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Autor: Anonym / Uta Bange 13.04.2016
Anonym
(im Anschluss: Anmerkungen zu den Gefahren von Psychologin Uta Bange)
Stella (Name geändert) verschwand vor etwa zwei Jahren und wurde tot in der kanadischen Natur aufgefunden. Es gab keine Hinweise auf einen Unfall oder einen Mord, vielmehr liegt die Befürchtung nahe, dass es sich um einen Suizid handelt.
Stella hatte zehn Jahre lang in Edmonton, Kanada, gelebt, wohin sie gezogen war, um die „Lehren“ von John de Ruiter kontinuierlich zu verfolgen. Ihre tragisch endende Lebensgeschichte soll verdeutlichen, wie vorsichtig man bei der Wahl einer spirituellen Gruppe sein soll. Der Bericht zeigt die Gefahren einer Spiritualität auf, die sehr auf einen spirituellen Lehrer ausgerichtet ist und zusätzlich eine Ich-Auflösung anstrebt. Die Gefahr einer psychischen Destabilisierung ist groß.
In Deutschland geboren, kam Stella, kaum ein paar Monate alt, mit ihren Eltern und zwei größeren Schwestern ins südliche Afrika, wo ihr Vater eine verantwortungsvolle Anstellung in einem Erziehungsministerium einnehmen sollte. Es wurden drei schöne Jahre für sie als Kleinkind, behütet und beschützt, in freier, warmer Umgebung, mit zwei quirligen Schwestern, einer Mutter, die ihren Beruf als Lehrerin nur noch privat ausübte und einem Vater, der ihnen allen in vielfältiger Weise Land und Leute näherbrachte.
Nach einem Aufenthalt von etwa zwei Jahren in Deutschland, durfte die kleine Stella erneut für vier Jahre mit ihrer Familie zurück ins südliche Afrika ziehen. Dieses Mal war es durch den großen Garten wie eine Traumwelt für die Familie, besonders aber für die jüngste Tochter. Stella ging einmal wöchentlich reiten, weil Spezialisten herausgefunden hatten, dass ihre zwei Gehirnhälften sich nicht gleich schnell entwickelten und sie deswegen mehr Zeit für alles brauchte - die Therapie beinhaltete, beide Areale des Gehirns gleichzeitig zu fordern und zu fördern, durch körperliche Aktivitäten Tanz, Reiten, Klavierspielen, Schwimmen, usw. Die Empfehlung der Ärzte an die Eltern war, Stella nicht anzutreiben, sondern ihr mehr Zeit für alles zu lassen.
Obwohl das Verhältnis der Schwestern untereinander sehr gut war und sie viele Stunden miteinander verbringen konnten, so gab es doch einen Unterschied in der Bereitschaft häusliche Pflichten zu übernehmen und Stella erfüllte ihre Aufgaben oft nicht. Die Tatsache, dass die Eltern dann keine Strafen anberaumten, empfanden die anderen beiden als ungerecht. Sie sahen nicht die Notwendigkeit einer Andersbehandlung. Sie konnten die Erklärungen der Eltern noch nicht verstehen. Möglicherweise konnte Stella nicht so schnell funktionieren wie die anderen beiden und erschien ihnen so als faul.
Nach paradiesischen Jahren, in denen Stella mit der Natur und den Tieren so verbunden gewesen war, wurde ihr Vater nach Pretoria, Südafrika, versetzt, wo gerade die Apartheid offiziell abgeschafft worden war. Dort besuchten die drei Schwestern die Deutsche Schule. „Das war das Ende unsrer Kindheit“ bemerkte später Stella nüchtern, als sie sich den strammen deutschen Stundenplänen und der Unmenge an extracurricularen Aktivitäten beugen musste. Manchmal kam sie völlig außer sich nach Hause, sperrte sich in ihr Zimmer ein und weinte bitterlich.
Während dieser Zeit entwickelte Stella Selbstzweifel und litt enorm unter dem Schulstress. Ein Besuch bei einem Kinderpsychologen ergab, dass sie eine Unterfunktion der Schilddrüse hatte, ansonsten aber völlig normal reagierte. „Hätte ich nur solche Kinder, wäre ich arbeitslos“ war sein Kommentar. Ein Gespräch der Eltern mit Stellas Lehrerinnen, die sie unter Zeitdruck setzten, war sehr hilfreich. Sie gewann wieder Mut und neue Freundinnen und kicherte mit ihnen wie alle Mädchen ihres Alters.
Stella entwickelte sich zu einer schönen jungen Frau. Sie intensivierte Schäkereien mit den männlichen Freunden ihrer Schwestern, mit der Nuance, dass sie zwar deren Aufmerksamkeit suchte, sie aber gleichzeitig auf intellektuellem Niveau mit sehr direkten Kommentaren fast verletzte. Keiner hat ihr das je verübelt, man sah sie eh noch als die ,,kleine Schwester“, die halt so ungeschickte Witzchen machte und wusste, dass sie eigentlich nur Spaß an der Anwesenheit der Freunde hatte.
Nach fünf Jahren kehrte Stella mit der Familie wieder nach Deutschland zurück. In der Oberstufe fühlte sie sich wieder in ein System gezwängt, welches das Abitur als Ziel hatte und in dem Noten für sie eine überdimensionale Rolle spielten.
Nicht nur, dass der Wechsel nach Europa für Stella einen Kulturschock darstellte, sondern auch sie selbst war mit sich und ihrer erwachten Intellektualität so beschäftigt, dass sie das straffe Curriculum wieder als große Herausforderung empfand. Sie war aber realistisch genug, um einzusehen, dass es da keinen anderen Weg gab als „Augen zu und durch“. Sie brauchte den formalen Abschluss des Abiturs, um dann ihren eigenen Wünschen nachgehen zu können. Und es gelang ihr prächtig: Sie schaffte das beste Einserabitur der drei Schwestern!
Bei der Rückkehr nach Deutschland war ihr sehr bewusst, dass sie anders als die gleichaltrigen MitschülerInnen war. Die altersgemäße Suche nach Identität war bei ihr besonders ausgeprägt, und sie begab sich in unterschiedlichste Bereiche, um diese dann aber wieder zugunsten anderer aufzugeben. So zog sie sich plötzlich eine afrikanische Kappe auf und ließ sich afrikanische Zöpfe flechten, oder sie engagierte sich bei ATTAC, saß mit den anderen Gruppenmitgliedern unter einer Brücke in Paris und protestierte gegen den Zustand der Weltwirtschaft.
Ein Lehrer erinnert sich an Diskussionen Stellas mit ihren Freunden über ihre Vorschläge zur Lösung der globalen Ungerechtigkeit und der Umweltverschmutzung. Sehr häufig habe sie Fragen in mündlichen Beiträgen gestellt, die zeigten, dass sie voraus gedacht und die Antworten und deren Tragweite schon ins Auge gefasst hatte. Sie sei mehr an globalen Fragen interessiert gewesen als an den punktuellen Unterrichtsthemen. Sie habe oft nach komplexeren Antworten gesucht als die, die ihr im Unterricht angeboten wurden. So sei sie zu einer respektierten Schülerin herangewachsen, fähig, sich in kontroversen Diskussionen klar zu positionieren.
Für ihre zuverlässige und verantwortungsvolle Mitarbeit in einer extracurricularen Arbeitsgruppe, die sich mit Problemen in der Dritten Welt befasste, bekam sie sogar bei der Schulentlassungsfeier einen Preis.
Zu Anfang fühlte sie sich hier in Deutschland am falschen Ort, aber allmählich fand sie eine sehr warmherzige Gruppe von Klassenkameradinnen, die zu ihrer Familie sogar nach ihrem Tod noch Kontakt pflegt.
Stellas Mutter erinnert sich an diese Phase als an eine sehr intensive Zeit. Stella konnte um zwei Uhr morgens nach Hause kommen, nachdem sie mit Freunden ausgegangen war und stundenlang politische oder auch andere Themen diskutiert hatte, und weckte sie, um von ihr zu erfahren, was sie darüber dachte. Stellas Mutter war wieder berufstätig und meinte später, das hätte auch am nächsten Tag geschehen können. Aber Stella brauchte die unmittelbare und schnelle Rückmeldung. Während der Mahlzeiten jedoch, konnte sie wie geistesabwesend dasitzen und schien nicht zu merken, dass man sich mit Fragen an sie wandte.
Nach dem Abitur begab sich Stella zur großen Überraschung der Familie ins ländliche Indien, wo sie in einem kleinen Dorf Kindern Englisch beibrachte und den Frauen auf den Reisfeldern half. Sie scheute keine Arbeit, hackte Holz und pumpte Wasser, Dinge, die sie alle in dieser Form noch nie gemacht hatte. In Indien kam Stella zum ersten Mal in Kontakt mit indischer Spiritualität. Das Ganze ging von einem amerikanischen Mann aus, der das Center, in dem sie Freiwilligenarbeit leistete, für eine Zeit besuchte. Sie verliebte sich in ihn, ohne Gegenliebe zu erfahren. Es war das erste Mal, dass die Familie eine Verliebtheit Stellas mitbekam.
Leider erkrankte Stella nach zwei Monaten schwer an Denguefieber und musste wieder nach Deutschland zurückgeflogen werden, um in einem Tropenkrankenhaus behandelt zu werden. Noch gezeichnet von ihrer schweren Erkrankung, begann Stella dann ihr Studium der Umweltwissenschaften in England. Sie hatte vorher in systematischer Art und Weise viele deutsche und englische Universitäten, die Umweltwissenschaften anboten, besucht und mit den Professoren gesprochen, bis sie die Kombination an Haupt- und Nebenfächern fand, die sie sich wünschte.
Eine Richtlinie für ihr Studiums war, dass Theorie und Praxis verbunden sein sollten. Ihr Interesse lag darin, dass der Mensch und die Natur im Einklang bleiben sollten. Sie wollte später dafür Sorge tragen, dass Harmonie zwischen den Bedürfnissen der Menschen und der Natur besteht, daher war es ihr wichtig, Wissenschaft mit Ethik zu verbinden.
Seit ihrer frühen Jugendzeit machte sich Stella Gedanken über den Sinn des Lebens. Nun in England angekommen, suchte sie intensiv nach spirituellen Gruppen oder einem diesbezüglichen Lehrer. Die verheerendste „Weisheit“, der sie damals begegnete, war die Aussage von Andrew Cohen, sie, Stella, wäre wie alle Menschen, „nothing more than a little bit of shit“ (nichts anderes als ein bisschen Scheiße). Ihre Eltern besuchten sie und beschäftigten sich intensiv mit diesem Lehrer, lasen alles, was sie greifen konnten, hörten sich seine CD an, usw. Schließlich waren sie, durch Argumentation und Wissen um das, was der Mann verbreitete, in der Lage, sie von diesen Ideen zu befreien.
Stellas Suche aber blieb. Sie hörte und las von John de Ruiter. Sie reiste nach London und in deutsche Städte, um seine „meetings“ zu erleben. Ihre Familie war sehr enttäuscht, dass mehr als die Hälfte ihrer seltenen Besuche in Deutschland zeitlich John de Ruiter gewidmet wurden.
Nach ihrem Bachelor-Examen in England zog sie nach Edmonton, Kanada, um sich in John de Ruiters „community“ zu begeben. Sie bekam glücklicherweise ein Stipendium für die Fortsetzung ihres Studiums, weil das Thema ihrer geplanten Masterarbeit der Regierung Kanadas sehr interessant vorkam. Sie wurde auch sofort nach ihrem Studium vom Forstministerium im kanadischen Staat Alberta angestellt.
So hatte sie viel erreicht, sie konnte jetzt ihren Aufgaben in einer Position nachgehen, die ihr die Möglichkeit bot, ihr breites Wissen einzubringen, und gleichzeitig ihr die Freiheit gab, in den Wäldern Albertas praktische Arbeit zu leisten, draußen in der Natur, die sie so sehr liebte. Eine Zeitlang war sie die einzige Frau in ihrer Abteilung und stand alleine den wortkargen Holzfällern und breitschultrigen Forst-Feuerwehrmännern gegenüber und gab ihr Wissen an sie weiter. Sie wurde alsbald Spezialistin auf ihrem Gebiet des Waldschutzes und der Schädlingsbekämpfung.
In ihrer Freizeit genoss Stella die kanadische Natur, testete Hängematten im Haus und draußen in der Wildnis und entdeckte neue sportliche Aktivitäten wie Skilaufen. Sie war auch eine begnadete Tänzerin und führte ihr Kindheitshobby mit großem Enthusiasmus weiter.
Trotz vielerlei Freude im Leben wurde Stella ein Aspekt ihres Lebens gar nicht zuteil, nämlich der, einen dauerhaften Freund zu haben. Es fiel ihr schwer, einen geeigneten Partner zu finden, und darüber war sie recht unglücklich. Von Stellas Sexualleben weiß die Familie wenig. Es könnte sein, dass sie noch keinerlei sexuelle Erfahrungen hatte, als sie John de Ruiter begegnete. Sie sehnte sich nicht nach Sex außerhalb einer partnerschaftlichen, von Liebe und Perspektive geprägten Beziehung. Jeglicher Körperkontakt war für sie bereits problematisch und ein sehr sensibler Punkt geworden. Auch kam ihr der Umgang mit Menschen oft schwierig vor, soziale Interaktionen brauchten lange, und sie konnte sich nicht immer spontan in Geselligkeiten einbringen. Im Zusammensein mit lediglich zwei oder drei Personen konnte sie sich öffnen.
Als Stella nach Edmonton zog, um sich John de Ruiter anzuschließen, war die Familie sehr skeptisch. Auf der einen Seite schien sie sich besser im Griff zu haben, wurde ruhiger und konnte ihren Ärger/ihre Wut (Emotionen im Allgemeinen) besser kontrollieren als früher. Ihre Fähigkeit, sich spontan zu freuen, wie früher, war aber auch sehr abgeschwächt.
Weiterhin beobachtete die Familie, dass ihre Sprache sich merkwürdig veränderte. Sie redete in überhöhtem Maße von „Liebe“ und „sweetness“ (Liebenswürdigkeit) und „purity of heart“ (Reinheit des Herzens), und das tat sie mit einem verträumten und bedeutungsschweren Lächeln. Die Familie hatte den Eindruck, dass sie in eine unwirkliche, künstliche Welt abgedriftet war.
Sie ging anders, man hatte das Gefühl, dass sie schwebte, zart und leicht werden wollte. Stella war nicht in der Lage, den Familienmitgliedern ihre seltsame Verzückung zu erklären – ihre Fragen wurden fast nur mit Sätzen beantwortet, die Wörter beinhalteten, die so merkwürdig aneinander gereiht waren, dass sie die Bedeutung des Satzes nicht verstehen konnten. Sie beantwortete ihre Fragen nicht mehr so, dass sie die Familie erreichte. Die Familie empfand, dass ein tiefes Gespräch mit ihr dadurch massiv gestört wurde, weil sie ausschließlich das nebulöse Vokabular von John de Ruiter benutzte, anstatt die geläufige, allgemeinverständliche Sprache zu wählen. Wann immer die Familie ihr dies sagte, lächelte sie und bemerkte, sie würden sie eh nicht verstehen können, weil sie nicht „erleuchtet“ seien. Es schien Stellas Familie, als ob sie gleichzeitig in zwei Welten lebte.
Ihre Eltern, ihr Onkel und weitere Familienmitglieder lasen Mitschriften der Dialoge, die John de Ruiter mit Stella und anderen seiner Anhänger führte und schauten die Videos an, die Stella ihnen schenkte. Sie erklärten ihr, wo sie in der angeblichen „Philosophie“ von John de Ruiter Fehlleitungen und Mängel sahen. Besonders ein Onkel, der Philosophie studiert hatte, fand bei Stella als „Philosoph“ der Familie Gehör, aber dennoch erreichten auch seine Gedankengänge sie leider nicht.
Stellas Mutter hat sie mehrfach in Kanada besucht und viele mehrstündige Sitzungen bei John de Ruiter besucht, aber es war ihr nicht gelungen, ihr die umfassende Abhängigkeit klarzumachen, die mit ihr in der „community“ um John de Ruiter passierte. Stellas Schwestern hatten sie auch besucht und etlichen Sitzungen bei John de Ruiter beigewohnt. Allerdings konnten auch sie Stellas leidenschaftlichen Blick auf John de Ruiter und seine Lehren nicht teilen. Da diese Erfahrungen von mangelnder gemeinsamer Verständigung für die Familie sehr schmerzhaft waren, versuchte sie das Thema John de Ruiter nicht weiter zu strapazieren, sondern sich eher auf die Dinge des Lebens zu konzentrieren, die ihnen allen zusammen Freude machten, um einen guten Kontakt zu ihr beizubehalten. Dies war auch Rat des Sektenbeauftragten in Frankfurt gewesen, den Stellas Eltern konsultiert hatten.
Stella stellte mehrere Fotos von John de Ruiter in ihr Zimmer, und ein weiteres tat sie in ein Medaillon, das sie um den Hals trug. Ihr Verhalten war derart, dass man den Eindruck gewann, dass sie in diese Person verliebt sei. Wenn sie von ihm sprach, erklärte sie, wie süß er wäre und kicherte, genauso, wie verliebte Frauen es halt tun. Dies bereitete der Familie große Sorge, da sie ja sonst von ihm als einem bewunderungswürdigen Philosophen sprach und nicht von einem Geliebten.
In der Tat veranstaltete er Treffen von Hunderten von Anhängern in Edmonton und weiteren Hunderten in anderen Ländern. Es war der Familie klar, dass sie in keiner partnerschaftlichen Beziehung zu ihm stand und dass dies wohl niemals der Fall sein würde. John de Ruiter war damals geschieden und lebte offen mit zwei Frauen zusammen (Hutchinson, 2013). Später haben diese Frauen ihn verlassen, und er heiratete erneut. Dieses Verhalten beunruhigte die Familie von Stella sehr. Sie hatte den Eindruck, dass Stellas Liebessehnsucht sich auf John de Ruiter konzentrierte und sie nicht mehr offen für andere Beziehungen war. Die Familie hatte die Befürchtung, dass Stella die Art und Weise, wie John de Ruiter sie in den „meetings“ anschaute, missinterpretiert hatte. Das lange Anstarren jedes einzelnen im Saal ist Teil seiner Methode, die Menschen an sich zu binden. (Joosse, 2006; Knepper, 2010; Utsch, 2007)
Die John de Ruiter Gruppe ist so organisiert, dass sie eine Welt in sich darstellt. Alle Mitglieder haben Pflichten, und es wird erwartet, dass sie im Garten oder im Gebäude ohne Bezahlung arbeiten. Stella tat alles, putzte Toiletten und half im Café und im Büro. Sie nahm sich sogar einen Tag in der Woche frei, um noch mehr für John de Ruiter zu tun. Zwei bis dreimal die Woche fanden reguläre Treffen mit John de Ruiter statt, die nach Aussage von Stellas Familie ungfähr zehn Dollar Eintritt kosten. Stella nahm an allen teil, wie ungefähr 300-400 weitere Anhänger. Die zusätzlichen Veranstaltungen wie Seminare und Workshops sind mit Kosten im dreistelligen Bereich wesentlich teurer. Eine (sehr veraltete) Schätzung besagte, dass John de Ruiter durch einen fünftägigen Aufenthalt in Hamburg 40.000 Dollar an Eintrittsgeld bekam (Piercy, 2003).
Stella hatte sich zwar zu einer politisch engagierten Aktivistin, einer ausgesprochen kritischen Denkerin und nüchternen Wissenschaftlerin herangebildet, und doch wirkte sie wie eine verträumte, kichernd verliebte Teenagerin, die ihren Angebeteten in all seinen Marotten verteidigte. So berichtete sie ihrer Familie, dass de Ruiter mehrere Autos besaß. Stella wollte die Freiheit, in der John de Ruiter lebte, nicht sehen, sondern verteidigte seine nachvollziehbare „Menschlichkeit“. Ihm gegenüber war sie völlig unkritisch.
Anfänglich hatte Stellas Familie es sehr begrüßt, dass sie sich allmählich weiblicher und modischer kleidete, als sie es bisher getan hatte. Dies hatte sie vorher nicht interessiert, sondern es als Oberflächlichkeit kategorisch abgelehnt. Sie litt allerdings darunter, dass sie dem kanadischen Frauenideal körperlich nicht entsprach, wenn gleich es nicht ausgeschlossen ist, dass dies Frauenbild nur das der John de Ruiter-„community“ war. Jetzt aber, im Rückblick, erscheint es bitter, da davon ausgegangen werden muss, dass diese Veränderung nicht ein positives Zeichen inneren Wandels war, sich selbst als schön und weiblich anzuerkennen, sondern die Sehnsucht nach Akzeptanz gegenüber John de Ruiter.
Die eigentlich gesunde junge Frau, wenngleich mit einem leichten Hang zu einer Rubensfigur, fing plötzlich an, sich selbst Radikalkuren zu unterziehen, vor allem in ihrem Kampf, ihr Gewicht zu reduzieren. Diese schadeten ihr sehr, und sie fing an Gesundheitsprobleme besonders im Verdauungstrakt zu bekommen. Einmal stand sie kurz vor der Magersucht.
Stella erzählte ihrer Mutter in den Monaten vor ihrem Tod, dass John de Ruiter viel über den Tod gesprochen habe. Stella habe mit John de Ruiter persönlich über das Leben vor und nach dem Tod gesprochen. Er habe ihr gesagt, so berichtete sie selbst, dass man bezüglich Wahrnehmung und Erkenntnis im Leben selbst mehr erreichen kann, dass dies aber auch nach dem Tod noch möglich sei.
Viele Monate nach Stellas Tod las Stellas Familie in ihrem Tagebuch Sätze, die sie drei Wochen vor ihrem Tod geschrieben hatte und die ihr fremd vorkamen. [Redaktionelle Ergänzung: Erst schrieb sie über ihre Gedanken zu dem sexuellen Erwachen, das sie in vermutlich energetischer Verbindung mit John de Ruiter erlebt hatte. Danach schrieb sie in immer verzweifelter Resignation. Auf der letzten Seite dieses langen Eintrags - dem letzten vor ihrem Tod - beschreibt sie sich als leer, nachdem sie sich allen angenehmen und genussvollen Zerstreuungen entzogen hätte, und nun nicht mal mehr Spaß am Skilaufen hätte.]
[Auslassungen & Zusätze in eckigen Klammern]:
„Ich muss meine Klarheit aufschreiben, damit [spirituelles] Wissen an Impulskraft gewinnt, so dass ich mich in die richtige Perspektive bewege und diese auch beibehalte. Ich muss in meinen Schlussfolgerungen aufpassen, dass ich keine Ebenen verwechsle. John zeigte mir, wozu Sexualität gut ist. […] Ich wachte auf mit einem Gefühl sexueller Erregung. Es war, als würde er in mich eindringen. Ich fühlte eine warme, tiefe männliche Energie unter und hinter meiner Hüfte und Vagina. Ein Teil meines Selbst fragt sich, ob ich einen Moment ausnützte, um um eine Erfahrung reicher zu werden, aber in Wirklichkeit weiß ich, dass es ein Gutes war.
Am nächsten Tag versuchte ich, die Bedeutung zu ergründen, warum er sich mit mir in dieser Art und Weise bewegt hat. Ich fragte mich, was die Konsequenzen davon sein würden, ob er dies mit allen tut, blabla. Ich wusste tief in meinem Inneren, dass das Einzige, was ich zu tun habe, ist, zu erwidern, und weiter zu öffnen, egal, was die Konsequenzen sind. Ich fragte mich, wie es sein kann, dass John mit so vielen Frauen Liebe machen kann, während er doch mit einer verheiratet ist. Was er ist, kann nicht eingeengt werden, es kann nicht besessen [im Sinne von Besitz] werden.
Wenn ich darüber nachdenke und meine Gefühle befrage, werde ich ganz verwirrt. Gestern sagte er während der Übertragung (er ist in Australien), dass wenn du „Erwachen“ in dich aufnimmst, dann bekommst du einen scharfen Geist und ein stumpfes Herz. Nimm es nicht auf in dein Selbst. Sexuelles Erwachen.
Mach nichts daraus. Du verstehst nicht, warum er das gemacht hat. Zieh in dir keine Schlüsse aus dieser Erfahrung. Es wäre sicherer, es so zu behandeln wie ein Erwachen, das du vielleicht später verstehst. Im jetzigen Augenblick gehe nicht davon aus, dass es weitergeht, bilde dir nichts ein, was du davon haben könntest. Pass auf, dass du einen sauberen Geist behältst und erhöhe die Erfahrung nicht, um mehr zu bekommen. […]
Es ist nichts darin [in dieser Erfahrung], das ich für mich haben könnte, nichts, das ich behalten könnte. Wenn ich in meinem Herzen bleibe, brauche ich nicht in emotionale Aufgeregtheit zu geraten. Heute war ich mit Melanie, Felicia, Leni und Lisa zusammen [Namen geändert]. Es war gut und heilsam zu sehen, wie frei und fröhlich sie sind, obwohl sie in keiner Beziehung sind. Sie waren frei und leicht, genießen das Leben. […]
Ich frage mich, ob er einfach nicht innerhalb einer Beziehung bleiben kann, ob er Liebe macht mit Leuten, während er auf der anderen Seite der Welt ist. Was er tat, hat seine Ehe in keiner Weise aufs Spiel gesetzt. Es ist nicht persönlich. Ich weiß, dass es OK ist, nicht falsch. Ziehe keine Schlüsse in dir selbst. Wenn du offen bleibst, wird die Erfahrung ganz durch dich durchgehen, ohne dass dir irgendetwas hängen bleibt. Ein Teil von mir fragt sich, warum John mich mit so einer Belehrung betraut, wenn sie mich doch sicherlich innerlich ins Schleudern bringen würde. Aber ich bin in der Lage, nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen. Ich schaffe es, klar zu sein. Er sagte, dass ich wirklich lerne. Verwechsele nicht die Ebenen. Mit John wirst du nie weniger Schwierigkeiten haben. Er wird dir immer mehr geben. Darin ist nichts für dich, du kannst nichts davon haben, du kannst es nicht besitzen, für dich selbst haben oder behalten.
Mach dir keine Sorgen um die Zukunft. Gehe einfach auf das ein, was sich jetzt öffnet. Ich habe gewiss ein interessantes Leben. Bleib klar, lass die Finger weg davon, ziehe keine Schlüsse, denke nicht daran, mach dir keine Sorgen. Du bist fähig, jenes Erwachen nicht in dich hinein zu lassen. Wenn ich Mangel in meinem Leben erfahre, dann ist es nicht wegen irgendeinem Umstand. Es ist so, weil ich die Bedeutung, zu der ich erwachte, nicht bin. Es gibt nur einen Weg, und der ist nach vorne, weiter rein, tiefer.
Öffne dich, öffne dich immer weiter und du wirst mehr sein. Ich habe meinem Leben alle Zerstreuung genommen (außer Skifahren), und nun fühle ich mich leer und sehe wirklich, was ich die ganze Zeit war - weniger Bedeutung, habe das Leben benutzt, um es mit weniger zu füllen. Wenn alle Ablenkungen zu Ende gehen, und du merkst, wie dumpf du gewesen bist. Lebe für all das, wozu du erwacht bist. Skifahren war schön, aber auch leer und stumpf, weil ich nicht das war, was sich jene Nacht geöffnet hat. […]
Mein Leben ist nicht dafür, ein angenehmes Leben zu haben oder Leiden zu vermindern. Auf der Ebene der Menschheit steht es nicht in meiner Macht, wo ich Leiden verhindern kann ist es natürlich meine Verantwortung. Nicht zu leiden ist nicht der höchste Wert. Der Sinn jeder Erfahrung meines Lebens, schmerzlich oder angenehm, ist die Entwicklung als Bewusstsein. […]
Meine höchste Verantwortung ist es nicht, mir und anderen ein schönes Leben zu machen. Meine Verantwortung ist es zu erwachen und zu der Entwicklung anderer beizutragen. Nicht nur Menschen, sondern auch Pflanzen, Tiere, sogar unseren Planeten. Der Zustand unseres Planeten ist sehr vulnerable - wenn der Planet erwacht, wird es für uns Menschen nicht angenehm sein. Dies ist nicht zu verhindern und es wird gut sein, je nachdem für welche Perspektive wir uns entscheiden. Die Verteidigung eines angenehmen Lebens oder die Chance zu erwachen.
Hinzu kommt, dass der Tod uns nicht vom Sinn für den wir glauben gelebt [zu] haben befreit. Jede Entscheidung, die wir im Leben treffen, der Sinn den sie unterstützt hat bleibt mit uns nach dem Tod. Unsere Entwicklung als Bewusstsein ist nicht vollkommen mit dem Tod. Was wir im Leben nicht schaffen steht uns nach dem Tod bevor. Der Tod ist nicht eine Erlösung unserer Verantwortung.“ […] Alles was wir wirklich tun können ist unsere Berufung zu erwidern und uns zu öffnen und jeder Wahrheit, die uns bewusst wird zuzustimmen, egal was es kostet, ob es angenehm oder unangenehm ist.“
Ende des Auszugs
Wie eingangs berichtet, wurde Stella – nach sieben und ein halb Wochen des Suchens – im Schnee tot aufgefunden. Es ist bis heute nicht geklärt, was passiert ist. In ihrem Büro, wo sie am Samstagmorgen, wie so häufig, noch gearbeitet hatte, fand man alles so vor, als sei sie nur mal eben auf Toilette gegangen. Es war bittere Kälte und hoher Schnee draußen, ihr Mantel, ihr Portemonnaie, ihr Handy und wichtige Papiere wie Führerschein, usw. lagen noch auf ihrem Schreibtisch, wie auch ein noch warmer Kaffee. Aber sie und ihr Auto waren verschwunden. Nach ein paar Tagen fand man das abgeschlossene Auto, ungewöhnlich sauber und ohne jegliche Fingerabdrücke, noch nicht einmal von ihr selbst, auf einer Waldstraße 400 km entfernt von ihrem Wohnort.
Erst nach vielen quälenden Wochen, in denen Stellas Freunde und Bekannte parallel zur Polizei Suchaktionen in der ganzen Stadt und Umgebung unternahmen, entdeckte die Bergpolizei Stella 12 km von dem Auto entfernt unbekleidet im Schnee liegend. Ihre leichten Kleidungsstücke lagen zerstreut um sie herum. Ihr Zustand war ein solcher, dass kaum noch medizinische Analysen gemacht werden konnten. Der medizinische Bericht besagt jedoch, obwohl etliche Organe schon fehlten, dass sie nicht schwanger gewesen war. Die Polizei ermittelte, schloss die Akte allerdings nach ein paar Monaten, da es kein Ermittlungsergebnis gab, das verfolgt werden musste.
Stella wird von ihrer Familie, ihren Freunden und Kollegen immer vermisst werden.
Stella ist um ihr Leben betrogen worden. Sie hat vieles nicht erleben dürfen und lernen können, was ihr vielleicht gut getan und ihr Leben reich und erfüllt gemacht hätte. Stella verschwand, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
Hutchinson, Brian (2013) When lovers turn litigants: Edmonton sisters sue spiritual leader for support. http://news.nationalpost.com/news/canada/edmontonspiritualleader.
Joosse, Paul (2006) Silence, Charisma and Power: The Case of John de Ruiter. Journal of Contemporary Religion 2(3): 355-371
Knepper, Claudia (2010) Stichwort Satsang Bewegung. Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 73: 389-392
Piercy, Judy (2003) The John de Ruiter Story. Canadian Broadcasting Company, The National. https://vimeo.com/158658749
Utsch, Michael (2007) Die Satsang-Szene zwischen Etabliertheit und Kritik. Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 70: 65-68
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Uta Bange
Ihre spirituelle Suche führt eine junge Frau nach Kanada in die Gemeinschaft des Satsang-Lehrers John de Ruiter. In den zehn Jahren, die Stella (Name geändert) dort verbringt, verändert sie sich von einer sozial engagierten, politisch interessierten und weltoffenen jungen Frau zu einer sehr zurückgezogen, nach innen gerichteten und asketisch lebenden Frau. Ihre Tagebuchaufzeichnungen zeigen in der letzten Zeit vor ihrem vermuteten Selbstmord einen Menschen voller Selbstzweifel, der bis zuletzt mit Vertrauen in ihren spirituellen Lehrer John de Ruiter gelebt hat. Im Folgenden wird zunächst der spirituelle Hintergrund der Bewegung beschrieben, in der sich die Ereignisse abspielen. Im Weiteren wird die Charismatisierung des Lehrers beleuchtet und die psychische Abhängigkeit seiner Schülerin Stella. Nicht zuletzt sollen die gesundheitsgefährdenden Aspekte einer intensiven spirituellen Suche deutlich gemacht werden.
Unter einem Satsang versteht man die Begegnung mit einem erwachten Lehrer (Sat = Wahrheit und Sang = Zusammenkommen). Als erwacht wird in diesem Kontext ein Mensch bezeichnet, der ein völlig verwandeltes, erleuchtetes Bewusstsein hat. Ursprünglich handelt es sich um eine alte indische Tradition, die auf den hinduistischen Advaita, eine philosophische Richtung des Hinduismus zurückgeht. Viele Satsang-Lehrer sehen sich als Nachfolger des indischen Heiligen Ramana Maharshi (1879-1950). Dieser hatte in einer Spontanmeditation erkannt, dass sein wahres Selbst unsterblich sei und unabhängig vom Körper existiere. Er verlor das Interesse an Alltäglichem, zog sich in eine einsame Bergwelt zurück und versank dort in jahrelanges Schweigen. Als er wieder zu sprechen begann, war sein ganzes Denken durch die Erfahrung des Einsseins mit dem absoluten, göttlichen Selbst in der Tiefe seines Herzens geprägt. Diese Erfahrung gab er an viele Wahrheitssuchende weiter, die sich zu ihm aufgemacht hatten. Dieses Einswerden mit dem Selbst wird mit einem Erwachen aus der Illusion verglichen und Erleuchtung genannt (Schmid und Schmid, 2003, S. 355f).
Der Grundgedanke dieser Philosophie besteht darin, dass die phänomenale Welt als Täuschung und Schein zu betrachten ist. Das absolute, unveränderliche Bewusstsein sieht die Welt der Dinge, Personen und Ereignisse als unwirklich an. Es gibt nichts außer Bewusstsein. Das Ziel des spirituellen Weges ist es, die letztendliche Übereinstimmung der individuellen Person mit Brahman, dem Unendlichen oder der kosmischen Schöpferkraft zu erkennen. Ein unabhängiges Ich ist die Quelle allen Leidens. Eine kosmische Verbundenheit entsteht, wenn man sich von der persönlichen Individualität losgelöst hat. Die persönliche Identität ist eine Illusion (Utsch, 2005, S. 181f).
Hier zeigt sich ein problematisches Element dieser Vorstellung. Ein stabiles Ich zu entwickeln, ist entwicklungspsychologisch ein wesentlicher Schritt zum Erwachsen werden. Damit einhergehend sind es die Identitätsbildung und Individualität, die eine gesunde Psyche ausmachen. In dieser Philosophie geht es nun aber gerade darum, das Ich aufzulösen in einem größeren Ganzen. Damit verbunden ist die Gefahr, dass mit der Ich-Auflösung die gesamte Psyche eines Menschen instabil wird. Für psychisch labile Menschen besteht hier ein großes Risiko. In der indischen Tradition war der Prozess der Erleuchtung nur einigen wenigen Auserwählten zugedacht. Die „Heiligen“ verbrachten ihr gesamtes Leben mit der Suche nach Erleuchtung.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begannen Menschen in den westlichen Ländern diese Art der spirituellen Suche aufzugreifen und in Indien nach Erleuchtung zu suchen. Zunächst begaben sich westliche Sinnsucher nach Indien und andere östliche Länder und suchten die dortigen Gurus auf, wie z. B. Bhagwan in Poona. Seit den 80er Jahren gab es dann auch in Deutschland und anderen westlichen Ländern, Menschen, die durch die Schülerschaft bei indischen Gurus oder auch durch ein spontanes Erwachen ohne traditionellen Hintergrund als spirituelle Lehrer auftauchten und AnhängerInnen um sich scharten. Dieser Trend passt zur Individualisierung von Religiosität in unserer Gesellschaft.
In den Satsang-Sitzungen sollen die zur Erleuchtung benötigten Einsichten vermittelt werden. Satsangs sind in der Regel offene Veranstaltungen. Eine feste Schülerschar mischt sich mit spirituell Interessierten ohne feste Bindung. Bekannte Lehrer füllen Hallen mit mehreren hundert Menschen. Der Ablauf des Satsangs hängt vom jeweiligen Lehrer ab. Bei einigen Lehrern überwiegt die Stille, bei anderen die Redeanteile. Es gibt keine konkreten Techniken, die für das Erwachen angeboten werden. Das Zusammensein in der Wahrheit, das von dem spirituellen Lehrer verkörpert wird, ist das Entscheidende. Intensive Blickwechsel mit dem Lehrer werden als faszinierende Begegnung mit dem „wahren Selbst“ oder dem „ewigen Bewusstsein“ erfahren (Knepper, 2010). Viele Suchende kommen neben den spirituellen Fragen auch mit ihren persönlichen Lebensproblemen und hoffen, davon befreit zu werden und einen Neuanfang erleben zu können.
Den Satsang-Lehrern wird damit eine große Macht gegeben. Sie beraten nicht nur in spirituellen Fragen, sondern beraten und therapieren auch bei persönlichen Fragestellungen und tiefgreifenden Problemen. Wichtige Lebensentscheidungen in beruflicher wie auch in privater Hinsicht werden von den Lehrern mit entschieden. Das ist insofern schwierig, als sie in der Regel über keine beraterische Ausbildung verfügen und die Fragesteller oftmals nur einige Augenblicke erleben, bevor sie ihre Fragen beantworten.
John de Ruiter wurde 1959 als Sohn niederländischer Immigranten in Alberta, Kanada geboren. Bei seinem Vater lernte er den Beruf des Schuhmachers. Einige Jahre stellte er orthopädische Schuhe her. Aber bereits
Dieses sogenannte spontane Erwachen wurde für de Ruiter ein Berufungserlebnis und änderte in den folgenden Jahren sein Leben. Zunächst stellte sich de Ruiter in die christliche Tradition. Er bekam angeblich Offenbarungen von Christus, in denen ihm auch mitgeteilt wurde, dass das Christentum von Satan erschaffen worden sei (Joosse, 2006, S. 356). Die Ausrichtung veränderte sich, nachdem de Ruiter sich mit den östlichen Religionen beschäftigte. Er reiste unter anderem nach Poona und konnte ehemalige Osho-AnhängerInnen für sich gewinnen. Nach und nach kamen immer mehr Menschen aus der ganzen Welt zu seinen Veranstaltungen. Eine ehemalige Anhängerin erinnert sich:
John de Ruiter bezeichnet sich selbst als Philosoph und gründete 2006 das „Edmonton College of Integrates Philosophy“ in Kanada (de Ruiter, Homepage).
John de Ruiter ist einer der bekannteren Satsang-Lehrer. Neben den regelmäßigen Treffen in Edmonton, reist er immer wieder in viele Länder der Welt. De Ruiter, der sich in keiner Lehrertradition befindet, sondern sich auf ein Berufungserlebnis bezieht, nennt seine Treffen „Meetings“. Diese Meetings sind davon geprägt, dass der selbsternannte Philosoph oftmals über lange Strecken, manchmal mehrere Stunden schweigt. Daneben gibt es intensive Blickkontakte, die er mit seinen SchülerInnen austauscht. Wer persönlich mit ihm sprechen möchte, lässt sich auf eine Liste setzen. Wenn er aufgerufen wird, darf er sich auf einen Stuhl gegenüber von de Ruiter setzen.
Eine Journalistin schildert ihrer Erfahrung mit John de Ruiter folgendermaßen:
Der kanadische Soziologe Paul Joosse hat das Phänomen John de Ruiter untersucht und vor allem das Charisma des Weisheitslehrers unter die Lupe genommen (Joosse, 2006). Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass vor allem das Schweigen in Zusammenhang mit dem Augenkontakt, eine große Rolle für den Erfolg de Ruiters spielt. Die Menschen, die zu de Ruiter kommen, suchen Antworten auf spirituelle und persönliche Fragen und bringen als Grundlage ihre Lebensgeschichte mit. Das lange Schweigen de Ruiters bietet viel Platz dafür, persönliche Bedeutungen und Einsichten, in die sehr vagen Worte und in die langen Pausen hineinzuprojizieren. Sie fühlen sich von de Ruiter wahrgenommen und es entsteht der Eindruck, er könne die persönlichen Bedürfnisse erkennen, von Menschen, die er nie vorher gesehen hat (ebd, S. 361ff).
Weiterhin benutzt de Ruiter das Schweigen auch als Strafe und Machtausübung. Fragen werden nicht beantwortet, wenn de Ruiter sie nicht mag, oder so kurz beantwortet, dass es einer Ignorierung gleich kommt. Dies geschieht auch bei Fragen, die seine Autorität in Frage stellen. Dieses Verhalten kann sich negativ auf das Selbstwertgefühl der Fragenden auswirken und steigert so die Macht von de Ruiter und die Abhängigkeit von ihm (ebd, S. 363ff).
Außerdem fördert das Schweigen den Glauben, de Ruiter habe besondere Fähigkeiten, nur durch seinen Blick intime Bindungen herzustellen. Im normalen Leben gibt es diesen intensiven Blick vor allem bei Verliebten. Dieses „Liebe-auf-den-ersten-Blick“ - Phänomen ist ein wichtiger Faktor bei der Entscheidung, das Zuhause zu verlassen und bei de Ruiter zu leben (ebd, S. 367).
Wenn Menschen einem charismatischen Menschen folgen, basiert der Zusammenhalt der Gruppe darauf, dass die Gruppenmitglieder glauben, dass ihr Lehrer in irgendeiner Form außergewöhnlich oder sogar übermenschlich ist. John de Ruiter wird als „lebende Verkörperung der Wahrheit“ verehrt und somit verfügt er innerhalb der Gemeinschaft über eine große Autorität (ebd, S. 355). Als Erleuchteter ist er dem Göttlichen näher als dem Menschlichen. Nur in der Hingabe an den Lehrer ist spirituelles Wachstum und Erwachen für die SchülerInnen möglich. Die hohen Erwartungen der AnhängerInnen und das Anhimmeln vor allem der weiblichen Schülerinnen führen zu einer großen Gefahr der narzisstischen Selbstüberhöhung. Normen und Regeln gelten für die gottgleichen Lehrer nicht in gleicher Weise wie für die „Normalsterblichen“. Auf die Gefahr des Machtmissbrauchs weisen inzwischen auch schon Lehrer der Satsang - Bewegung selbst hin (Utsch, 2007, S. 67f).
In ihrem Tagebuch beschreibt Stella sexuelle Erlebnisse, die sie selbst als ein sexuelles Erwachen bezeichnet. Sie schildert dieses Erleben als sehr intensiv und als habe de Ruiter auf geistiger Ebene Geschlechtsverkehr mit ihr vollzogen. In Beziehungen zwischen einem spirituellen Lehrer und einer Anhängerin kommt dieses Erleben nicht selten vor. De Ruiter selbst spricht von einer energetischen Übertragung zwischen ihm und seinen SchülerInnen. Andere Anhängerinnen berichten von ähnlichen Erlebnissen in Zusammenhang mit sexuellem Erwachen. In sogenannten Teachings (Träumen oder Visionen) erscheint de Ruiter seinen AnhängerInnen. Stella schreibt ihrem Lehrer besondere Fähigkeiten zu und fühlt sich eng mit ihm verbunden, so dass dieses Erleben als ein weiterer Schritt in ihrer Bindung an ihn gesehen werden kann. Das Verliebtsein, das vermutlich auch durch die intensiven Blickkontakte zwischen ihr und de Ruiter mit ausgelöst wurde, regt ihre Phantasie möglicherweise auch an. Für Stella fühlte sich das sexuelle Erlebnis an, als habe sich de Ruiter aktiv an dem sexuellen Erleben beteiligt. Das hat für Stella einige Verwirrung ausgelöst und möglicherweise mit zu ihrer psychischen Destabilisierung beigetragen. Ob es darüber hinaus auch in der Realität einen sexuellen Kontakt mit John de Ruiter gab, ist nicht bekannt. Fakt ist, dass de Ruiter in der Vergangenheit sexuelle Kontakte zu Anhängerinnen pflegte. Öffentlich wurde das unter anderem durch seine damalige Ehefrau, die ihn während eines Satsangs vor seinen SchülerInnen damit konfrontierte (Joosse, 2006, S. 364).
Seit Stella in die Gemeinschaft von John de Ruiter eingetreten war, wirkt sie auf ihre Familie zunächst ausgeglichener als vorher. Allerdings verändert sich bald ihre Persönlichkeit. Sie wirkt euphorisiert und wie verliebt. Ihre Sprache ändert sich, sie benutzt Begriffe anders als vorher. Ein „normales“ Gespräch wird immer schwieriger und es stellt sich für die Familie eine Entfremdung ein. Immer mehr ähnelt Stellas Verhalten einem beginnenden Suchtverhalten. Zwar bezieht sich der Begriff Abhängigkeit streng genommen nur auf stoffgebundene Süchte, wie Alkohol oder Drogen, aber in Zusammenhang mit neuen religiösen Gruppierungen kann es ebenfalls zu suchtartigem Verhalten kommen und die Kriterien lassen sich übertragen (vgl. Gross, 2000, S. 297f).
Im Diagnoseschlüssel der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10-GM, 2014) wird von einem Anhängigkeitssyndrom gesprochen, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien während des letzten Jahres erfüllt gewesen sind:
Bei Stella zeigt sich ein starkes Verlangen in der Nähe von John de Ruiter zu sein, seine Meetings zu besuchen und bei ihm zu leben. Ziel dabei ist die spirituelle Weiterentwicklung, das Erwachen zu erreichen. Auf die Familie wirkt sie dabei wie ein verträumter, kichernder, verliebter Teenager. Sie trägt ein Medaillon mit einem Foto von de Ruiter (Punkt 1).
Ein Kontrollverlust ist gewollt. Stella übergibt ihrem spirituellen Lehrer de Ruiter die Kontrolle über ihr Leben. Entscheidungen werden in Abhängigkeit von ihm getroffen (Punkt 2).
Entzugserscheinungen treten nicht auf, da Stella keinen Versuch unternommen hat, die Gruppe zu verlassen. Aus unserer Erfahrung heraus wissen wir allerdings, dass Menschen nach dem Ausstieg aus einer neureligiösen Gruppe große Probleme haben, zurück in den normalen Alltag zu finden (Punkt 3).
Eine immer intensivere Anbindung an die Gruppe wird gesucht. Die spirituelle Lebensweise wird für Stella zum einzigen Lebensinhalt. Beruf, Familie, Hobbies, Freunde außerhalb der Gruppe werden immer unwichtiger und nach und nach vernachlässigt. Mit zunehmender Gruppenzugehörigkeit verzichtet Stella immer mehr auf Aktivitäten und Vergnügungen außerhalb. Sie übernimmt viele ehrenamtliche Aufgaben in der Gemeinschaft. (Punkt 4 und 5).
Bei Stella sind einige der Kriterien erfüllt, die für eine psychische Abhängigkeit sprechen. Die Anbindung an John de Ruiter und seine Gemeinschaft kann als eine Art Ersatzleben gesehen werden. Die spirituellen, psychischen und sozialen Probleme werden aufgefangen durch die intensive Suche nach Sinn und das rauschartige sogenannte Erwachen. Die dahinterstehenden Identitätsprobleme und lebensgeschichtlichen Aspekte werden dadurch zunächst überdeckt aber letztendlich eben auch nicht aufgearbeitet.
Auf der Suche nach Identität und Spiritualität fand Stella ein Zuhause bei dem Satsang-Lehrer John de Ruiter. Im Satsang geht es darum, in der Begegnung mit einem spirituellen Lehrer, zu erwachen und ein erleuchtetes Bewusstsein zu erlangen. Anstelle einer persönlichen Identität tritt eine kosmische Verbundenheit. Weltliche Vergnügungen werden aufgegeben und die Sinnsuche wird alleiniger Lebensinhalt. Stella nahm diese Philosophie sicherlich ernster als andere Suchende. So gab sie alle „Zerstreuungen“ auf, die das Vergängliche repräsentieren, um sich ganz dem höheren Sinn, dem Erwachen, zu verschreiben. Der Kontakt zur Familie, Partnersuche oder Hobbys rücken dabei immer mehr in den Hintergrund. Die Tagebucheintragen vermitteln einen Eindruck davon, wie intensiv Stella ihr Leben der spirituellen Ausrichtung untergeordnet hat. Ihre Gedanken wirken dabei zunehmend verwirrter, als habe die angestrebte Ich-Auflösung zu einiger Konfusion in ihrem inneren Erleben geführt. Die Folge ist eine zunehmende psychische Destabilisierung.
In unserer Beratungsstelle erleben wir immer wieder, dass eine extreme religiöse Orientierung mit einer engen Anbindung an eine religiöse Gemeinschaft oder einen spirituellen Lehrer für Menschen gefährlich sein kann. Vor allem bei psychisch labilen Menschen oder Menschen in schwierigen Lebenssituationen kann es durch die intensive Beschäftigung mit spirituellen Inhalten oder die exzessive Ausübung spiritueller Praktiken, wie z. B. Meditation zu psychischen Problemen kommen. Viele Menschen unterschätzen diese Gefahr. Es ist aber wichtig, sich genau zu überlegen, welche spirituelle Ausübung für die persönliche geistige und psychische Konstitution passt, auch unter dem Aspekt der Gesundheitsgefährdung.
Möglicherweise litt Stella in der letzten Zeit vor ihrem Tod an einer depressiven Erkrankung. Die enge Bindung an ihren spirituellen Lehrer und das Vertrauen, dass sie in ihn hatte, machten es ihr sicherlich sehr schwer, sich außerhalb der Gruppe Hilfe bei einem Psychotherapeuten oder Arzt zu holen. Eine professionelle Behandlung hätte aber möglicherweise ihr Leben retten können.
de Ruiter: Über John, seine Lehre & die Community. http://johnderuiter.com/de-info/#johnderuiter, abgerufen am 19.2.2016.
Gross, W. (2000): Psychische Abhängigkeiten in Esoterikszene und neureligiösen Gruppierungen – Theorie und Therapie. In: Poppelreuter, S. und Gross, W. (Hrsg.), Nicht nur Drogen machen süchtig. Entstehung und Behandlung von stoffungebundenen Süchten. Weinheim, S. 281-306.
Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien.(2014). 9. Auflage. Bern.
Joosse, Paul (2006): Silence, Charisma and Power: The case of John de Ruiter, Journal of Contemporary Religion, 21:3, 355-371.
Knepper, Claudia (2010): Satsang. http://www.ezw-berlin.de/html/3_178.php, abgerufen am 5.1.2016.
Schmidt, Georg; Schmid, Georg Otto (2003): Die Advaita und Satsang-Bewegung. In: Schmid, G. und Schmid, G. O. (Hrsg.), Kirchen, Sekten, Religionen. Religiöse Gemeinschaften, weltanschauliche Gruppierungen und Psycho-Organisationen im deutschen Sprachraum. Ein Handbuch. Zürich.
Utsch, Michael (2005): Behandlungsziel Erleuchtung: Die Satsang-Bewegung. In: Hempelmann, R. u. a. (Hrsg.), Panorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Gütersloh, S. 180-189.
Utsch, Michael (2007): Die Satsangszene zwischen Etablierung und Kritik: Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen. 2/07. S. 65-68.
Willis Toms, Justine (2010): http://spirituelles-portal.de/-Eine-Ueberraschungsreise-von-Justine-Willis-Toms---Begegnung-mit-John-de-Ruiter,2,368.html, abgerufen am 6.1.2016.