Beratung und Information zu neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen
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Rezension zum Erfahrungsbericht:

Der Satan schläft nie - Mein Leben bei den Zwölf Stämmen

 
Bereits im Jahresbericht 2006 berichteten wir unter dem Titel „Schulverweigerer aus religiösen Gründen“ unter anderem auch über eine christlich- fundamentalistische Gruppe in Deutschland, die in diesem Jahr wieder im Fokus der Öffentlichkeit stand: die „Zwölf Stämme“. Grund dafür war bereits 2006 der jahrelange Streit der Gruppe mit den deutschen Behörden um die Schulpflicht, für die in der Gemeinschaft lebenden Kinder. Auch wenn das öffentliche Interesse in den letzten Jahren zurückging, heißt das nicht, dass sich die Probleme mit dieser radikal-christlichen Glaubensgemeinschaft, besonders in Hinblick auf das Kindeswohl, gelöst hätten. Kurzfristig wurde der Gruppe damals eine private Ergänzungsschule bewilligt, die aber aufgrund des fehlenden Fachpersonals wieder geschlossen wurde.

Im Sommer 2013 wandten sich mehrere Aussteiger telefonisch an unsere Beratungsstelle und berichteten von Kindesmisshandlungen in der Gemeinschaft. Kurze Zeit später nahm der RTL Journalist Wolfram Kuhnigk Kontakt mit uns auf und zeigte Frau Riede seine heimlich aufgenommenen Bilder von Züchtigungen kleiner Kinder mit der Rute in dunklen Kellerräumen, mit der Frage, was man gemeinsam für die Kinder tun könnte. Die Aufnahmen habe er auf dem Gelände der Glaubensgemeinschaft in Klosterzimmern in Bayern gemacht. Anhand der Aufnahmen wurde deutlich, dass hier gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vorliegen, die ein Eingreifen staatlicher Behörden erforderlich machen. Gemeinsam wurden die Beweise dem zuständigen Familiengericht vorgelegt. Nachdem die Familienrichterin in Nördlingen das Bildmaterial zur Kenntnis genommen hatte, lud sie zu einem erneuten Termin, um betroffene Aussteiger als Zeugen vernehmen zu können. Zu diesem Termin entschieden sich sechs ehemalige Mitglieder zu einer Zeugenaussage und schilderten ihre schlimmen Erfahrungen. Der Erlass der richterlichen Beschlüsse und die Suche geeigneter Pflegefamilien haben dann nur zwei Wochen in Anspruch genommen, bis die Entscheidung am 05.09.2013 mit Hilfe des Jugendamtes und der Polizei vollstreckt werden konnte. Inzwischen hat Robert Pleyer, der mehr als 20 Jahre seines Lebens in dieser fundamentalistischen Gemeinschaft verbracht hat, sich entschieden, seine Erfahrungen umfassend zu veröffentlichen.

Im Vorwort, das von der Leiterin unserer Beratungsstelle, Frau Riede, verfasst wurde, erhält der Leser einen komprimierten Einblick in die Geschichte der „Zwölf Stämme“ und grundlegendes Wissen über Merkmale konfliktträchtiger Gruppierungen.

In seinem Vorwort beschreibt der Autor äußerst emotional die Gründe, die ihn zum Schreiben dieses Buches bewegt haben. Gefühlsbetont formuliert er rückschauend sein eigenes Unverständnis bezüglich seiner Vergangenheit in der Gruppe und seine Scham gegenüber seiner vier Kinder.

Zu Beginn der Geschichte lernt der Leser Robert Pleyer als einen 20 jährigen jungen Mann kennen, der auf der Suche nach Halt, Geborgenheit und Individualität in einer Gemeinschaft strandet, die ihm genau das alles verspricht. Innerhalb kürzester Zeit lässt er sein altes Leben hinter sich und unterwirft sich einer Gruppe, die ihm das Gefühl von Einzigartigkeit und Wichtigkeit vermittelt. Er arbeitet im Gartenbau und in der Bäckerei und später auch als Sportlehrer für die Kinder der Gemeinschaft. Schnell stellen sich die ersten Zweifel ein. Seine Vorstellungen von kindgerechter Erziehung und Ertüchtigung sind absolut konträr dessen, was er in der Gemeinschaft kennen lernt und mittragen soll. Kindsein bedeutet hier Entbehrungen, Gehorsam und Unwissen. Desillusioniert verlässt Robert die Gemeinschaft in Südfrankreich und kehrt zurück nach Deutschland. Doch die Glaubensbrüder lassen nicht locker und erreichen durch unermüdlichen Einsatz, dass sich Robert der Gemeinschaft wieder nähert und schließlich erneut als Lehrer tätig wird. Als einen seiner glücklichsten Tage beschreibt der Autor seine Vermählung mit Shalomah, Tochter einer einflussreichen Familie der Gemeinschaft. Roberts Einblicke und Erfahrungen werden hierdurch noch intensiviert. Er muss schmerzlich erfahren, welche Gesetze wirklich in der Gruppe zählen: Absolute Unantastbarkeit der Ältesten, totale Unterordnung der Frau, Besitzlosigkeit des Einzelnen, medizinisch notwendige Behandlungen werden nur im absoluten Notfall bewilligt, Ausbeutung der Arbeitskraft, und was ihn am meisten belastet, das systematische Brechen von Kinderseelen durch Züchtigung und absoluten Gehorsam – alles im Sinne der Bibel. Den Schmerz, den die Kinder in dieser Gemeinschaft erleiden müssen, konkretisiert Pleyer durch einen im Buch veröffentlichten Brief eines 1990 in die Gemeinschaft geborenen Jungen.

Das wohl dramatischste Kapitel des Buches befasst sich mit den wachsenden Zweifeln und dem Ausstieg aus der Gemeinschaft. Inzwischen haben Shalomah und Robert drei Kinder. Robert wird klar: zum Schutz seiner Kinder und zur Rettung seiner Ehe, müssen sie die Gemeinschaft der „Zwölf Stämme“ verlassen. Aufgefangen von seiner Familie starten sie ein neues Leben ohne eigene Wohnung, Arbeit und finanzielle Absicherung. Aber Shalomas Kraft reicht nicht aus. Sie verlässt die Familie und kehrt zurück zu ihren Eltern und somit auch in die Gemeinschaft. Völlig verzweifelt wendet sich Robert an die Ältesten und nach langem Hin und Her erhält er die Erlaubnis, Kontakt zu seiner Frau zu haben. Annäherung und Abgrenzung wechseln sich ab. Es ist ein Auf und Ab der Gefühle. Robert kann und will die Regeln der Gemeinschaft nun endgültig nicht mehr mittragen. Er verlässt wiederum die „Zwölf Stämme“, während seine Frau zum vierten Mal schwanger ist und startet einen Versuch eines neuen Lebens außerhalb der Gruppe, aber in der Nähe seiner Familie. Bei der Geburt seines vierten Kindes darf Robert nicht anwesend sein. Aber durch die Hebamme erfährt er, dass Shalomah wieder erkrankt ist. Hals über Kopf fährt Robert zur Gemeinschaft mit dem Ziel, seine Frau und die vier Kinder zu ihrem eigenen Schutz aus der Gemeinschaft zu holen. Kurzfristig fährt Robert allein mit seinen Kindern nach Berlin zurück, aber einige Zeit später folgt auch Shalomah. Der Beginn eines neuen Lebens für die Familie währt nur kurz. Shalomah verfällt den alten, tief verwurzelten Strukturen und verlässt für ihren Glauben ihren Mann und ihre vier Kinder. Sie wird den Weg zu ihrer Familie nicht wiederfinden. Robert erhält schließlich das alleinige Sorgerecht und beginnt ein neues, selbstbestimmtes und freies Leben mit seinen Kindern.

Den Leser wird die glaubwürdig und authentisch geschilderte Geschichte des Robert Pleyer schockieren. Trotz der Sachlichkeit bleibt es unvorstellbar, dass so etwas in Deutschland geschehen ist. Dieser Aussteigerbericht ist spannend und informativ zugleich. Absolut empfehlenswert.

Die Autoren: Robert Pleyer mit Axel Wolfsgruber
Taschenbuch:      280 Seiten
Verlag: Knaur Verlag; 2014
ISBN: 978-3-426-78736-6
Preis:  14,99 €