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Erfahrungsbericht: Kann Spiritualität heilen? Meine Suche nach der Wahrheit.

Nach über 20 Berufsjahren war ich erschöpft und müde. Mein Enthusiasmus war verflogen und ich suchte nach einem neuen Sinn in meiner Arbeit. Die Zusammenhänge zwischen Körper, Geist und Seele faszinierten mich. Daher absolvierte ich Weiterbildungen auf naturheilkundlichem Gebiet, studierte ein östliches ganzheitliches Behandlungssystem und integrierte die erlernten Methoden in meinen Alltag. Ich praktizierte Yoga und übte mich in Meditation. Neben den medizinischen Aspekten interessierten mich auch die spirituellen Praktiken.

Eine Kollegin lud mich wenig später zu einer Veranstaltung eines Heilers ein. Im Anschluss wurde ich ihm persönlich vorgestellt und er bestätigte mich in wenigen Sätzen in meinen tiefsten Wünschen nach Heilung. So buchte ich für seinen nächsten Aufenthalt in meiner Heimatstadt einen persönlichen Heiltermin. Er legte mir in dieser Behandlungsstunde meine eigenen Probleme glaubhaft offen, ohne mich näher zu kennen. Das beeindruckte mich. Gleichzeitig erklärte er, dass eine tiefe, alte karmische Beziehung zwischen ihm und mir bestehen würde.

Ich las seine Bücher und fand mich in meinen eigenen ethischen Werten durch diese Lehre bestätigt. Das unbekannte Überirdische war mir fremd und ich war neugierig darauf, es zu erforschen. So besuchte ich die ersten Seminare. Ich wurde mit sogenannter Prozessarbeit konfrontiert und wollte mehr darüber und über das geistige Heilen erfahren.

Schon kurz nach den ersten Seminaren begann ich die Ausbildung zum „Therapeuten“. Das erste Jahr der Ausbildung umfasst die Selbsterfahrung und im zweiten Jahr wurden zunehmend Techniken des geistigen Heilens vermittelt. Jede Ausbildungsveranstaltung bestand aus einem theoretischen Teil, praktischen Übungen und Heilreisen. Es gab Skripte zum Nachlesen, eine Zwischenprüfung und eine Abschlussprüfung. In dieser Examensarbeit sollten die Schüler ihre persönlichen Erfahrungen auf dem Ausbildungsweg niederschreiben.

Der theoretische Unterricht umfasste die Betrachtungsweise zu allen wichtigen Lebensthemen wie Partnerschaft, Familie, Krankheit etc. Stets erfolgte ein Bezug zu den nächsten spirituellen Stufen, aus dem man sehen konnte, wo sich ein Mensch in seiner Entwicklung befand. Wir fanden das großartig und klar.

Über praktische Übungen erforschten wir unsere Medialität, indem wir beispielsweise erkannten, welche Gegenstände sich in einer verschlossenen Box befanden, Gedanken von einem Raum in den anderen schickten, uns gegenseitig geistig berührten und dies spürten. In diesen Dingen war ich anscheinend „sehr begabt“ und machte schnelle Fortschritte. Der „spirituelle Leiter“ eröffnete mir, dass es meine Berufung wäre, ein Channel-Medium zu sein.

Während der Heilreisen wurden wir ähnlich einer Heilhypnose an Orte geführt, an denen wir den theoretisch besprochenen Themen des Ausbildungswochenendes begegneten. So unternahmen wir Reisen durch unsere embryonale Zeit und Geburt bis zur Gegenwart, oder wir reisten mit unserem Geist zu unserem galaktischen Ursprung. Wir konnten Familienangehörigen und Ahnen begegnen und ungelöste Probleme betrachten.

Die Reisen wurden von emotionalisierenden Musikstücken begleitet. Ich sah meist bunte Farben und spürte Entspannung und Freude. Andere Schüler weinten und schrien. Sie wurden dann vom spirituellen Leiter durch Handauflegen und Anweisungen begleitet. Mitunter leistete die ganze Gruppe energetischen Beistand und schickte angeblich heilende Energie über die Hände zum Betroffenen. Nach den Heilreisen gab es die Möglichkeit, sich in der Gruppe auszutauschen. An den Abenden nach der Ausbildung konnte man sich auch für ein Privatgespräch beim Leiter vormerken lassen.

Besonders in der Technik der Energieübertragung sollte ich begabt sein und so wurde ich schnell zur Assistentin während der Seminare. Während der Ausbildung gab es eine Reihe von Anwendungen, die wir in den Alltag integrieren sollten. Dazu gehörte die tägliche Meditation morgens und abends, eine tägliche Aurareinigung, sowie die Segnung der Welt im Namen des spirituellen Leiters. Wir erhielten täglich Weisheiten und Übungen zur Meditation.

Zusätzlich zu den Ausbildungen fanden an einem Abend in der Woche gemeinsame Meditationen statt. An diesen Abenden wurde zunächst ein Thema wie zum Beispiel Dankbarkeit besprochen und nach der Philosophie des Leiters neu erklärt. Nach den theoretischen Ausführungen fand eine Heilmeditation statt, in der jeder Anwesende eine heilende Berührung von ihm erhielt. Wir lagen oder saßen und er ging durch den Raum. Dazu wurde immer das gleiche Musikstück gespielt. Ich geriet mehr und mehr in tranceartige Zustände, da ich mich geistig voll und ganz auf das Thema Heilung einlassen konnte. Dies war zu jener Zeit für mich ein weiterer Beweis für meine ausgeprägte Medialität.

Nach der Meditation konnte man dem Leiter eine Frage stellen, die dann öffentlich beantwortet wurde. Die ausführliche Beantwortung unter Bezugnahme auf intime Details coram publico empfand ich von je her als grenzüberschreitend und hätte niemals eine ernsthafte persönliche Frage gestellt. Im Laufe der Jahre wurden diese Abende immer länger. Ein engerer Kreis von Vertrauten verblieb regelmäßig bis zum Ende. Schluss war, wenn der spirituelle Leiter aufstand und ging. Wer im Institut vorwärtskommen wollte, hatte zu bleiben. Darauf wurde ich hingewiesen, weil ich anfangs direkt nach der Meditation nach Hause ging. Ich war nach dem langen Abend müde. Die Hinweise kamen in der Regel jedoch nicht vom Leiter selbst, sondern von anderen Teilnehmern, die sehr eng mit ihm verbunden waren. Das war seine Methode. Wenn ich solche Hinweise bei ihm selbst hinterfragt habe, bekam ich keine konkrete Antwort. Was blieb, war Ungewissheit und Unsicherheit.

Doch ich glaubte an eine tiefe Verbindung zwischen uns, seine Weisheit und Güte und daran, dass er mich auf allen Schritten in meinem Alltag begleiten würde. Nach einigen Monaten kam ich dann auch in den engeren Kreis der Schüler. Ich bekam eine persönliche Aufgabe, die ich gern und mit Hingabe ausführte. Mein Wunsch war es, an einem „Haus der Heilung“ zu wirken und zu arbeiten. So engagierte ich mich mit Freude und Enthusiasmus.

Während meiner Ausbildung nahm ich an Gruppenreisen teil. Die Veranstaltung während meiner ersten Reise begann vor dem Sonnenaufgang mit der Morgenmeditation und ging bis in die frühen Morgenstunden des nächsten Tages. Es gab Erholungspausen, aber der Nachtschlaf betrug während der gesamten Woche 3-4 Stunden täglich. Niemand hat einen gezwungen, bis zum Ende sitzen zu bleiben. Der Gruppendruck und die Angst etwas Wichtiges zu verpassen, waren jedoch groß. Der Leiter machte immer wieder Anspielungen auf Äußerungen, die er zu später Stunde gemacht hatte. Also blieben die meisten von uns, um am nächsten Tag nicht blöd dazustehen.

Neben den gewohnten theoretischen Unterweisungen und Heilmeditationen gab es Bewegungsmediationen zu Musik und die ersten großen Aufstellungen. Ziel der Aufstellungen war es, blockierende Lebensthemen bewusst zu machen und zu lösen. Dazu wurden neben den üblichen Personen und Aspekten, die auch aus einer systemischen Aufstellung bekannt sind, auch übergeordnete Werte wie Liebe, Harmonie und Frieden aufgestellt. Dadurch sollte ein Energiefeld erzeugt werden, das Transformation erlaubt. Die Suche nach der Ursache erstreckte sich angeblich über alle Inkarnationen. Diese Aufstellungen dauerten oftmals über 6 Stunden, hatten in der Regel über 10 Teilnehmer und verliefen emotional sehr aufreibend. Es sollte nicht allein der Überblick über die Situation gewonnen werden, sondern gleichzeitig die Ursache gesehen werden und schließlich die Transformation des Problems durchgeführt werden. Es kam fast regelmäßig zu übergriffigen Situationen, z.T. mit körperlichen Angriffen.

Nach stundenlangem Stehen und psychischer Anspannung waren in der Regel alle Beteiligten erschöpft. Insofern waren Freude und Erleichterung nach jeder Aufstellung echt und dem Ende der Anspannung zuzuschreiben. An den folgenden Tagen war der Klient jedoch oft verstört. Es ist wichtig zu erwähnen, dass die Aufstellungen ohne eine psychologische oder psychotherapeutische Ausbildung geleitet wurden.

Ungelöste oder halbgelöste Themen und Probleme sollten die Schüler mit Hilfe der Therapeuten weiter heilen. Diese Therapeuten waren ebenfalls Schüler, zum Teil mit unterschiedlicher medizinischer Vorbildung. Auffällig war mir, dass in den Einzelsitzungen immer öfter Reinkarnationsthemen mit schuldhafter Verstrickung und angeblichem sexuellen Missbrauch, teilweise auch aus früheren Inkarnationen „entdeckt“ wurden. Heilsuchende wurden von schulmedizinischen Therapien abgehalten und stattdessen mit nicht evaluierten unwissenschaftlichen Methoden rein alternativ behandelt.

Dieses Thema ist sehr heikel und schwer nachweisbar. Die Empfehlung wurde nie gegen eine medizinische Behandlung ausgesprochen. Subtil wurde jedoch darauf verwiesen, dass unser spiritueller Leiter heilen würde und nicht der Arzt. Insbesondere Menschen, die Angst vor den Folgen einer medizinischen Behandlung hatten, gingen dann den Weg, der ihnen von den Therapeuten empfohlen wurde. Ich bin nicht der Meinung, dass die Verantwortung der Entscheidung hierfür allein beim Hilfesuchenden liegen kann nach dem Motto: „Er wollte doch eine alternative Behandlung.“

Immer deutlicher wurde, dass wir Schüler die Unterstützer und Verbreiter der einzigen, neuartigen Lehre unseres Leiters für die Welt werden sollten. Die Gruppenreisen führten auf unterschiedliche Kontinente. Von Reise zu Reise wurde die Gruppe der mitreisenden Schüler größer. Dies war auch so gewünscht, um in den Meditationen eine höhere Wirksamkeit zu erreichen. Gleichzeitig stieg der Druck für jeden Einzelnen, diese Reisen zu finanzieren. Teil der Vision war es, dass irgendwann Menschen für unsere Meditationsarbeit Geld spenden würden. Innerhalb der Gruppe kursierten auch immer wieder konkrete Namen. Wir versuchten, mit diesen Personen und Organisationen Kontakt aufzunehmen. Da ich diese Praxis angezweifelt hatte, wurde ich nicht mehr mit solchen Aufgaben betraut. Auch innerhalb der Gruppe gab es vermögende und nicht vermögende Mitglieder. Die vermögenden Schüler wurden nachhaltig und immer wieder erneut aufgefordert, größere Summen zu spenden. Dies war mir persönlich sehr unangenehm und entsprach in keiner Weise meinen Vorstellungen von Spiritualität. Ich begann darüber nachzudenken, ob ich in dieser Gruppe bleiben wollte.

Über die Auswirkungen der angewandten Methoden zur Heilung bekam ich erst nach einiger Zeit Klarheit. Während eines Seminars geriet eine junge Frau, die zum ersten Mal dabei war, in einen psychotischen Zustand. Sie riss sich nach einer Meditation die Kleider vom Körper und sprach in unverständlichen Sätzen zur Gruppe, was einige der Anwesenden stark verängstigte. Sie war 3 Tage später immer noch verwirrt und bedurfte meiner Betreuung. Die Tage davor hatten mir gezeigt, dass niemand in der Gruppe, diese Situation managen konnte. Der Vorfall wurde vom spirituellen Leiter dahingehend umgedeutet, dass durch dieses Ereignis nun verhindert werde, dass dem Kind der jungen Frau durch ihr eigenes Zutun etwas Schlimmes widerfahren würde. Die vollkommen verwirrte Frau bestätigte dies vor der Gruppe. Es war schrecklich für mich. Ich wollte schreien und um mich schlagen, doch jeglicher Laut blieb mir im Halse stecken. Ich war entsetzt über mich, dass ich selbst so verwirrt war und nicht durchschauen konnte, was hier ablief.

Erst einige Wochen nach meinem Ausscheiden wurde mir mehr und mehr klar, dass es sich um eine sektenähnliche Gruppe handelt. Zeitnah wurde ich mehrfach zu einer Aussprache mit der Gruppe aufgefordert, teilweise auch in einer sehr einschüchternden Art und Weise. Im Laufe der jahrelangen Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft hatte sich mein Lebensumfeld stark eingeschränkt. Immer wieder hatte ich andere Interessen aufgegeben und mich schließlich privat und beruflich ganz auf die Gemeinschaft beschränkt. Zunehmend fand ich mit meinen Ideen und auch mit meiner Sprache kein Verständnis mehr in der realen Welt. Der Dauerstress in der Gruppe hatte mich abgestumpft. Ich befand mich in einem Zustand der Resignation und folgte allein den Worten des Leiters, aus Angst angegriffen zu werden. Das einzige Highlight in meinem Leben waren die Zuwendungen und Begegnungen mit ihm. Ich hatte meine Vergangenheit komplett umgedeutet, um eine Sinnhaftigkeit in diesem Leben als Schüler zu sehen.

Persönliche Schädigung begleitet mich noch immer in Form von Flashbacks, Träumen und einer erhöhten Stressbelastung. Mein Rückweg in ein geregeltes Arbeits- und Alltagsleben verläuft Schritt für Schritt. Jetzt - fast 2 Jahre später - wird mir das Ausmaß des Missbrauchs meiner Liebe und meines Vertrauens, meiner ethischen Werte, Wünsche und Visionen bewusst. Ich sehe es als meine Aufgabe, über das Erlebte aufzuklären, damit Menschen Erfahrungsberichte finden, die übergriffiges Verhalten in solchen Gemeinschaften aufzeigen.