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Rezension zum Erfahrungsbericht

Unser geraubtes Leben

Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte


Schon seit Jahren kennen wir die Autorin Ulla Fröhling durch Publikationen, in denen sie sich immer wieder angstbesetzten Themen widmet. In dem hier vorgestellten Erfahrungsbericht widmet sie sich der Gruppe Colonia Dignidad, über die man eigentlich wenig weiß, obwohl deren Existenz und die in der Gruppe begangenen Verbrechen, unumstritten sind. Eingebettet in eine reale Liebesgeschichte, erhält der Leser einen schockierenden Einblick in die Strukturen, die Manipulationen und den Überlebenskampf einiger Mitglieder der Colonia Dignidad.

Paul Schäfer (1921-2010), Gründer und Führer der Colonia Dignidad (Kolonie der Würde), begann schon als junger Mann im Auftrag der evangelischen Kirche seine Arbeit mit Kindern. Sehr schnell wurde deutlich, dass er seine Stellung missbraucht und sich an ihm anvertrauten Kindern vergeht. Schnell folgen Kündigung und Ermittlungsverfahren wegen sexuellen Missbrauchs an Schutzbefohlenen. Aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen, flüchtet Schäfer gezielt und geplant Anfang der 1960iger Jahre aus Deutschland nach Chile. Mehrere hundert Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago de Chile, entsteht eine über 30.000 Hektar große Siedlung, auf die sich Schäfer mit seinen Anhängern, die ihn allerdings mehr oder wenig freiwillig folgten, zurückzieht. Abgeriegelt und abgeschirmt von der Öffentlichkeit und ohne Angst vor Repressalien, konnte Schäfer nun seinen krankhaften Neigungen ungezügelt nachgehen und die „Kolonie der Würde“ ausbauen. Nach jahrzehntelanger Gewaltherrschaft muss Schäfer flüchten und wird endlich im März 2005 in Argentinien verhaftet. Ein chilenisches Gericht verurteilte ihn 2006, neben einer beträchtlichen Geldstrafe, zu einer Haftstrafe von 20 Jahren. Später folgten weitere Verurteilungen. Im April 2010 verstarb Schäfer in einem chilenischen Krankenhaus an einem Herzleiden.

Nachdem die Autorin in ihrem Vorwort auf die Beweggründe hinweist, die sie zum Schreiben dieses Buches veranlassten, folgt ein bedrückender Prolog, der dem Leser bereits hier deutlich macht, dass es sich bei der folgenden Geschichte nicht um eine gewöhnliche Liebesgeschichte handelt.

Teil 1  Die Saat der Gewalt – Deutschland 1945 – 1961
Die Autorin beginnt den ersten Teil ihres Buches mit der Beschreibung des 5. August 1956 und stellt dem Leser drei der wichtigsten Protagonisten dieses Buches vor: Wolfgang Müller (9), Gudrun Wagner (14), ihre Familien, ihren Alltag und ihr erstes Zusammentreffen. Aber auch einen Mann namens Paul Schäfer, seine Ziele, seine arglistigen Taktiken und seine kranken Phantasien. Der Leser erfährt eine Menge über den gezielten Ausbau der Gruppe um Paul Schäfer und dessen perfide Methoden beim Umgang mit offenherzigen Menschen. Erschreckende Szenen werden beschrieben. Szenen, in denen Kinder missbraucht werden, wie z.B. Wolfgang – erst 10 Jahre alt. Trotz der umfangreichen Informationen zum Aufbau und Wachsen der Sekte, legt die Autorin viel Wert darauf, die Entwicklung Wolfgangs und Gudruns im gesamten Kapitel nicht aus den Augen zu verlieren.

Teil 2  Gespaltene Welten – Chile 1961- 1997
Nach der bis ins Detail geplanten Flucht nach Chile, beginnt Schäfer ein noch schärferes Regime zu führen. Seine Anhänger finden sich in einem mit Stacheldraht und hohen Zäunen von der Außenwelt abgeschotteten Lager wieder. Familien werden brutal auseinander gerissen, Menschen misshandelt und gefügig gemacht. Jeder Fluchtversuch scheint aussichtslos. Wolfgang ist seit 1961 im Lager und hofft auf die Ankunft Gudruns, die sich noch in Siegburg aufhält, um für Schäfer zu arbeiten. Erst 1968 darf auch Gudrun nach Chile einreisen. Nach langen sieben Jahren sehen sich Wolfgang und Gudrun wieder. Aufgrund der von Schäfer erlassenen Verbote, ist es erst vier Jahre später möglich, dass sie Kontakt miteinander haben, natürlich heimlich und unter größten Ängsten. Bei diesem Treffen geben sie sich das Versprechen, immer zusammen zu bleiben, auch wenn das unter den Bedingungen im Lager unmöglich erscheint. Am Ende ist klar: In der Zeit in Chile konnten sich die beiden Liebenden ungefähr zehn Mal sehen.

Aufgrund der schweren Zwangsarbeiten, schwerster psychischer und physischer Misshandlungen, wie Folter mit Stromstößen, werden immer mehr Menschen krank. Aber auch daran dachte Schäfer: laut ehemaliger Anhänger existierte neben einem Krankenhaus auch eine geheime „psychiatrische Klinik“. Eine Behandlung der Kranken außerhalb des Lagers wäre viel zu gefährlich gewesen.

Teil 3  Der Strick
Nachdem es 1997 endlich zu Anzeigen gegen Schäfer wegen sexuellen Missbrauchs kam, flüchtete er nach Argentinien, von wo er die Gruppe weiter nach alt bewährter Manier dirigiert. Im Lager selbst hat sich augenscheinlich nichts geändert. Weiterhin haben die Menschen eine solche Angst, dass auch Gudrun und Wolfgang nur heimliche Treffen wagen. Endlich, ein Jahr später, erhalten sie die Erlaubnis zu heiraten und 2005 beschließen sie, die Kolonie, jetzt „Villa Baviera“, zu verlassen. In diesem Teil des Buches veranschaulicht die Autorin sehr gefühlvoll, dass selbst das „nach Hause kommen“ für Wolfgang und Gudrun, aber auch für viele andere Menschen aus der Gruppe, mit massiven psychischen und physischen Problemen verbunden ist.

Im Nachwort geht die Autorin gezielt auf die gegenwärtige Situation in Chile ein und erläutert abschließend Termini, die sowohl für die Colonia Dignidad, als auch für viele andere so genannte Sekten bezeichnend sind. Falls Sie weitere, sehr interessante Informationen wollen, schauen Sie doch unter: www.unser-geraubtes-leben.de nach. Allerdings sollten Sie beachten, dass die Informationen emotional schwer zu ertragen sind.

Ein absolut empfehlenswertes Werk für erwachsene Leser, das eine Menge Hintergrundwissen vermittelt. Deutlicher und einfühlsamer kann man solche erschütternden Erfahrungen kaum wiedergeben. Schockierende Verbrechen und eine Liebesgeschichte, die seines Gleichen sucht.

 

Autorin:  Ulla Fröhling
Taschenbuch: 314 Seiten
Verlag: Bastei Lübbe
ISBN: 978-3-404-61660-2
Preis: 8, 99 Euro