Kontakt
E-Mail
Autor: Svenja Mierau 15.03.2006
An einem Januarmorgen 2006 las ich in meiner Tageszeitung die Überschrift "Flipper sollte Nessie jagen". In dem Artikel steht, dass "das britische Umweltministerium Ende der 70er Jahre eine Mission mit kamerabewehrten Delfinen angeregt haben soll, die im schottischen Loch Ness das berühmte Ungeheuer aufscheuchen sollten." Nessie? Gibt es das Ungeheuer wirklich? Ebenfalls im Januar 2006 registriere ich bei einem Blick in meinen Kalender, heute ist Freitag, der 13.. Was hat es damit auf sich? Immerhin bemerke ich dieses Datum.
Es ist immer noch Januar 2006. Ich erhalte die E-Mail einer Freundin. Es geht um Bonsai-Katzen. Ich möge bitte eine Protest-E-Mail-Aktion unterstützen, die es sich zum Ziel gesetzt hat, dieser Tierzuchtmethode ein Ende zu bereiten. Die Freundin ist entsetzt und empört, dass es Menschen gibt, die so etwas tun. Gibt es sie wirklich? Gibt es Mini-Katzen im Glas?
Bernd Harder greift in seinem Buch "Das Lexikon der Großstadtmythen - Unglaubliche Geschichten von Astralreisen bis Zombies" diese und viele andere weit verbreitete Mythen auf. Er beschreibt und erklärt sie. Er berichtet von ihrer Entstehung und entzaubert auch ein wenig. Bernd Harder, geboren 1966, studierter Politikwissenschaftler, beschäftigt sich schon aus beruflichen Gründen mit unglaublichen Geschichten. Er arbeitet als Journalist der Zeitschrift "Skeptiker - Zeitschrift für Wissenschaft und kritisches Denken", die von der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften e.V. (GWUP) herausgegeben wird, dessen Pressesprecher er ist.
Nessie, so berichtet Bernd Harder, ist "nach Einschätzung von Zoologen eine biologische Unmöglichkeit" (S. 294). Zu dem Thema "Freitag, der 13." weiß Harder zu berichten, dass an diesen Tagen nicht mehr Unfälle als an normalen Freitagen geschehen. Und die Bonsai-Katzen wurden als studentischer Jux entlarvt. Mit Hilfe einer Fotobearbeitungs-Software kamen die Katzen in die Gläser.
Solche Geschichten und Gerüchte geistern als Falschmeldungen durch die Medien oder werden durch Erzählungen verbreitet. Es sind Geschichten, von denen man gehört oder in einer weitergeleiteten E-Mail gelesen, die aber niemand selbst erlebt hat, nur der Bruder der Freundin einer Bekannten. Es gibt viele Bezeichnungen dafür. Wandersagen. Großstadtlegenden. FOAF-Erzählungen ("Friend of a friend"). Urban Legends. Ammen- oder Schauermärchen. Im Kern sind diese Geschichten uralt, wurden jedoch immer wieder modernisiert. Laut Harder geht es dabei um "Schadenfreude, Machbarkeitsdenken, Eifersucht, Ressentiments, Vorurteile oder aber um die Wiederverzauberung unserer 'kalten', rationalen Welt - um zeitlose Erzählstoffe also, die vagabundierende Ängste, Wünsche und Befindlichkeiten in eine Form gießen" (S. 11). Einmal in die Welt gesetzt, sind Großstadtmythen kaum mehr zu kontrollieren. Sie lassen sich selten zurückverfolgen und erweisen sich als erstaunlich resistent gegenüber Fakten und Argumenten. Ihre Beliebtheit erklärt Harder damit, dass sie sich an unsere Gefühle richten. Sie spielen mit unseren Ängsten und Gefühlen, wie Habgier, Neid und Abenteuerlust. "Wandersagen passieren mehr oder weniger ungefiltert den kritischen Verstand, weil sie sich an eine andere, überlegene Instanz richten: an unser Gefühl." (S. 12)
146 Themen greift Harder auf. Dabei sind die verschiedensten Bereiche vertreten. In der Rubrik Außerirdisches greift Harder unter anderem die Mythen um das Bermuda-Dreieck und Kornkreise auf. Astrologie, Feng-Shui und Reinkarnation sind einige Themen der Esoterik. Im Bereich der Medien beschäftigt sich Harder mit dem Film Blair Witch Project, mit Harry Potter und der Wahrheit über Snuff-Filme. Bach-Blüten, Homöopathie und Nierenklau sind einige der Medizin-Themen. Das Kapitel Paranormales umfasst unter anderem Uri Geller, Nostradamus, Pendeln, Poltergeister und Wahrsagen. Für besonders Interessierte findet sich unter nahezu jedem Artikel ein Hinweis zu weiterführender Literatur.
Besonders reizvoll ist, dass das Buch den Leser auch hin und wieder überraschen kann. Schmunzelt man gerade noch über die Leichtgläubigkeit einiger Mitmenschen, so muss man damit rechnen, im nächsten Moment selbst als leichtgläubig entlarvt zu werden. Harder vermittelt den Stand der Wissenschaft zu den unterschiedlichen Themen und regt den Leser an, einige Dinge skeptischer zu betrachten. Dies alles ist in vielen kurzen Geschichten verpackt, die sich gut als Bettlektüre eignen. Wer allerdings an einigen verzauberten und mystifizierten Vorstellungen festhalten möchte, dem sei von dieser Lektüre abgeraten.
Harder, Bernd; Das Lexikon der Großstadtmythen - Unglaubliche Geschichten von Astralreisen bis Zombies; Eichborn AG, Frankfurt a.M., 2005.