Beratung und Information zu neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen
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Erfahrungsbericht: Wie „hellsichtige“ Wesen Familien entzweien

Die Vorgeschichte

Ich bin in unproblematischen Familienverhältnissen mit zwei Geschwistern groß geworden. Wir lebten in einem Dorf und wir Geschwister machten unseren Lebensweg ohne größere Komplikationen. Wir hatten untereinander immer ein offenes und harmonisches Verhältnis. Zu vielen Gelegenheiten haben wir uns getroffen und zusammen Zeit verbracht, auch mit unseren Familien.

Mein Bruder lebte mit seiner Partnerin und seinen beiden Kindern Jonas und Johanna weiter entfernt in einem Mehrfamilienhaus zusammen mit ihren Eltern. Er arbeitete schon sehr lange als Ingenieur in einem Büro. Er war sportlich, interessierte sich für Oldtimer und seine Familie war ihm wichtig. Sozial war er gut vernetzt. Er und seine Partnerin hatten einen großen Freundes- und Bekanntenkreis. Er war der Alltagsesoterik gegenüber sehr aufgeschlossen. Wegen gesundheitlicher Probleme suchte er auch Hilfe in der Alternativmedizin. Mit der schulmedizinischen Behandlung seiner Beschwerden war er oft nicht zufrieden.

Veränderung

Irgendwann bemerkte ich, dass er häufig alleine zu Treffen kam. Mit der Zeit zeigte auch er selbst sich seltener. Ebenso begann er Besuche mit fragwürdigen Begründungen abzulehnen. Wir telefonierten kaum noch, gelegentlich schrieben wir uns Nachrichten. Auch bei meinen Eltern und meiner Schwester meldete er sich sehr selten.

Natürlich machte ich mir zu diesem Zeitpunkt schon Gedanken, was mit ihm los ist, allerdings sprach ich ihn nie direkt darauf an. Ich fand sein Verhalten sehr seltsam, ließ ihm aber seinen Frieden, weil ich einen Konflikt vermeiden wollte. Seine Kinder hielten den Kontakt zu uns, besonders Johanna schien das sehr wichtig. Deshalb kam es zu seltsamen Situationen, wie z.B., dass die Geschwister alleine mit dem Zug an Weihnachten zu meinen Eltern kamen. Offensichtlich hatten die Kinder das alleine geregelt, denn uns fiel auf, dass sie nicht witterungsfest gekleidet waren.

Durch die Erzählungen der Beiden bekam ich mit der Zeit ein paar Informationen aus ihrem Zuhause. Ich erfuhr, dass die Eltern häufig nach Nordrhein-Westfalen fuhren und sich dort mit Freunden trafen. Zudem aßen sie nur noch vegan und trugen dunkle Kleidung. Die Kinder ließen sie oft alleine. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich fast gar keinen Kontakt mehr zu meinem Bruder. Ich mutmaßte schon länger, dass die Beiden offensichtlich einer spirituellen Gemeinschaft angehören. Das ganze Ausmaß zu verstehen, dazu war ich gar nicht in der Lage, obwohl aufgrund der wenigen Informationen und Erlebnisse, die ich hatte, dies schon möglich gewesen wäre. Es überstieg einfach nur meine Vorstellungskraft.

Eskalation

Nach einer langen Zeit ohne jeglichen Kontakt meldete sich mein Bruder bei meinen Eltern und fragte, ob Johanna ein paar Tage zu ihnen kommen könnte. Wegen Corona waren sie unsicher und so schlug ich meinem Bruder vor, Johanna solle zu mir kommen. Nach einem Test würden wir dann zusammen zu meinen Eltern fahren. Er bedankte sich bei mir und nahm das Angebot an.

Als Johanna dann bei uns war, vermied ich es, ihr Fragen über ihre Eltern zu stellen. Allerdings ergaben sich aus dem Gespräch heraus viele seltsame Dinge. Johanna erzählte mir, dass ihr volljähriger Bruder Jonas nicht mehr daheim sei und sie nicht wüsste, wo er ist. Jonas sei nach einem Streit mit seinem Vater mit ihm zusammen weggefahren und nach einem Tag mit kurz geschorenen Haaren wiedergekommen. Dann sei er wieder fortgefahren und nicht mehr aufgetaucht. Seitdem sei er nicht mehr zu erreichen. Ihre Eltern gaben ihr auch keine Informationen über den Verbleib ihres Bruders. Das beschäftigte sie sehr. Auf meine Nachfragen erklärte Johanna mir, dass ihre Eltern irgendwas „schamanisches“ machen. Am Wochenende wäre sie meist alleine, da sie sich mit Freunden in Nordrhein-Westfalen treffen. Sie wollten sie auch schon mitnehmen, sie wollte aber nicht. Auch daraufhin habe ich noch keinen Kontakt zu meinem Bruder gesucht.

In der Zwischenzeit hatten meine Eltern wieder Kontakt mit meinem Bruder. Er fragte sie, ob sie Johanna nicht dauerhaft bei sich aufnehmen könnten, da sie so schwierig sei. Er hätte auch Kontakt mit dem Jugendamt und Johanna käme wahrscheinlich in eine Pflegefamilie.

Die Zeit bei uns war unkompliziert. Nach dem Besuch bei uns blieb Johanna bei meinen Eltern und sollte nach einer Woche wieder nach Hause fahren. In der Familie wunderten wir uns sehr über die Geschichte mit dem Jugendamt und der Pflegefamilie. Wir konnten nicht nachvollziehen, was am Umgang mit Johanna schwierig sein sollte. Daraufhin beschloss meine Schwester den Kontakt zu suchen, um zu wissen, was bei ihnen los sei. In diesem Gespräch wurde sie dann lediglich auch gefragt, ob sie Johanna bei sich aufnehmen könne. Zum Verbleib des vermissten Bruders äußerten sie sich nicht. Daraufhin machte ich eine Abfrage beim Einwohnermeldeamt. So erfuhr ich von der neuen Meldeadresse. Damit erhärtete sich mein Verdacht einer sektenartigen Gruppe, wobei mir nach wie vor die Vorstellungskraft für das ganze Ausmaß fehlte.

Zum vereinbarten Ende des Besuchs wurde Johanna nicht abgeholt. Der Termin verschob sich immer weiter nach hinten, da offensichtlich niemand bei ihnen zu Hause war.

Daraufhin habe ich dann selbst mit meinem Bruder telefoniert und ihn zur Rede gestellt. Ein normaler Dialog war schon nicht mehr möglich. Er erklärte mir, sie seien Mitglied in einer spirituellen Gemeinschaft und versuchten im Einklang mit Mutter Erde zu leben. Konkrete Antworten gab er keine, nur noch Floskeln und Gegenfragen. Das hatte mit meinem Bruder nicht mehr viel gemein. Ich war wirklich schockiert, ob des Geschwurbels.

Da wir uns große Sorgen um die beiden Kinder machten, haben wir dann beim Jugendamt angerufen, weil wir gerne den Kontakt zu Johanna halten wollten. Das war der entscheidende Schritt, der dann zur Eskalation führte.

Das Jugendamt war froh, Kontakt zu Johannas Verwandten zu bekommen. Auch das Jugendamt hatte Sorgen im Hinblick auf das Kindeswohl. Es lagen Erkenntnisse vor, dass die Eltern von Johanna sehr stark in die Praxis einer Glaubensgemeinschaft einbezogen waren. Es gäbe Videos im Internet, in denen beide zu sehen seien und sie sich unter anderem als außerirdische Wesen ausgaben.

„Wahrheit“

Daraufhin schaute ich mir die Videos an. Darin behauptete mein Bruder, er sei ein Krieger von einem anderen Planeten. Man hätte ihm das gezeigt, nachdem er jahrelang auf der Suche war. Sie sprachen von der dunklen Seite, welche die Menschen beeinflusst. Sie würden in einer Matrix leben. Die Menschen seien schwach und würden durch die dunklen Mächte wie Marionetten gelenkt. Deshalb wären auch menschliches Verhalten, Denken und Gefühle dunkel und böse. Ziel sei es, sich gegen diese dunklen Einflüsse zu wehren. Daraus folgerte ich, dass dies dann auch den Kontakt zu seiner Familie und sogar zur eigenen Tochter betreffen müsste. Ich war schockiert.

So kam für uns in kürzester Zeit das gesamte Ausmaß ans Licht. Damit überschlugen sich dann die Ereignisse. Ich entschied mich mit meiner Frau, Johanna erst einmal bei uns aufzunehmen. Das Jugendamt konnte daraufhin alles organisieren. Zeitgleich versuchten wir etwas über Jonas herauszufinden. Jetzt auf einmal schien nichts mehr ausgeschlossen. Wir waren in kürzester Zeit mit Dingen konfrontiert, die für mich vor wenigen Wochen noch unvorstellbar waren. So wie ich mir vorher viele Dinge nicht vorstellen konnte, so schloss ich jetzt nichts mehr aus. Wir setzten uns mit dem für den Bezirk zuständigen Polizeibeamten in Verbindung. Wir fragten, ob er mal an der gemeldeten Adresse nach Jonas fragen kann. Ihm wurde an der Tür versichert, dass er da wohnt, aber angetroffen wurde er nicht.

In dieser Zeit rief mein Bruder mich an und teilte mir mit, er habe nun einen neuen spirituellen Namen. Das wurde von seiner Lebensgefährtin bestätigt, auch sie wollte nicht mehr mit ihrem Geburtsnamen angesprochen werden. Sie trage nun den Namen der Wesenheit, der „Mensch“ sei von der Dunkelheit beeinflusst und müsse „klein gehalten“ werden. Er warf mir vor, ich würde die hellsichtigen Anführer seiner Gemeinschaft schlecht machen. Danach legte er auf. Das waren für lange Zeit die letzten Worte, die ich von ihm gehört habe. Wir hatten danach lediglich vereinzelt Kontakt über Textnachrichten.

Der „Ist“- Zustand

Meine gesamte Familie hat keinen Kontakt mehr zu ihm, der Lebensgefährtin und dem ältesten Sohn. Johannas Eltern haben sich in der ganzen Zeit, in der sie bei uns wohnte, nicht bei ihr gemeldet. Sie hat sich bei uns gut stabilisiert und so konnte sie dann mittlerweile in eine Wohngruppe einziehen.

Da die Eltern der Lebensgefährtin im selben Mehrfamilienhaus wohnten, haben sie das ganze am eigenen Leib noch näher mitbekommen als wir. Ihre Geschichte ist ein eigener Beitrag wert. Die beiden sind jenseits der 80 und haben nur diese eine Tochter. Sie haben außer rein organisatorischer Dinge ebenfalls keinen Kontakt zu ihrer Tochter und dem ältesten Enkelkind.