzwischen seit 8 Jahren umfas­sende Aufklärungsarbeit.[22]

 

Synkretistische Neureligionen

An vierter Stelle stehen die Anfragen (53) und Beratungsfälle (34) zu den synkretistischen Neureligionen. Dreiviertel dieser Beratungsfälle beziehen sich auf die Glau­bensgemeinschaft der Zeugen Jehovas (22) und zeigen einen gleichbleibend hohen Bera­tungsbedarf. Am 9. März 2023 wurden bei einem Attentat in Hamburg acht Mitglieder der Zeugen Jeho­vas getötet. Der Täter war längere Zeit zuvor kurzzeitig Mitglied. Ein von ihm vor der Tat ver­öffent­lichten Pamphlet zeigt Hinweise auf psychische Auffälligkeiten; er schien sich für auser­wählt zu hal­ten. Anonyme Hinweise aus der Verwandtschaft des Sportschützen an die Waffenbe­hörde blieben folgenlos.[23] In der Berichterstattung erlebten Mitglieder der Gemein­schaft ver­mehrt Kritik bis hin zur These, dass sich Zeugen Jehovas solche Attentäter selbst heran­züchte.[24] Angesichts des schrecklichen Ereignisses ist eine solche Täter-Opfer-Umkehr nicht nur zutiefst zynisch, sondern auch falsch. In einem von ihm verfassten Buch, auf das er vor der Tat hinweist, sind (für die Lehre der Zeugen Jehovas untypisch) extremistische, rassisti­sche und antisemitische Ansichten zu finden, etwa dass Hitler ein Werkzeug Christi gewesen sei. Er habe sich zudem als auserwählt empfunden.[25]

In der Beratungsarbeit muss die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas gelegentlich vor verallge­meinernden Vorwürfen und auch unsinnigen Anschuldigungen in Schutz genommen werden – auch das gebietet die neutrale Haltung der Beratungsarbeit. Berechtigt bleibt jedoch die Kri­tik, dass die „Ächtungspraxis“ an ehemaligen Mitgliedern der Gemeinschaft viel Leid hervor­ruft, welches in Beratungsgesprächen oft thematisiert wird. In Norwegen wurde der Gemein­schaft deshalb die Registrierung als Religionsgemeinschaft und die damit verbundenen Rechte und finanziellen Mittel entzogen. Im März diesen Jahres erfolgte die gerichtliche Bestätigung. Im Hauptsache-Verfahren bestätigte das Bezirksgericht Oslo am 04.03.2024 die Entscheidung Norwegens, dass es sich bei der Ächtungspraxis der Zeugen Jehovas um „schwerwiegende Verletzungen der Rechte und Freiheiten anderer“ han­delt. Damit sind ihnen staatliche Zuschüsse, die Registrierung als Religionsgemeinschaft und die damit verbundenen Privilegien zu Recht entzogen worden.[26] Von der „Leitenden Körperschaft“ der Zeugen Jeho­vas in den USA hieß es bereits im Vorfeld, man werde von der biblisch begründeten Praxis des Gemeinschaftsentzugs nicht abrücken.[27]

Die aus Korea stammende Gemeinschaft Shincheonji[28] sorgt weiterhin mit 11 Fällen für einen hohen Beratungsbedarf. Die streng dualistische Ideologie warnt vor dem nahen­den Endgericht Gottes und verspricht den Gläubigen Rettung und letztlich Unsterblichkeit. Diese habe der über 90 Jahre alte Gründer Man-Hee Lee als angeblich bib­lisch verheißener Endzeitlehrer bereits erreicht. Die NRW Zentrale befindet sich in Essen. Mitglieder missionieren sowohl in christlichen Internetforen wie auch in Essen und Umgebung. Es werden Menschen zu Bibel­kursen eingeladen und mittels regelmäßiger Standaktionen informiert. Die Beteiligung an städtischen Säuberungsaktionen soll dem Image helfen und vermittelt auch nach innen eine positive Aktivität für die Stadt. Während die Gemeinschaft einerseits verdeckt – ohne Namens­nennung – in Fußgängerzonen und auf christlichen Internetportalen missioniert, tritt sie seit letztem Jahr zusätzlich verstärkt offen an Gemeinden und Friedensinitiativen heran.

Im Mai 2023 hielt die Unterorganisation HWPL (Heavenly Culture, World Peace, Restoration of Light) anlässlich ihres 10-jährigen Bestehens an 126 Orten in 77 Ländern Veranstaltungen ab – in Essen mit einer Friedenskonferenz und einem Friedensmarsch durch die Stadt. Unter­schriften für die Unterstützung des DPCW (Declaration of Peace and Cessation of War) wurden unterzeichnet. Auch die offizielle Gründung der Zweigstelle „HWPL Essen e.V.“ fiel in das Jahr 2023. Im Februar 2024 wurde eine Friedenskonferenz abgehalten – der Name Shincheonji fiel dabei nicht, der Name der Unterorganisation HWPL nur auf Nach­frage. Firmiert wird unter „Friedensplattform – kooperativer Frieden“. Wieder wurden Unter­schriften gesammelt. Weitere Konferenzen sind geplant. Der Zusammenhang mit Shincheonji dürfte dabei nicht deutlich geworden sein. Zeitgleich fand unter der Bezeichnung „Religiöse Friedensakademie“ (RPA) eine von HWPL organisierte Veranstaltung statt, zu der Vertreter*innen verschiedener Religionen eingeladen wurden. Auch hier wurden Memo­randen unterzeichnet. Ein ernsthaftes auf Toleranz basierendes interreligiöses Interesse kann jedoch angesichts der Ideologie von Shincheonji ausgeschlossen werden.

Ehemalige Gemeindemitglieder und Bibelkursteilnehmer*innen berichten von hohem Druck und psychischen Belastungen. Die zeitliche Beanspruchung führte zur Isolation von Familie und Freundeskreis, teils auch zur Vernachlässigung oder zum Abbruch der Ausbildung. Inzwi­schen gibt es etliche anschauliche Aussteigerberichte online.

 

Heilergruppen und Aktivitäten im therapeutischen Bereich

Bei den Heilergruppen (18 Beratungsfälle und 18 Informationsanfragen) kommt es insbeson­dere bei zwei Organisationen zu besorgten Anfragen und Beratungen: Beim Bruno-Gröning-Freundeskreis (18) und der Germanischen Neuen Medizin (5)

Die Lehre des Bruno-Gröning-Freundeskreises besagt, es gäbe kein unheilbar. Heilung erfolge durch den „göttlichen Heilstrom“, der nach wie vor durch den 1959 verstorbenen Wun­derheiler Gröning vermittelt werde. Zweifel und Kritik von Außenstehenden würden die Heilung behindern. Bei den regelmäßigen Treffen der Gruppen soll nicht über Erkrankungen gespro­chen werden. Stattdessen wird von wundersamen Heilungen und Ereignissen berichtet. Ein­geladen wird vom „Kreis für natürliche Lebenshilfe e.V.“. Darüber hinaus wird der Film „Das Phänomen Bruno Gröning“ beworben. Die Bereitstellung dieses fünfstündigen Filmes sollte nicht in Räumlichkeiten erfolgen, die mit seriöser Bildung oder Gesundheitsvorsorge assoziierbar sind, wie Volkshochschulen oder städtische Räume. Neben dem größten Anhänger*innenkreis des in der Nachkriegszeit bekanntgewordenen Wunderheilers Bruno Gröning gibt es kleinere Kreise und auch Einzelne, die von dem „Heilstrom“ Grönings über­zeugt sind. Eine fanatisierte Anhängerin ist letztes Jahr an einer unbehandelten Krankheit qualvoll gestor­ben, trotz der bis zuletzt festgehaltenen Hoffnung auf Heilung abseits der Medizin.

Die Germanische Neue Medizin wurde häufig im Zusammenhang mit verschiedenen Ver­schwörungstheorien und rechtsesoterischen bis rechtsextremen Kreisen genannt. Die vom 2017 verstorbenen Gründer Ryke Geerd Hamer begründete Germanische Neue Medizin behauptet den Zusammenhang von Krankheiten mit einem jeweils spezifischen seelischen Konfliktschock. Bekannte Krankheitsursachen werden stattdessen geleugnet und evidenz­basierte empfohlene Behandlungen strikt abgelehnt.[29] Auch hier hören wir gelegentlich von qual­vollen Verläufen, da selbst Schmerzmittel abgelehnt werden. Die Beratung von Angehöri­gen kann sich bei solch tragischen Verläufen meist nur auf Zuspruch und Verständnis beschrän­ken. In Einzelfällen kann nach rechtlichen Konsequenzen geschaut werden, etwa wegen unterlassener Hilfeleistung durch behandelnde Heilpraktiker*innen oder Ärzt*innen. Umso wichtiger bleibt hier die Aufklärung.

 

Guruistische Gruppierungen         

Bei den guruistischen Gruppierungen gab es 18 Anfragen. 26 Beratungsfälle verteilten sich auf 19 verschiedene Gruppierungen. Seit einigen Jahren wird uns in Beratungsge­sprächen von kleinen Yoga-, Kampfsport- und Fitnessgruppen berichtet, die hohes Konfliktpo­tential auf­weisen. Meist männliche Leiter gebärden sich als Guru, der in alle Lebensbereiche hineinre­gieren möchte. Bei einer Gruppe kam es zu sexuellen Übergriffen und Körperver­letzungen. Ein Stern-Artikel schildert eindrücklich die Erfahrungen in einer Fitness-Gruppe, deren Leiter sich als spiritueller Lehrer ausgab.[30]

Immer wieder kommt es auch bei kleinen Meditationsgruppen zu Übergriffen. Die besondere Stellung des Leiters oder der Leiterin, sowie deren eventuell behaupteten göttlichen Gaben führen dazu, dass Teilnehmer*innen aufgrund ihrer Hingabe ihre Grenzen nicht rechtzeitig wahren oder unfähig zu eigenverantwortlichen Lebensentscheidungen werden. In der Bera­tungsarbeit wird versucht, das Selbstbewusstsein zu stärken. Die Schamgefühle sind insbe­sondere bei sexuellen Übergriffen groß. Generell ist gegen eine Meditationspraxis und Kurse bei seriösen Anbieter*innen nichts einzuwenden. Doch was vielen Praktizierenden als Ent­spannungshilfe dient, bzw. spirituelle Praxis ist, kann bei psychischen Vorbelastungen oder Erkrankungen Komplikationen auslösen und gesundheitliche Folgen haben.[31] Gegebenenfalls ist eine ärztli­che Abklärung vonnöten.

 

Satanismus/ Okkultismus

Bei der Thematik gibt es 34 Beratungsfälle und 14 Anfragen zu verzeichnen, wieder war der Themenkomplex der „Rituelle Gewalt und Mind Control Theorie“ vorherrschend. Bei 24 der 34 Fälle stand dieser im Fokus der Beratung.

Bei diesem komplexen Thema kam es 2023 erneut zu Konflikten, bezeichnenderweise auch durch Therapeut*innen. Ten­denziöse Berichterstattungen in den Medien im Zusammenhang mit der „Rituelle Gewalt und Mind Control Theorie“ verdeutlichten, dass eine fachliche Diskus­sion nach wie vor zwingend erforderlich ist.[32] Der unreflektierte Glaube auch von Fachleuten an das zugrundelie­gende Konstrukt kann der Fehltherapie nach der „Rituelle Gewalt-Mind Control“- Methode eine scheinbare Legitimation verleihen. Unserer Einschätzung nach bergen die uns berichteten Behand­lungsmethoden, welche aufgrund dieser Ideologie ange­wandt wer­den, Gefahren für den Therapieerfolg und die Gesundheit der Betroffenen. Zuletzt wurde auch im Beschluss des Hamburger Amtsgerichtes vom 22.11.2023 (Aktenzeichen 737F51/22) auf­gezeigt, dass auf dieser Ideologie beruhende Behandlungen zu einer Ver­schlechterung der psychischen Gesundheit führen können. Betroffene würden durch teils jah­relange „Behand­lungen nicht in Richtung einer Heilung therapiert, sondern krankheitsverstär­kend behandelt“. Im Artikel 40 Jahre Beratungs- und Informationsarbeit zu neuen religiösen Bewegungen und kein Ende in Sicht wird auf die Thematik kurz in Bezug auf Beratungsfälle einge­gangen. Auf unserer Internetseite findet sich ein ausführlicher Fachartikel zum Thema.[33]

 

Scientology Organisation 

Die Anfragen und Beratungsfälle zur Scientology-Organisation (SO) sind auf niedrigem Niveau geblieben. Dies sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Scientology Organisa­tion in dieser Statistik aufgrund ihrer Wirkungsgeschichte als einzige Weltanschauungs­ge­meinschaft individuell zahlenmäßig erfasst wird. Mit 17 Anfragen und 19 Beratungsfällen ist sie gegenüber anderen Gemeinschaften, welche unter Obergruppen/Kategorien subsummiert werden, stark vertreten (im Mittelfeld), was ihr Konfliktpotential deutlich macht. Betroffene beklagen, der Organisation zu viel anvertraut oder zu viel Geld gegeben zu haben.

Der heutige Leiter der Scientology-Organisation David Miscavige wurde in den USA in den letzten Jahren u. a. wegen Kinderarbeit gesucht. Drei ehemalige Mitglie­der der SO-Elite-organisation SeaOrg hatten ihm Kinderhandel, Kinderarbeit und Kindsentfüh­rung vorgewor­fen. Inzwischen wurde dem Einwand der Anwälte von Miscavige stattgegeben, dass die Klä­gerinnen Verträge unterschrieben hätten, laut denen Streitigkeiten durch ein internes religiö­ses Schlichtungsverfahren beigelegt werden müssen. Die ehemaligen Sciento­loginnen erklär­ten daraufhin, dass sie unter Zwang unterschrieben hätten und nun weiter­kämpfen wollen.[34] 

Inzwischen hat Miscavige sich nach Monaten des Versteckspiels wieder bei verschiedenen Anlässen gezeigt.[35] Doch nach wie vor entzieht er sich den Versuchen der in den USA not­wendig persönlichen Zustellung. So konnten ihm in 30 Versuchen die Anklageschriften nicht wie erforderlich persönlich zugestellt werden. Der zuständige Richter Hammock konstatiert: „Wir haben eine neue Stufe der Verrücktheit erreicht."[36]

Die missionarischen Aktivitäten der SO erfahren in den sozialen Medien auch durch jüngere Mitglieder Unterstützung. Eine junge Frau aus Düsseldorf wirbt als “Frau Scientologin” auf Youtube und TicToc mit kurzen Filmen für die Organisation. Im ersten Film Clip erklärt sie den Zweck des TicToc-Kanals: Sie wolle im Rückgriff auf Ron Hubbards Anweisung “Erzählen Sie keine schädlichen Lügen”/ „man sollte lernen schädliche Lügen aufzudecken und zurückzu­weisen”, die angeblich in den Medien verbreiteten Lügen über Scientology aufdecken und zurückweisen.[37] In Ihrem TicToc-Profil verlinkt sie nach “Eine waschechte Scientologin - Schreibt mir gerne eure Fragen!” direkt den von Scientology seit vielen Jahren genutzten Per­sönlichkeitstest. Der wissenschaftlich gesehen unseriöse Test soll Defizite aufdecken, zu deren Behebung Kurse empfohlen werden.

Der Gründer L.R. Hubbard entwickelte mit „Dianetik“ eine Methode, mit der sich die Anwen­der*innen selbst von jeglichen psychischen und physischen Belastungen befreien können sollen. In Deutschland wird die Scientology-Organisation weiterhin vom Verfassungsschutz beobach­tet, da sie eine Gesellschaft nach scientologische Maßstäben anstrebt, in der Nicht-Scientolog*innen weniger Grundrechte hätten. [38] Der Verfassungsschutzbericht von NRW für 2022 zählt rund 350 Mitglieder. Die Organisation verfolgt weiterhin die Strategie, mittels ihrer Tarnorganisationen, Menschen anzuwerben.[39] Neben der in Düsseldorf liegende NRW-Zentrale befindet sich dort ebenso ein prominenten Persönlichkeiten vorbehaltenes „Celebrity Center“.

 

Strukturvertriebe

Bei der letzten Kategorie Strukturvertriebe (5) ging es um Direktvertriebs­systeme, die Nah­rungsergänzungsmittel verkaufen oder Geschäfte mit Kryptowährungen anbieten. Verspro­chen werden hohe Gewinne bei eigener Arbeitszeiteinteilung. Ein jährlich wiederkehrendes Beratungsthema sind „Life-Plus-Produkte“. Auch Verbraucherzentralen bieten dazu Informa­tion an.[40] Generell sind bei Gesundheit und einer ausgewogenen Ernährung keinerlei Nah­rungsergänzungsmittel vonnöten. Ein wichtiges Thema bei Struk­turvertrieben ist die Möglich­keit von Vertragskündigungen.

 

Kindeswohlgefährdungen

Kategorienunabhängig sind bei unseren Beratungsfällen von 2023 100 Kinder und Jugend­liche betroffen. Bei 44 Fällen wurde der Verdacht auf Kindeswohlgefähr­dung festgehalten. Gerade im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien wurde deutlich, dass Kinder auch ohne feste Gruppenbindung durch die ideologische Verblendung von Elternteilen gefährdet werden können. Die in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugend­schutz Nordrhein-Westfalen erstellte Broschüre „Glaubensfreiheit versus Kindeswohl“ ist als PDF unter Infomaterialauf unserer Webseite erhältlich. Diese erhält in diesem Heft eine not­wendige Aktualisierung durch den Artikel von Anja Gollan Aufwachsen mit Verschwörungstheorien und Staatsablehnung – Kinderschutz im Kontext des „Reichsbürger-“, „Selbstverwalter-“  und „Delegitimierer-Milieus“.

Im Falle des im März 2023 rechtskräftig wegen sexuellen Kindesmissbrauchs zu fünf Jahren Haft verurteilten „Propheten“ der Glaubensgemeinschaft „Orde de Transformanten“ hat der Kreis Kleve zusätzlich nach Strafende die Ausweisung aus Deutschland beantragt. Wie berichtet sah der Leiter der in einem ehemaligen Klostergelände (Graefenthal) in Goch leben­den Gemeinschaft eine Minderjährige als spirituell legitimierte (weitere) Ehefrau. Eine Vertre­terin des Kreises erklärte: „Ich sehe angesichts der Stellung des Predigers, dessen narziss­ti­scher Persönlichkeit und dessen großem Einfluss auf die Glaubensgemeinschaft ein hohes Rückfallrisiko.“ Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat die Klage des „Propheten“ von Grae­fenthal gegen seine vom Kreis Kleve angeordnete Ausweisung am 11.10.2023 abgewiesen. Mit dem Verlust der Freizügigkeit ist der Verurteilte nach Verbüßung der Haft ausreisepflichtig und kann gegebenenfalls in die Niederlande abgeschoben werden. Fünf Jahre lang ist danach die Einreise nach Deutschland und der Aufenthalt im Bundesgebiet untersagt.[41]

 

Rechtsberatung 2022

Seit inzwischen 20 Jahren bietet der Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. - ergänzend zur psychosozialen Beratung - kostenlos eine fundierte Rechtsberatung an. 105 Klient*innen haben im Jahr 2023 diese Möglichkeit in Anspruch genommen. Die Tabelle zeigt den Bedarf an Rechtsberatung, unterteilt in die auch sonst üblichen zehn Kategorien (vgl. Diagramm 5).

Rechtsberatung nach Kategorien

Diagramm 5: Rechtsberatung

Ein großer Teil der Rechtsberatung umfasste Fragestellungen zum Thema Kinderschutz. Häufig suchten Angehörige Hilfe bei der Einschätzung einer möglichen Kindeswohlgefährdung im Kontext von konfliktträchtigen Gemeinschaften oder „extremen“ Erziehungsstilen. Dabei ging es vermehrt auch um rechtliche Konflikte, welche sich aus der Zugehörigkeit eines Elternteils zur „Reichsbürger-Szene“ ergaben.[42]

Auch im Zusammenhang mit unseriösen Coaching-Angeboten wurde im letzten Jahr häufig eine Rechtsberatung (24) in Anspruch genommen. Dabei stand überwiegend die Frage im Vordergrund, inwieweit es möglich ist, das gezahlte Geld für ein Coaching Seminar zurückzufordern. Unsere Klient*innen berichteten nicht selten von 4-stelligen Summen, die für ein Jahrescoaching gezahlt werden sollten. Wir hatten bereits im Jahresbericht 2022 darauf hingewiesen, dass solche Verträge im Einzelfall als sittenwidrig und damit nichtig eingestuft werden können. Dies wurde 2023 auch vom Landgericht Stuttgart bestätigt.[43] In dem zugrunde liegenden Fall ging es um ein „Mentoring-Programm“ für 60.000 €. Nach der Darstellung des Anbieters sollte das Programm Unternehmer*innen Strategien zu Umsatzsteigerungen und Verkauf näherbringen. In einem Telefonat wurde einem Kleinunternehmer die Teilnahme an diesem Programm mittels einer speziellen Verkaufsstrategie („Ja-Straße“) nahegelegt. Ob es zu einem Vertragsabschluss kam, war zwischen den Parteien streitig. Das Landgericht Stuttgart führte aus, dass es unerheblich sei, ob bei dem Telefongespräch überhaupt ein wirksamer Vertrag zustande gekommen sei. Denn so sei der „Mentoring Vertrag“ ohnehin nichtig, weil er gegen die guten Sitten verstoße (§ 138 Absatz 1 BGB). Nach Ansicht des Gerichts war das angebotene Programm für den Kunden nutzlos und der Wert der Leistung (60.000 €) um ein Vielfaches höher als der Wert der Gegenleistung. Außerdem sei bei einer Würdigung der Gesamtumstände von einer verwerflichen Gesinnung des Coaching-Anbieters auszugehen. So habe er gewusst, dass die Zahlung den wirtschaftlichen Ruin des Kleinunternehmers bedeuten würde. Dennoch sei weiter versucht worden, ihn zum Vertragsabschluss zu bewegen. Des Weiteren sei eine manipulative Gesprächsstrategie im Telefongespräch angewendet worden. Bereits 2021 hatte das Landgericht Stade bei einem Jahrescoaching für 30.000 € ein „wucherähnliches Geschäft“ bejaht und einen Zahlungsanspruch des Anbieters verneint.[44]

Aufgrund dieser Rechtsprechung sollten sich Betroffene eines überteuerten Coachings nicht scheuen, ihren Fall juristisch überprüfen zu lassen und gegebenenfalls auch vor einer gericht­lichen Durchsetzung einer Geldrückforderung nicht zurückschrecken.

 

Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit

Die Aufklärungsarbeit mit Seminaren, Vorträgen und insbesondere Medientätigkeit bildete auch 2023 einen herausfordernden Anteil an der Gesamtarbeit. Von Januar bis Dezember 2023 wurden 16 Präventionsveranstaltungen durchgeführt, teils digital, teils in Präsenz. Diese fanden statt für Schüler*innen (5), Mitarbeiter*innen anderer Beratungsstellen (4), für Mitarbeiter*innen des Allgemeinen Sozialen Dienstes (4), für Fachkräfte an Schulen (3) und des Landesjugendamtes Westfalen.

Die Aufklärungsarbeit des Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. wurde für eine kirchliche Gemeindeveranstaltung zu Verschwörungstheorien genutzt. Bei einem Fachtag in Solingen „Wir müssen reden“ beteiligten wir uns mit zwei Workshops zu Verschwörungstheorien und einer Podiumsdiskussion. Außerdem fanden fünf Schulveranstaltungen zu Verschwörungs-theorien und Satanismus statt. Die vom Sekten-Info NRW begleitete Gesprächsgruppe für Angehörige verschwörungsgläubiger Menschen fand 9-mal in einem geschlossenen Online Format statt. Die Themen Verschwörungstheorien, Reichsbürger*innen und mögliche Hilfen im Umgang mit betroffenen Menschen waren damit auch im letzten Jahr vorherrschend.

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Mitarbeiter*innen des Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. Fachkräften gern Informationsmaterial für die Aufklärungsarbeit im Unterricht zur Verfügung stellen. Auf unserer Homepage bietet der Bereich Prävention zu den verschiedensten Themen unserer Beratungsstelle sowohl Infomaterial für den Unterricht als auch Fallberichte und Hintergrundinformationen an. Selbstverständlich beraten wir Lehrer* innen auch gern telefonisch. Darüber hinaus sind themenspezifische Multiplikatoren-Seminare möglich. Schulveranstaltungen sind leider nur in Ausnahmefällen möglich, insbesondere zur Unterstützung im Rahmen konkreter Vorfälle an Schulen. Ebenso bieten wir Einzelgespräche in Zusammenarbeit mit Schulsozialarbeiter*innen an.

Außerdem wurde wie im Jahr zuvor eine intensive Öffentlichkeitsarbeit geleistet. Durch Hintergrundgespräche konnten die Recherchearbeiten von Medien in 89 Fällen unterstützt werden. In 26 Fällen wurde durch ein Interview oder sonstige direkte Mitwirkung für ein Radio-/ TV-Format oder einen Zeitungsartikel Aufklärungsarbeit geleistet. Hervorzuheben ist die durch Christoph Grotepass und Bianca Liebrand 2023 unterstützte vierteilige TV Reihe „Jenseits des Glaubens“, die Anfang 2024 ausgestrahlt wurde. Thematisiert wurden Zeugen Jehovas, die Organische Christus Generation, Shincheonji und esoterische Heil-Zirkel. Psychologin Bianca Liebrand wurde auch in der SWR-Vollbild Folge zur Heilpraktikerschule Schoof interviewt. Ein Stern-Interview mit der Bianca Liebrand und der Juristin Anja Gollan behandelte unseriöse Anbieter der Coaching-Szene und den durch sie ausgelösten Beratungsbedarf. Die Psychologin Uta Bange wurde bei Reschke TV ebenfalls zum Thema Coaching interviewt. Anja Gollan trug mit rechtlicher Expertise zum Thema Reichs­bürger*innen in ARD Kontraste bei. Sabine Riede wurde im Deutschlandfunk und vom WDR zu Coaching und Satanismus befragt, und bei ZDF Frontal zu allgemeinen Entwicklungen der weltanschaulichen Szene.

Die Mitarbeiter*innen der Beratungsstelle wurden außerdem in Veröffentlichungen der Zeit­schriften Stern, Spiegel, Skeptiker, WAZ, Westfalenpost, sowie dem Online-Format Kraut­reporter zu den unterschiedlichsten Themenbereichen zitiert. Dabei ging es insbesondere um die Problematik der Verschwörungstheorien und die Rituelle Gewalt Mind Control Theorie, aber auch um unseriöse Coaching-Angebote, fundamentalistische Freikirchen, Esoterik, Scientology und allgemeine Entwicklungen der weltanschaulichen Szene. Einige der Inter­views sind auf unserer Webseite verlinkt. Zusätzlich wirkten die Mitarbeiter*innen auch bei verschiedenen Podcasts zu den Themen Heilpraktiker-Schulen, Exorzismus, Germanische Neue Medizin und unseriöse Coachingangebote mit.

 

Gremienarbeit

Der Informationsaustausch über aktuelle Themen in der Weltanschauungs-Szene fand wieder in zahlreichen Workshops mit anderen Fachberatungsstellen, kirchlichen Weltanschauungs-beauftragten und Betroffeneninitiativen statt. Diese fanden in Präsenz, in Videokonferenzen und hybrid statt. Insbesondere die Videokonferenzen gestatteten den überregionalen Austausch mit Fachstellen über das gesamte deutschsprachige Gebiet. Drüber hinaus fanden Austauschgespräche mit Fachberatungsstellen zum religiös begründeten Extremismus, Distanzierungsberatung Islamismus, Mobile Beratungsstellen zum Rechtsextremismus und Ausstiegsberatung sowie der Aktion Jugendschutz statt.

Die Mitarbeiter*innen des Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. nahmen zudem an Fach-gesprächen im Landtag teil. Auf Landesebene ist der Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. im „Arbeitskreis Beratungsstellen“ des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands integriert. Bundesweit ist die Beratungsstelle mit verschiedenen Expert*innen zum Thema Verschwö­rungstheorien vernetzt. Zusätzlich haben die Mitarbeiter*innen sich im Rahmen verschiedener Fortbildungsveranstaltungen – u.a. zum Thema Kinderschutz im Zusammenhang mit religiös begründetem Extremismus und spezialisierter Beratung bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche – teils digital – weitergebildet. Es fanden 25 Gremiensitzungen statt.

Der Verein hat sich in diesem Jahr der „International Cultic Studies Association“ (ICSA) angeschlossen. Der Fachaustausch kann so auch auf internationaler Ebene verstärkt werden.

 



[1] https://www.sueddeutsche.de/politik/kirche-als-gott-aus-deutschland-verschwand-ein-bischof-bilanziert-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-231231-99-454129, abgerufen am 15.03.2024.

[2] https://www.ezw-berlin.de/aktuelles/artikel/triumph-der-saekularisierung-skeptische-rueckfragen-an-die-kmu-vi-news/, abgerufen am 15.03.2024.

[3] https://www.rheingold-marktforschung.de/rheingold-studien/psychologische-wirkungen-der-demonstrationen-gegen-rechtsextremismus/, abgerufen am 6.3.2024.

[4] „Schule geht gegen Unterwanderung vor“, Südkurier/Bodenseekreis vom 01.07.2023.

[5] https://www.waldorfschule.de/artikel/bund-der-freien-waldorfschulen-warnte-bereits-anfang-2015-vor-reichsbuergern/, abgerufen am 15.03.2024.

[6] https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen/querdenker-eltern-unterricht-kinder-lerngruppen-100.html, abgerufen am 28.03.2023.

[7] Matthias Pöhlmann: „Im kleinen Gallien gegen übermächtige Römer - Verschwörungsglaube und rechte Esoterik in der Freilerner-Szene“, https://www.sektenwatch.de/sites/default/files/2023-12/poehlmann23.pdf, abgerufen am 28.03.2023.

[8] https://www.merkur.de/lokales/muenchen/muenchen-mehr-als-100-faelle-heilpraktiker-faelschte-corona-impfpaesse-in-muenchen-sein-gerichtsurteil-ist-knueppelhart-92376104.html, abgerufen am 15.03.2024.

[9] https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/lg-muenchen-i-corona-impfnachweise-faelschung-haftstrafen, abgerufen am 15.03.2024.

[10] zum Verbot der rechtsextremen Gruppierung "Artgemeinschaft" https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/ kurzmeldungen/DE/2023/09/verbot-artgemeinschaft.html, abgerufen am 15.032024.

[11] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/finanzen/razzia-reichsbuerger-bafin-banklizenz-versicherung-krankenkasse-100.html, abgerufen am 15.03.2024.

[12] https://www.mainpost.de/regional/schweinfurt/erneuter-todesfall-bei-gochange-in-luelsfeld-56-jaehriger-starb-im-oktober-2022-nach-einnahme-von-drogen-art-11160799, abgerufen am 15.03.2024.

[13] Unseriöse (Online-) Coaching-Angebote für junge Menschen - Vorsicht vor Scharlatanen!, weitere Artikel zum Coaching und eine Checkliste sind ebenfalls auf unserer Webseite.

[14] https://www.srf.ch/news/schweiz/verschwoerungstheorien-aussteigerin-aus-sasek-sekte-erzaehlt-vom-leben-in-fake-news-welt, abgerufen am 20.03.2024.

[15] https://www.fr.de/panorama/kenia-der-horror-im-shakahola-wald-92785567.html, abgerufen am 09.03.2024.

[16] Die “Bewegung zur Wiederherstellung der Zehn Gebote” erlangte im Jahr 2000 traurige Bekanntheit durch den Massenmord in Uganda mit über 1000 Toten. Bei dem im Jahr 1978 in Französisch-Guyana stattgefundenen „Jonestown-Massaker“, waren durch teils erzwungene Selbsttötungen und Ermordung von Mitgliedern des von Jim Jones gegründeten „Peoples Temple“ 909 Tote zu beklagen.

[17] https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/scharia-schueler-neuss-100.html, abgerufen am11.03.2024.

[18] https://www1.wdr.de/nachrichten/razzia-gegen-is-mehrere-festnahmen-in-nrw-100.html, abgerufen am 11.03.2024.

[19] https://www.br.de/nachrichten/wissen/masern-weltweit-erkrankung-risiken-symptome-und-impfung,Rmyo4wo, abgerufen am 20.03.2024.

[20] https://waldorfsalat.letscast.fm/episode/2-mit-natalie-grams-anthroposophische-medizin/, abgerufen 28.03.‘24.

[21] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/lauterbach-homoeopathie-100.html, abgerufen am 15.03.2024.

[22] https://netzwerk-homoeopathie.info/, abgerufen am 20.03.2024.

[23] https://www.t-online.de/region/hamburg/id_100159402/amoklauf-bei-zeugen-jehovas-in-hamburg-der-auserwaehlte-und-die-prostituierte.html, abgerufen am 15.03.2024.

[24] https://www.abendblatt.de/hamburg/politik/article241829432/Ein-Jahr-nach-Amoklauf-Wie-es-den-Ueberlebenden-heute-geht.html, abgerufen am 15.03.2024.

[25] https://www.t-online.de/nachrichten/panorama/kriminalitaet/id_100142046/amoktat-in-hamburg-bei-zeugen-jehovas-buch-zeigt-extremismus-des-taeters.html, abgerufen am 15.03.2024.

[26] https://jz.help/zeugen-jehovas-norwegen-einstweilige-verfuegung-aufgehoben/, abgerufen am 15.03.2024.

[27] https://www.jw.org/en/news/jw/region/global/2022-Governing-Body-Update-8/, abgerufen am 28.03.2023.

[28] Auch Shincheonji – „neuer Himmel und Erde“, „Gemeinde Jesu, der Tempel der Hütte des Zeugnisses“.

[29] vgl. hierzu Christoph Grotepass, Die "Germanische Neue Medizin" von Ryke Geerd Hamer auf unserer Webseite.

[30] https://www.stern.de/gesellschaft/im-bann-des-fitnesstrainers--ueber-eine-bizarre-gemeinschaft-34412116.html, abgerufen am 15.03.2024.

[31] https://www.tagesschau.de/investigativ/swr/meditation-risiken-nebenwirkungen-100.html, abgerufen 18.03.’24.

[32] https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/wie-therapeuten-eine-verschwoerung-ueber-vermeintliche-opfer-ritueller-gewalt-verbreiten-a-fd5ea9b2-9c67-42ef-b451-0f511cb80053; https://www.spiegel.de/panorama/sektenbeauftragter-ueber-vermeintlichen-rituellen-missbrauch-es-ist-die-projektion-des-absolut-boesen-a-d2d040f6-3475-42a7-9837-b762a7861315; https://www.spiegel.de/panorama/justiz/bistum-muenster-schliesst-beratungsstelle-organisierte-sexuelle-und-rituelle-gewalt-a-2b8be5fe-f713-4f94-88d8-6b261c911ced;https://www.spiegel.de/panorama/jan-gysi-und-die-thesen-zu-vermeintlicher-ritueller-gewalt-naiver-irrglaube-a-c30a4222-adc9-47ed-a911-d217e44d8af2; https://www.rums.ms/beitraege/das-bistum-und-der-satanismus/, abgerufen 20.03.2024.

[34] https://www.watson.ch/blogs/sektenblog/639970828-nach-anklage-wegen-kinderarbeit-scientology-boss-war-untergetaucht, abgerufen am 15.03.2024.

[35] https://www.pressetext.com/news/scientology-kirche-feiert-geburtstag-des-gruenders-mit-exponentieller-expansion-gross-denken-.html, abgerufen am 15.03.2024.

[36] https://www.courthousenews.com/judges-frustrated-as-scientology-head-david-miscavige-dodges-summons/, abgerufen am 15.03.2024.

[37] https://www.tiktok.com/@frau.scientologin, abgerufen am 20.03.2024.

[38] Hubbard, L.Ron. (2007). Dianetik – Der Leitfaden für den menschlichen Verstand, 3. überarbeitete Ausgabe, Kopenhagen, S. 483.

[39] https://www.im.nrw/system/files/media/document/file/verfassungsschutzbericht_nrw_2022.pdf, S. 278ff.

[40] https://projekte.meine-verbraucherzentrale.de/plain/lifeplus-produkte, abgerufen am 20.03.2024.

[41] https://rp-online.de/nrw/staedte/kleve/verurteilter-prophet-scheitert-mit-klage-vor-gericht_aid-99302035, abgerufen am 15.03.2024.

[43] LG Stuttgart, 30.03.23, 30 O 266/22, abrufbar unter: https://www.landesrecht-bw.de/bsbw/document/ JURE230060133, abgerufen am 05.03.2024.

[44] LG Stade, Urteil vom 18.08.21 - 3 O 5/22, bestätigt durch OLG Celle, 01.03.23, 3 U 85/24: Das OLG Celle stellte allerdings darauf ab, dass das Online Coaching aufgrund der fehlenden Zulassung des Anbieters für Fernlehrgänge nach § 7 FernUSG (Fernunterrichtsschutzgesetz) als nichtig anzusehen sei.