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Autor: Christoph Grotepass 13.03.2016
Die „Germanische Neue Medizin“ (GNM) von Ryke Geerd Hamer vereint eine absurde, gefährliche „Therapie“-Methode, Verschwörungstheorien und Antisemitismus. Im Rahmen unserer Beratungsarbeit ist dieses konfliktträchtige „Therapie“-Angebot schon lange bekannt. Verweisen möchte ich an dieser Stelle auf einen aktuellen Bericht einer Angehörigen in diesem Heft, die den Krankheitsverlauf ihres Vaters bis zu seinem Tode im März 2015 beschreibt – er hatte sich der GNM anvertraut. Da diese Pseudotherapie also nach wie vor Verbreitung und damit auch Opfer findet, ist eine Aufklärung dringend notwendig. Auch die Deutsche Krebshilfe macht explizit auf Hamer und die GNM aufmerksam:
Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden Hamer und seine „Neue Medizin“ 1995. Mit großem Medieninteresse wurde verfolgt, wie die Eltern ihre damals 6-jährige Tochter Olivia einer medizinischen Behandlung entzogen und außer Landes gingen. Sie wollten ihrem krebskranken Kind die „Schulmedizin“ ersparen und suchten Hamer in Spanien auf. Letztendlich wurde den Eltern von den österreichischen Behörden das Sorgerecht vorübergehend entzogen. Das Kind wurde erfolgreich behandelt, dabei wurde ein inzwischen Fußball-großer Tumor aus dem Bauchraum entfernt. Die Eltern erhielten Bewährungsstrafen wegen fahrlässiger Körperverletzung. Der Vater, Helmut Pilhar, ist nicht nur nach wie vor Anhänger der GNM, sondern hält als „Dozent“ zahlreiche, auch kostenpflichtige Seminare zur GNM.
Im Februar 2015 wurden die Eltern eines im Alter von 4 Jahren verstorbenen Kindes wegen fahrlässiger Tötung zu Bewährungsstrafen verurteilt. Die Staatsanwaltschaft sah es als erwiesen an, dass die Eltern das zuckerkranke Kind im Vertrauen auf die GNM unzureichend mit Insulin versorgten. (http://www.spiegel.de/panorama/justiz/diabetes-tod-von-maedchen-sieghild-bewaehrungsstrafe-fuer-eltern-a-1017984.html)
Kritiker von Hamer nennen eine verschieden hohe Anzahl von Menschen, die verstorben sind, nachdem sie sich der GNM anvertraut haben. Die Angaben reichen von 80 gerichtsbekannten Fällen bis zu rund 500 Fällen, auf welche die österreichische Medizinjournalistin Krista Federspiel die Opferzahl seit 1983 summiert. (Schwäbische Zeitung vom 11.02.2015 „Dubioser Heiler und seine Anhänger – Wie eine Sekte“) Anders als von Hamer und seinen Anhängern behauptet, befinden sich keineswegs nur medizinisch „aus-therapierte“ Menschen darunter, sondern auch solche, die sich von vorne herein nur auf die GNM verlassen haben.
Ryke Geerd Hamer wurde 1935 in Mettmann geboren. Er studierte evangelische Theologie und Medizin. Er war als Internist in verschiedenen Kliniken tätig. 1978 wurde Hamers Sohn Dirk im Alter von 19 Jahren (ältestes von 4 Kindern) auf Korsika bei einer Schießerei schwer verletzt und starb vier Monate später. Dass Hamer wenig später an Hodenkrebs erkrankte, gilt als Schlüsselpunkt in der Entwicklung der GNM. Zwar ließ er den Tumor operativ entfernen – später sagt er:
Hamer deutete seine Krebserkrankung als Folgeerscheinung seines Schocks über den Tod seines Sohnes. 1981 entwickelte er die „Neue Medizin“. Zur Abgrenzung von anderen „neuen“ Therapien fügt er später das Wort „Germanische“ hinzu. Eine weitere Bezeichnung ist „Germanische Heilkunde“. Ihr zufolge wird Krebs durch einen „biologischen Konflikt“ ausgelöst. Dieser gründet immer in einem seelischen „Konfliktschock“, welchen er zu Ehren seines Sohnes „Dirk-Hamer-Syndrom“ nennt. Dieses „DHS“ liegt dem Krebs und eigentlich einer jeden „sogenannten Krankheit“ zugrunde. Für Hamer sind es keine Krankheiten, sondern „sinnvolle biologische Sonderprogramme“ (SBS), die der Körper am besten unbehelligt von der „Schulmedizin“ durchläuft. Allein die „Konfliktolyse“ - das Erkennen und Verarbeiten des zugrundeliegenden Konfliktschocks - reiche zur Heilung aus. Viren oder Bakterien seien keine Krankheitserreger, also Auslöser von Krankheiten, sondern am Heilungsprozess beteiligt. Impfungen sind damit überflüssig. Impfkampagnen lassen sich aus Sicht der GNM als lukratives Geschäft der Medizin-Industrie erklären. Diese schüre Ängste, würde Krankheiten sogar erfinden, um an ihrer Behandlung zu verdienen. Ähnlich argumentieren andere Vertreter der „Impfgegner“-Szene wie Stefan Lanka und Dr. Rath. Beide wurden 2015 mit dem Negativpreis „Das Goldene Brett vorm Kopf“ geehrt. (Siehe Kapitel Verbreitung)
Hamers eingereichte Habilitationsschrift mit dem Titel „Das Hamer-Syndrom und die eiserne Regel des Krebses“ wurde von der Universität Tübingen wegen mangelnder Wissenschaftlichkeit und fehlender Belege abgelehnt. 1986 entzog ihm das Amtsgericht Koblenz die ärztliche Zulassung wegen unterlassener ärztlicher Hilfeleistung. Hamer praktizierte illegal weiter und wurde zu mehreren Haftstrafen in Deutschland, Österreich und Frankreich verurteilt. Er saß mehrfach in Haft, so in Deutschland und Frankreich. Durch die Flucht nach Norwegen entzog sich Hamer bisher weiteren anhängigen Verfahren und Haftbefehlen.
Nach wie vor suchen Hamer und seine Anhänger die Anerkennung der GNM und die Rehabilitation Hamers. Seine Klage gegen den Entzug der Approbation wurde abgewiesen, seine Berufung hiergegen ebenso. Das Oberverwaltungsgericht Rheinland Pfalz begründet:
Jegliche Kritik prallt an diesem „Glaubenssystem“ ab und bewirkt keinerlei Einsicht. Weitere Anträge auf Wiedererteilung der Approbation scheiterten. Hamer und seine Anhänger sehen im Entzug der Approbation und in der Weigerung wissenschaftlicher Institutionen, seine Lehre offiziell anzuerkennen, eine Verschwörung "jüdischer Logen". Diese steuerten durch die Beeinflussung von (angeblich jüdischen) Professoren, Richtern und Journalisten eine "beispiellose Erkenntnisunterdrückungskampagne". Hamers Lehre werde unterdrückt und die zahllosen Opfer der tödlichen, aber lukrativen Chemotherapie würden vertuscht:
Auch angesichts von Todesfällen bei GNM-Befürwortern sieht Hamer finstere Mächte am Werk. Zum Prozess gegen die Eltern des eingangs erwähnten verstorbenen Kindes schreibt Hamer:
Nach Hamers Ansicht werden solche mit Giftkammern versehenen Chips mittels Kanülen eingesetzt. Sie würden über Satellit gezielt ausgelöst, um Menschen auszuschalten. Er warnt vor einer flächendeckenden Zwangs-Implantation der Chips.
2008 hatte Hamer unter seiner Wohnadresse einen Kleinverlag angemeldet unter dem Namen „Universitet Sandefjord For Den Germanske Nye Medisin, Naturlig Kunst og Livsstil Dr. Hamer“. Als „Dozenten“ dieser „Universität“ ernannte Hamer 2010 auch den Ingenieur „Priv. Doz Ing. Helmut Pilhar“. Helmut Pilhar steht Hamer in seinen Verlautbarungen inhaltlich wenig nach:
Die Nutzung der Domain „universitetsandefjord.com“ wurde Hamer im April 2015 vom norwegischen Erziehungsministerium untersagt. (http://germanischeheilkunde-drhamer.com/) Pilhar und weitere Anhänger haben im deutschsprachigen Raum ein aktives Netzwerk sogenannter Stammtische oder Studienkreise aufgebaut. Darüber hinaus gibt es weitere Anbieter, die Hamers System weiterentwickelt haben oder deren Verfahren Ähnlichkeiten mit diesem aufweisen.
Hamer sieht in seiner „Germanischen Neuen Medizin“ keineswegs ein weiteres „alternatives“ Therapie-Verfahren, sondern schlicht die Revolution der Medizin überhaupt. Sie gelte für Mensch, Tier, Pflanze, für den gesamten belebten Kosmos. Daher würden „Schulmedizin“ und Pharmalobby die GNM aus Angst vor finanziellen Einbußen unterdrücken. Die Schulmedizin baue nur auf Hypothesen auf, während die GNM auf Naturgesetzen beruhe:
Die von Hamer postulierten fünf „Biologischen Naturgesetze“ heißen:
Laut Hamer sind Krankheiten „Sinnvolle Biologische Sonderprogramme“ (SBS). Diese liefen stets synchron auf 3 Ebenen: Psyche, Gehirn, Organe. Leicht lasse sich von einer Ebene auf die andere schließen. Der psychische Konfliktschock (Dirk-Hamer-Syndrom, DHS) soll in der entsprechenden Hirnregion stets zu einer „Schieß-scheibenkonfiguration“ („Hamerschen Herd“) führen, die sich durch die Computertomographie abbilden lässt. Das über eine Keimblatt-Beziehung mit dieser Hirnregion verbundene Organ unterliege sodann einem evolutionär verständlichen „Sinnvollen Biologischen Sonderprogramm“ (SBS). Hamer unterscheidet während des Verlaufs des Sonderprogramms zwei zusammenhängende Phasen, die von der „Schulme-dizin“ als verschiedene Krankheiten gewertet und falsch behandelt würden. Konventionelle Therapieverfahren und die Gabe von Schmerzmitteln würden den natürlichen Heilverlauf bremsen, bzw. die eigentliche Gefährdung des Patienten darstellen.
Die Lehre der GNM wird plakativ und anschaulich mittels anekdotischer Beispiele veranschaulicht. Dabei werden biologistische und assoziative Muster benutzt:
Das Lied „Mein Studentenmädchen“
Dieses Lied wird von Anhängern der GNM zur Unterstützung der Heilung gehört, teils sogar in Dauerschleife. Es handelt sich dabei um ein Liebeslied, das Hamer 1976 für seine Frau Sigrid gedichtet und komponiert hat. Im Herbst 2012 verkündete Hamer, dass die Schwingungen dieser „archaischen Melodie“ bei chronischen Krankheitsverläufen heilsam seien:
Pilhar merkt dazu an:
Hamers GNM will die Angst vor den „sogenannten Krankheiten“ nehmen und postuliert naturgesetzliche Abläufe. Seine behaupteten Zusammenhänge von Psyche und Körper klingen für manche plausibel. Doch die angeblich im CT sichtbaren Hamerschen Herde lassen sich nicht nachweisen, in den veröffentlichten Beispielen erkennen Fachleute Artefakte (Bildfehler), wie sie für CT-Aufnahmen typisch seien. Die Bezüge zwischen Psyche, Gehirn und Körper sind lediglich an assoziativen Mustern konstruiert. Die Rolle der Mikroben beim Selbstheilungsprozess widerspricht gesicherten medizinischen Erkenntnissen. Den Anfang machte Ignaz Semmelweis bereits im 19. Jhd., indem er durch simple Hygienevorschriften für Ärzte das Kindbettfieber-Risiko senkte. Die immer wieder von Hamer angeführten „Verifikationen“ seiner Theorien durch einige Ärzte und Institute genügen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht. Von wissenschaftlich begleiteten Patientenstudien ist nichts bekannt, sie wären ethisch auch nicht vertretbar, da Patienten unbehandelt blieben.
Die Vorstellung, dass psychische Faktoren einen Einfluss auf die Entstehung von Krebserkrankungen haben, hat zwar eine lange Tradition, aber auch sie ist durch Studien widerlegt. Weder gibt es eine „Krebspersönlichkeit“, gekennzeichnet durch Depression und Selbstaufopferungstendenzen, noch lassen sich schwerwiegende psychische Stressfaktoren mit einer Erhöhung der Krebsanfälligkeit in Verbindung bringen. (Deutsche Krebsgesellschaft) Eine eindeutige Erklärung zur Entstehung von Krebs gibt es bis heute nicht.
Dennoch gibt es etliche weitere Anbieter „alternativer“ Verfahren, die solche psychologisierende Begründung in verschiedenster Form bedienen. Wie bei Hamer’s GNM wird den Erkrankten dabei mehr oder weniger subtil schlicht die Schuld an ihrer Erkrankung zugeschrieben. Gerade wenn etwa angeblich „negative“ Gefühle für Erkrankungen verantwortlich gemacht werden, kann ein zwanghafter Versuch eines „positiv Denkens“ zur seelischen Dauerbelastung werden und eine zusätzliche Verschlechterung der mentalen Verfassung bedeuten. Auch wenn ein Tumor davon unbeeinflusst bleibt, wäre die Lebensqualität dadurch insgesamt unnötig beeinträchtigt. Statt der positiven Gewissheit, von einer medizinischen Versorgung auf aktuellem Stand zu profitieren, erleben chronisch erkrankte Menschen bei der GNM eine fortschreitende Verunsicherung, da scheinbar immer noch nicht alle Konflikte bearbeitet sind.
Anders als von vielen Kritikern der „Schulmedizin“ behauptet, gilt die Psyche gerade bei dieser wisenschaftlich orientierten Medizin - insbesondere bei der Krebstherapie - als sehr wichtiger Faktor. Davon zeugt die neuere Entwicklung und Etablierung der Psychoonkologie oder psychosozialen Onkologie. Hier wird der an Krebs erkrankte Mensch zusätzlich psychosozial betreut, die verschiedenen Folge- und Begleiterscheinungen beachtet. Infolge der schweren psychischen Belastung durch die Krebserkrankung können psychische Störungen im Sinne einer Komorbidität auftreten. Ressourcen-orientierte Interventionen betrachten den ganzen Menschen mitsamt seinen Möglichkeiten, der Erkrankung zu begegnen. Auch das persönliche soziale Umfeld der betroffenen Person kann in diesen Prozess integriert werden.
Viele Kliniken bieten inzwischen komplementäre – also begleitende Verfahren zur Steigerung des Gesamtwohlbefindens an, beispielsweise meditative Verfahren, auch verschiedene Naturheilverfahren. Dadurch soll eine bessere Verträglichkeit der Therapien erreicht werden und das Gesamtwohlbefinden gesteigert werden. In Eigenregie angewandte komplementäre Verfahren und Behandlungen sollten stets nur nach Absprache und unter Berücksichtigung der Haupttherapie erfolgen. Manche „natürlichen“ Mittel oder Verfahren wirken sich kontraproduktiv aus. Dies kann beispielsweise bei der beliebten aber sehr umstrittenen „Misteltherapie“ der Fall sein. (http://www.krebsgesellschaft.de/onko-internetportal/basis-informationen-krebs/therapieformen/komplementaere-medizin-moeglichkeiten-und-grenzen.html)
Hamer behauptet - wie etliche andere Anbieter auch - eine ganz neue Methode gefunden zu haben. Oft heißt es, man teile das Schicksal anderer großer Entdecker, die zunächst verkannt wurden. Diese Methoden entbehren meist jeder Plausibilität und stützen sich stattdessen auf Wunschdenken und Heilungs-Anekdoten, sowie auf die Angst der Patienten. Die meisten Verschwörungstheorien zur Unterdrückung von genialen Therapien durch etwa die Pharmalobby sind leicht zu widerlegen. Ein Beispiel sei hier zitiert:
Bei der „Schulmedizin“ - besser: wissenschaftlich orientierten Medizin - wird die Wirksamkeit von Therapien mittels mehrerer wissenschaftlicher Studien genau überprüft. Dies garantiert keine Fehlerlosigkeit, bietet aber Transparenz und Nachvollziehbarkeit. So kann weitere Forschung auf gesicherten Erkenntnissen aufbauen und neue Verfahren entwickeln. Die wissenschaftliche Herangehensweise garantiert gerade die immer neue Suche nach den besten Antworten, auf welche Krankheit welche Therapie erfolgversprechend ist. Die Ärzte sind verpflichtet, nur überprüfte Behandlungsverfahren einzusetzen.
Die einfache Konstruktion der GNM, ihre angebliche Fähigkeit, Grund und Ablauf von Erkrankungen zu bestimmen, die Behauptung ihrer Naturgesetzlichkeit (und damit „Natürlichkeit“), die Hoffnung machenden Prognosen - all das sind Merkmale, welche für manche erkrankte und suchende Menschen einen Versuch wert sind. Das argumentativ in sich geschlossene System der GNM nimmt multikausalen medizinischen Problemen ihre Angst machende Komplexität. Auch medizinischen Laien wird ein sinnhafter, natürlicher Zusammenhang angeboten. Durch den Glauben an dieses System entzieht man sich einem Ausgeliefert-Sein an hochspezialisierte und technisierte Verfahren. Diese - auch prophylaktische - Verweigerung vermeidet die Abhängigkeit von teils unverständlichen und schmerzhaften Prozessen konventioneller Therapien. Die Verlagerung der Ursache in den psychologischen Bereich (Konfliktschock) scheint bereits mehr Handlungsfähigkeit zu ermöglichen. Was hier im Paket mit mehr Naturverbundenheit assoziiert wird, kann - mit dem Verzicht auf Schmerzmittel - ein grausames Sterben als zynische Konsequenz nach sich ziehen.
Etliche Menschen, die diesen Weg beschreiten sind dafür bereit, die kruden Aspekte der GNM, wie den Antisemitismus und die wirren Verschwörungstheorien auszublenden. Aufgrund der radikalen Frontstellungen der Ideologie bedeutet dies auch eine Selbstisolation nicht nur gegenüber dem etablierten Gesundheitssystem, sondern ebenso kritischen Angehörigen gegenüber. Die Bereitschaft, Unpassendes auszublenden gilt auch für manche der Anbieter, welche nach der GNM behandeln:
Für andere Verfechter sind es durchaus die verschwörungstheoretischen Anteile, welche die GNM interessant machen. Schließlich bedient deren theoretisches Gebäude ähnliche Muster und integriert zudem einige der vorhandenen Verschwörungstheorien bezüglich einer interessengeleiteten Medizin-Industrie. Die für Verschwörungstheorien empfängliche Klientel erlebt sich oft persönlich von einer komplexen Problemlage bedroht. Gleichgesinnte, die vermeintlich unterdrückte Erkenntnisse austauschen, sehen sich in der Pflicht, die bedrohte Wahrheit zu verteidigen. Die Gegner werden oft als übermächtig empfunden; sie sind die vermeintlichen Akteure und Profiteure einer bestimmten Problemlage („Lügenpresse“, „Pharmalobby“, oder schlicht „die Juden“). Wichtiger als der Nachweis der skandalösen Zusammenhänge scheint der Elite-bildende Besitz der „Wahrheit“ zu sein. Das Wissen um die Gründe der Welt-Misere im Allgemeinen und auch der eigenen Misere im Speziellen festigt wiederum das Gefühl, angesichts dieser Probleme nicht alleine zu sein. In solidarischer Protest-Gemeinschaft kann sich der einzeln Ohnmächtige als aktiver Wutbürger erleben.
Die nationalistischen, antisemitischen Vorstellungen Hamers erreichen schließlich Anhänger völkisch nationalistischer und rechtsextremer Gruppierungen. Die Eltern des anfangs erwähnten verstorbenen Kindes haben einen solchen Hintergrund:
Unter dem Titel „Gran terrorismo medicinale“ forderte im Jahr 2006 eine von 1724 Personen unterzeichnete Petition die bayerische Krebsgesellschaft auf,
2006 zählte die taz 60 „Stammtische“ der GNM in Deutschland (taz 30.01.2006, „der rechte rand - Germanisch gegen den Krebs“, http://www.taz.de/1/archiv/?dig=2006/ 01/30/a0080). Pilhar listet aktuell nur 21 regionale „Studienkreise“, genauere Ort- und Zeitangaben erfolgen meist erst auf Anfrage. Weitere Kreise sind wahrscheinlich. (https://www.germanische-heilkunde.at/files/website/downloads/Studienkreise.pdf) Pilhar bietet zudem einen Online-Studienkreis und „Webinare“ (Web-Seminare) zur GNM an. Darunter auch zu psychischen Erkrankungen. Weitere Anhänger bieten ebenfalls Seminare an.
Verbreitet wird Hamers GNM außerdem in vielen Internetforen für alternativmedizinisch Interessierte. Seine antisemitisch durchsetzten Verschwörungstheorien finden sich aber auch in einschlägigen Foren, die für Verschwörungstheorien und/ oder „rechts-esoterisches“ bzw. rechtsextremes Gedankengut bekannt sind:
Der Kopp Verlag bietet neben diversen Verschwörungstheorien und Erich von Dänikens Erkenntnissen zu Außerirdischen auch Informationen zu alternativen Therapien; darunter Bücher die Hamers Theorien verbreiten. (www.kopp-verlag.de)
Die sogenannte „Kent-Depesche“ („mehr wissen – besser leben“) widmet der GNM aktuell ein Sonderheft (März 2016). Sie wurde bereits wiederholt ausführlich vorgestellt. Sonstige Depeschen-Themen: die 9/11 Verschwörung, Impfkritik, sowie einige Scientology-nahe Themen wie z.B. Psychiatrie-Kritik. Der dahinter stehende Sabine Hinz Verlag vertreibt auch Scientology-Material. (www.sabinehinz.de)
Die „ZeitenSchrift“, welche der esoterischen Gruppierung „Universale Kirche“ zuzurechnen ist, widmet sich mehrfach diesem Thema. In Heft 13, dessen Vertrieb aufgrund volksverhetzender antisemitischer Aussagen des inzwischen verstorbenen Führers Leech Lewis in Deutschland verboten ist, wird auf das Schicksal der „entrechteten“ Familie Pilhar eingegangen. In Heft 32 wird die GNM als revolutionäre Medizin dargestellt. Weitere Themen: Illuminaten, Chemtrails, Elektosmog, MMS, theosophische Spiritualität. (www.zeitenschrift.de)
Eine gemeinsame Plattform von Anhängern verschiedenster Verschwörungs- und Außenseitertheorien ist die sogenannte „Anti-Zensur-Koalition“ (AZK), gegründet von Ivo Sasek, seinerseits Leiter einer fundamentalistisch-christlichen Gemeinschaft, der „Organischen Christus Generation“. Auch in fundamentalistischen Kreisen besteht in Teilen Anschlussfähigkeit zu Verschwörungstheorien und völkischen Themen. Bei der 2. Konferenz der AZK am 27.09.2008 wird die GNM ausführlich vorgestellt. Themen weiterer Konferenzen sind unter anderem die Leugnung von HIV/AIDS und des Holocaust. Zu Sasek, bzw. dem familiären Umfeld gehören auch die Internet-Video Formate „Medien-Klagemauer.TV“ sowie „Jugend-TV“ mit ähnlichen Themen für Kinder aufbereitet. Letzteres erfuhr 2014 Einschränkungen durch die Kommission für Jugendmedienschutz. Teile des Angebots sind nun erst ab 18 Jahren zugänglich. (www.klagemauer.tv, www.jugend-tv.net, www.anti-zensur.info)
Auch bei den esoterischen Internetsendern „bewusst.tv“ und „secret.tv“ war die GNM Thema. Die (inzwischen nicht mehr) Verantwortlichen Jo Conrad und Jan Udo Holey alias Jan van Helsing sind beide bekannt für ihre antisemitischen Äußerungen und verschwörungstheoretischen Ansichten. (www.bewusst.tv / www.secret.tv)
Stefan Lanka betreibt den Blog „wissenschafftplus.de“. Er ist Autor von „Impfen und AIDS: der neue Holocaust. Die deutsche Justiz ist dafür verantwortlich.“ (klein-klein-verlag, Stuttgart 2007) Er bezieht sich vielfach auf Hamer und bestreitet die Existenz von Viren; damit auch ihre Rolle als Krankheitsverursacher. Im Oktober 2015 erhielt Lanka den Preis "Das Goldene Brett vorm Kopf" für den “größten antiwissenschaftlichen Unsinn des Jahres”. Er wird verliehen von der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) und der Gesellschaft für kritisches Denken (GkD). Der Preis fürs Lebenswerk ging an den Impfgegner Dr. Rath, der zudem Krebs und Aids nur mit Vitaminen heilen will. (http://blog. gwup.net/2015/10/22/das-goldene-brett-2015-and-the-winner-is-stefan-lanka/).
Matthes Haug gilt als Aktivist in der Szene der „Kommissarischen Reichsregierungen“, die in der BRD keinen gültigen Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches erkennen wollen. Im April 2006 führte Haug ein Interview mit Hamer zu dessen Staats- und Völkerrechtstheorien. Haug bot Hamer an, für den Posten des Reichspräsidenten einer späteren Reichsregierung zu kandidieren. (https://www.psiram. com/ ge/index.php/Matthes_Haug) In einer solchen Gesellschaft soll nach Hamers Vorstellung natürlich die GNM zur Anwendung kommen. 2009 formuliert Hamer seine „Verfassung für einen Staat Germanien“. (http://drrykegeerdhamer.com/)
Gemessen daran, dass die nur in Auswahl genannten Multiplikatoren in ihren jeweiligen Szenen durchaus bekannte Größen darstellen, ist die Verbreitung von Hamer’s Thesen beachtlich. Hamer selbst beziffert seine Anhängerschaft mit 100.000. Angesichts der Vielfalt möglicher Interessenten erscheint eine solche Größenordnung nicht unwahrscheinlich. Von einer homogenen Anhängerschaft kann wie dargestellt nicht ausgegangen werden.
Für nicht wenige Kritiker scheint der Fall klar: Hamer sei schlicht krank, bzw. irre und die Gruppe eine gefährliche Sekte. Hamer wurde von verschiedenen Seiten beispielsweise Verfolgungswahn oder eine „wahnähnliche Gewissheit“ bescheinigt. Auch mitleidenden Angehörigen von erkrankten Anhängern der GNM mag sich die Frage stellen, inwieweit eine Entscheidung zu so einer gefährlichen „Therapie“ - bzw. das unbedingte Festhalten daran - ein Indiz für eine psychische Erkrankung darstellt. Diese Gedanken sind aus der Perspektive der Angehörigen verständlich. Sie hören von der trügerischen Hoffnung des Erkrankten, der sich vor der angeblich gefährlichen „Schulmedizin“ zu bewahren sucht. Die gut gemeinte Sorge und Kritik der Angehörigen wird mit Werbungsversuchen für die GNM und Verschwörungstheorien beantwortet. Auch ein Kontaktabbruch droht. Manche Angehörige müssen ein vermeidbares qualvolles Sterben miterleben.
Der Krankheitsbegriff führt leicht in die Irre. Anhänger der GNM erleben innerhalb ihrer Szene ein in sich zwar geschlossenes aber scheinbar schlüssiges Weltbild. Sie handeln berechenbar entsprechend ihren Überzeugungen und erfahren seitens anderer Anhänger Zuspruch und Verständnis. Selbst erkrankte Anhänger glauben sich auf dem rechten Weg, Zweifel werden von GNM-Anbietern zerstreut.
Die Kriterien für eine psychische Erkrankung sind nicht allein dadurch erfüllt, dass die Überzeugungen der Anhänger von einer gesellschaftlichen Norm abweichen. („Ist irrationales Denken „verrückt“? Jan Oude-Aost, Skeptiker 4/2015) Eine solche Norm wäre in einer pluralistischen Gesellschaft schwer formulierbar. Dass die GNM unwissenschaftlich ist, spielt hierbei ebenso wenig eine Rolle, wie bei manch anderem religiös begründeten Verhalten. Der fehlende kausale Zusammenhang zwischen der Erkrankung und den geglaubten Ursachen, sowie die Fehleinschätzung der Symptome einer fortschreitenden Erkrankung als Heilungszeichen, sind ebenfalls kein Nachweis für eine psychische Erkrankung.
Damit schwindet auch manche verzweifelte Hoffnung, einen erkrankten Angehörigen, der sich der GNM verschrieben hat, über eine Entmündigung zu retten. Die Verantwortung für die eigene Gesundheit muss ein erwachsener Mensch für sich selbst tragen. Anders sieht es bei einer drohenden Kindeswohlgefährdung aus, wie die Beispiele mit den Kindern zu Anfang zeigen; die Eltern wurden verurteilt. Eine rechtliche Beratung ist kritischen Angehörigen zu empfehlen, evtl. kommt auch eine Strafanzeige gegen den Anbieter nach § 5 des Heilpraktikergesetzes in Betracht:
Ein Arzt wiederum ist verpflichtet, grundsätzlich im Einklang mit wissenschaftlich gesicherten Methoden zu behandeln. Dies tat Hamer nicht; ihm wurde die Approbation entzogen.
Die Anhängerschaft Hamers, insbesondere der engere Kreis, lässt sehr wohl konfliktträchtige Merkmale erkennen, die sich auch bei vielen problematischen Gruppen oder sogenannten Sekten finden lassen. So zum Beispiel der Umgang mit äußerer Kritik: Jegliche Kritik an der Methode wird als Angriff auf die Gründer-Person Hamer und damit auf die Gemeinschaft gesehen. Die Verschwörung von Ärzten, Pharmalobby, „den Juden“ suche die Wahrheit zu unterdrücken und verfolge Hamer und seine Anhänger. Diese Verfolgung beweise wiederum die Wahrheit der von der Gruppe geglaubten Theorien. Daher sei der aufrechte Widerstand der treuen Verfechter der GNM gegenüber der feindlichen Außenwelt, bzw. der dämonisierten Gegnerschaft vonnöten. Die Unantastbarkeit von Hamers Lehre und seiner Person erreicht Guru-hafte Züge. Eine umfassende Weltdeutung, eine religiöse Lehre oder weitere Verhaltens-Richtlinien existieren hingegen nicht.
Die Vorstellung von der einfachen Natürlichkeit der GNM ist ein Identitäts-stiftendes Gegensatzkonstrukt zu einer der Natur scheinbar entfremdeten Medizin-Maschinerie. Die in ähnlicher Formulierung vielfach in der alternativ-therapeutischen Szene anzutreffende Vorstellung entartet bei Hamer allerdings zu einer antisemitischen Blut und Boden Ideologie.
Auch erkrankte Menschen, die zunächst nur von einer scheinbar schlüssigen Erklärung ihrer Krankheit und der trügerischen Hoffnung angezogen wurden, können sich dauerhaft nur schwer dem verschwörungstheoretischen Sog der GNM entziehen:
Diese Selbstimmunisierung und die drohende Isolierung vom bisherigen sozialen Netz sind Aspekte, wie sie auch bei konfliktträchtigen Gemeinschaften erlebbar sind.
Gerade im Hinblick auf wachsende Zahlen zum Heiler-Bereich und zu Verschwörungstheorien in der Beratungs- und Aufklärungsarbeit ist die Aufklärung über die GNM wichtig. Da sie Zugangsmöglichkeiten über die alternativmedizinische, als auch über die verschwörungstheoretische Schiene bietet, ist auch eine Beobachtung der weiteren Entwicklung der GNM und ihrer Protagonisten notwendig.
Die „Germanische Neuen Medizin“ oder „Germanische Heilkunde“ von Herrn Hamer entbehrt jeglicher wissenschaftlicher Grundlage. Stattdessen schürt sie Angst vor den Möglichkeiten einer wissenschaftlich orientierten Medizin und immunisiert sich gegen begründete Kritik. Obwohl ihre zugrundeliegenden Theorien widerlegt sind bleibt die Lehre einem verschwörungstheoretisch begründeten Weltbild verhaftet. In diesen Punkten ähnelt ein Teil der Anhängerschaft in Lehre und Verhalten einer konfliktträchtigen Gemeinschaft. Es sind mehrere Todesfälle von ausschließlich im Sinne der GNM behandelten Menschen belegt, die unter medizinischer Behandlung eine realistische Heilungschance besessen hätten. Daher ist die „Germanische Neue Medizin“ schlicht als äußerst gefährlich zu bezeichnen. Rechtliche Schritte sollten geprüft werden.
Siehe auch den Erfahrungsbericht: Mein Vater, ein Opfer der "Germanischen Neuen Medizin"
Zum Themenfeld Krebs bietet der Krebsinformationsdienst (KID) des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg einen kostenlosen, neutralen und vertraulichen Informationsservice. Das Angebot richtet sich an Patienten, Interessierte und Fachpersonal: 0800 420 30 40 - https://www.krebsinformationsdienst.de/
Hingewiesen sei auch auf die Checkliste zur Beurteilung alternativer Heilangebote auf unserer Webseite. Einige kritische Aspekte treffen hier zu: unrealistische Versprechungen, Ablehnung der Schulmedizin, Guru-Status des Therapeuten.