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Mein Leben bei den Zeugen Jehovas und danach – Ein Erfahrungsbericht

Früher dachte ich, die Zeugen Jehovas sind doch diese merkwürdigen Leute, die am Straßenrand stehen, eine Zeitschrift vor sich halten und kein Weihnachten feiern. Sehr suspekt schienen mir die. Ja, ich gebe zu, dass ich mir Ausflüchte einfallen ließ, wenn sie an meiner Haustür standen, um nicht mit ihnen über Gott und die Welt reden zu müssen. Ich war katholisch, hatte immer wieder Verständnisfragen über Glaubensansichten, aber ich scheiterte an der schwer verstehbaren Bibel, und auch mein Pfarrer war irgendwie ständig unerreichbar. Deshalb blieben mir eine ganze Reihe religiöser Fragen viele Jahre unbeantwortet. Mitte der 2000er Jahre lernte ich meine spätere Frau kennen. Ich war damals Mitte dreißig, wohnte am Rand des Ruhrgebietes und hatte einen sehr guten Kontakt zu meiner Schwester und Mutter. Mein Gesichtsausdruck muss irgendwo zwischen Schockstarre und Verwunderung gelegen haben, als mir meine Freundin „beichtete", dass sie eine Zeugin Jehovas ist. Ich hätte es nicht übers Herz gebracht, in diesem Moment meine Beziehung zu ihr abzubrechen. Vielmehr wollte ich uns trotz ihres Glaubens eine Chance geben, und ich wurde ziemlich neugierig auf ihre Religion. Wir unterhielten uns deshalb oft über die Bibel. Ich beschrieb sie gern als „Ahaaaa Erlebnisse", wenn mir immer wieder ein Licht aufging, auf welche nie beantworteten Fragen mir sehr einleuchtend einfache Antworten gegeben wurden. Auch der erste Besuch einer Zusammenkunft im Königreichssaal hatte mich sehr fasziniert. Ich ging nicht in der Masse von anonymen Katholiken in einer kalten, von Zeremonien/Liturgien geprägten und inhaltsarmen Messfeier in meiner Heimatgemeinde unter. Im Gegenteil. Diese Schlichtheit des Saales sprang mir sofort ins Gesicht, freundliche warmherzige Menschen begrüßten mich, und ich fühlte mich sofort wohl. Hier wurde mir schnell klar, dass die Bibel im Mittelpunkt steht und nichts anderes.
 
Der Gemeinschaftsentzug meiner Freundin und der unterlassene Kontakt der Zeugen zu ihr im Jahr unseres Kennenlernens machte mich traurig. Dass diese „liebevolle Vorkehrung" von Jehova gewollt und deshalb legitim sei, musste ich hinnehmen und ich war bereit dazu. Ein stutziger oder gar kritischer Mensch bin ich dadurch aber nicht geworden. Und auch meine Freundin war traurig, aber einverstanden mit der Kontaktsperre, auch wenn die Besuche der Versammlung immer wieder ein Kraftakt waren. Ungeachtet dessen studierte ich mit einem Zeugen das Buch „was lehrt die Bibel wirklich“ sowie ein weiteres Buch. Einige Jahre später überschlugen sich dann die Ereignisse. Wir heirateten, meine inzwischen Ehefrau wurde wieder aufgenommen, und ich ließ mich taufen. Was folgte, waren zunächst vier glückliche und zufriedene Jahre als Zeugen-Ehepaar.    
 
In dieser Zeit hatte ich nur ein einziges negatives Erlebnis. Der Kreisaufseher untersagte mir, unseren kleinen Sohn Tischgebete für uns halten zu lassen. Die Begründung aus der Bibel war mir sehr dürftig, und ich konnte dieses Verbot nicht mit einem Kinder liebenden Gott verknüpfen. Wir hatten in unserer Versammlung einen geistig behinderten Mann, der mit seinen Eltern so gut es ging am Leben der Zeugen teilnahm. Es war jedem klar, dass er sich nie taufen lassen konnte. Und genau hier kamen mir Zweifel auf, ich dachte, er würde in Armageddon umkommen, weil er kein Zeuge Jehovas ist. Das passte für mich nicht zu einem liebevollen gerechten Gott. Das war einfach zu widersprüchlich für mich.    
 
Meine Trennung von den Zeugen Jehovas geschah „auf Raten". Ich spürte einen immer größeren Druck, noch mehr zu leisten, noch aktiver zu sein. Gleichzeitig stiegen die Anforderungen an meinem Arbeitsplatz, und meine Familie raubte mir viel Kraft. Ich bekam stärker werdende Depressionen, Angst und Panikattacken. Die Mitbrüder gingen durch mein schwä-chelndes Engagement sehr auf Distanz. Und wenn sie mir Ratschläge gaben, dann sollte ich genau das verstärkt tun, was ich nicht mehr konnte. War es nicht so, dass im Buch Matthäus die Kranken eines Arztes bedürfen und nicht die Starken? Ich dachte mir, hier kann etwas nicht stimmen. Die viel zitierte Liebe Jehovas passte immer weniger zu den Lehren und dem Handeln der Zeugen. Der Tiefpunkt meines Lebens war dann die Psychiatrie.    
 
Was dann kam, war ein zwei monatiger riesiger Knall. Ich verliebte mich in eine Nicht-Zeugin, wir hatten einen intensiven Kontakt, ich trennte mich von meiner Frau, ging vor ein Rechtskomitee, welches mir wie ein Verhör mit viel zu intimsten Fragen vorkam, und ich wurde (zum Glück) ausgeschlossen. Ich erinnere mich noch gut, wie ich den Königreichssaal - in dem das Rechtskomitee stattfand - verließ, als ob ich eine unsagbar schwere Last von meinen Schultern im Saal lassen konnte. Danach hatte ich einen extrem langen Krankenschein, und von diesem Moment an ging mein Leben bis auf einige Rückschläge steil bergauf. In den ersten Wochen herrschte ein Gefühls- und Gedankenkarussell in mir. Mich plagte der Gedanke, dass ich jetzt ganz sicher in Armageddon vernichtet werde und grausamste Qualen zu erleiden habe. Ich beging Verrat an Jehova und empfand mich verabscheuungswürdiger als einen Ungläubigen. Und dennoch war ich gleichzeitig sehr erleichtert, dieses Rundum Programm der Zeugen nicht mehr leisten zu müssen. Der Druck am Arbeitsplatz und der Druck, den Anforderungen der Wachtturm Gesellschaft gerecht zu werden, war schlagartig weg. Dann wiederum hatte ich Angst, früheren Glaubensbrüdern zu begegnen, die ihren Kopf wegdrehen. Ich mied solche Orte. Ich fühlte mich frei und gleichzeitig bestraft. Mit meinem Umzug in eine andere Stadt ging es mir zunehmend besser. Die Angst, ehemals befreundeten Zeugen zu begegnen, verschwand, neue Kontakte baute ich sehr langsam auf, eine Psychotherapie stärkte mich, und Monat für Monat verlor ich mehr das Gefühl bestraft worden zu sein.    
 
Ich habe mich in der Zeit nach den Zeugen Jehovas sehr intensiv mit dem Ausstieg anderer Zeugen beschäftigt, habe mehrere Bücher gelesen und eine Selbsthilfegruppe ehemaliger Zeugen besucht. Es hat mir geholfen, mich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, zu verstehen, was dazu beigetragen hatte, mich den Zeugen anzuschließen. Aber auch zu erkennen, mit welchen Methoden die Wachtturm Gesellschaft arbeitet. Deren Vorgehensweise hat mich im Nachhinein schockiert, denn dahinter verbirgt sich ein ausgeklügeltes System, weitere Zeugen zu gewinnen und mit aller Macht zu halten.    
 
Ich denke darüber nach, was ich an den Zeugen Jehovas kritisiere. Vermutlich könnte ich daraus ein ganzes Buch schreiben. Als Überschriften einzelner Kapitel würden bestimmt auch die aktuell thematisierten Missstände im Umgang mit Kindesmissbrauch vorkommen. Der Auslegung mehrerer Bibelverse und Übersetzungsfehler ließe sich ebenfalls vieles entgegensetzen. Ich bin ohnehin irgendwann zur Ansicht gekommen, dass nicht Bibelwissen die Zeugen Jehovas leitet, sondern die Lehren der Wachtturm Organisation. Einer meiner Kritikpunkte ist, dass den Verkündigern manipulativ weltliche Meinungsbildung entzogen wird. Die geforderte und geförderte Treue und Liebe zu Jehova werden zum universellen Druckmittel.

Meine größten Kritikpunkte sind die strengen Glaubenslehren, der starke Gehorsam der Mitglieder, die vielfältige Disziplin und gegenseitige Kontrolle innerhalb der Glaubensgemeinschaft. Die geforderte und geförderte Treue und Liebe zu Jehova ist geeignet, die eigene Selbstbestimmung, Bedürfnisbefriedigung und Freiheit zu unterbinden. Und dennoch bin ich nicht wütend auf die Wachtturm Gesellschaft oder Zeugen Jehovas im Gesamten. Jeder führt nur fort, was vor ihm schon viele getan haben, und jeder hört gemäß dem eigenen Bibelverständnis und Leitungsprinzips auf denjenigen, der über ihm steht. Die Frage nach dem oder den „Schuldigen“, der kritisiert werden könnte, ist deshalb kaum zu beantworten. Jetzt, in meinem Leben nach der Zeit als Zeuge, empfinde ich keine Wut mehr auf die Zeugen Jehovas. Ja, sie beschäftigen mich noch, das gebe ich zu. Aber ich habe gelernt, die Zeit bei den Zeugen nicht als vertane Zeit oder als Fehltritt zu sehen. Das täte mir nicht gut, und ich würde darunter leiden. Ich akzeptiere diese Zeit als Zeuge, sie ist Teil meines Lebens und ich bin dadurch reifer geworden. Ich bin sogar sehr froh darüber, aus dieser Glaubensgemeinschaft ausgeschlossen worden zu sein. Ich bin mir sehr sicher, dass ich weiterhin meinen leeren Berichtszettel mit zitternden Händen abgegeben hätte und Zweifel an den Glaubenspraktiken in mir gewachsen wären. Ich will nicht verschweigen, dass es auch nach dem Ausstieg tränenreiche Tiefpunkte gab, an denen ich das Gefühl hatte, versagt zu haben. Ich ergriff jeden Strohhalm, der sich mir bot, Kontakte zu knüpfen und wieder selbständig zu werden. Aus dem Strohhalm wurde über viele Monate eine Leiter und schließlich ein Podest. Und heute spüre ich mich wieder, tue das, was mir guttut, bin aktiv und genieße es, in die Tiefen des Menschheitswissens einzutauchen. Ich koste meine Freiheiten voll aus, genieße die Vielfalt der Möglichkeiten im Leben und liebe es, das Gegenteil von dem zu tun, was verboten war. Geburtstage feiere ich liebend gern und ohne Gewissensbisse. Warum auch nicht, der Beschenkte wird ja nicht auf dieselbe Stufe mit Jehova gestellt, wie die Wachtturm Gesellschaft es gern ausdrückt. Außerdem kann ich mich endlich wieder in der (wie üblich gemischten) Sauna vom Alltag erholen. Wie sehr hatte ich das vermisst! Meine „weltlichen“ Freunde nehmen mich so, wie ich bin, mit allen meinen Ecken und Kanten. Sie machen unsere Freundschaft zum Glück nicht von einer „vorbildlichen, tadellosen Lebensweise" abhängig. Es ist ein schönes Gefühl, heute an einem Trolley Stand der Zeugen vorbei zu laufen, die (fremden) Zeugen strahlend zu grüßen und zurückgegrüßt zu werden, weil die nichts von meinem Austritt wissen. Das Leben ist ein großes Buffet, von dem ich mir endlich das nehmen darf, was ich will.

Ich bin frei.
 
Februar 2020