Beratung und Information zu neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen
gefördert durch das
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Spurensuche Glaube

  • Unheilbar gibt es nicht! Vertraue und glaube.
    (Grundbotschaft des Bruno Gröning Freundeskreis)
  • Gebrochenes Genick geheilt! - Von Aids geheilt!
    (Heilungsberichte der Christlichen Wissenschaft)

  • Du willst eine Million? Glaube an dich und du wirst sie bekommen!
    (Prinzip diverser „Erfolgsseminare“)

  • Sei dein eigener Gott und tue was du willst.
    (Grundaussage aus dem Bereich des Satanismus)

 

Alles glauben?

Diese exemplarischen Aussagen sind dem weiten Bereich der „Neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen“ entnommen. In ihrer Plakativität legen sie nahe, dass der Verstand eher hinderlich ist, gilt es sie zu glauben oder nach ihnen zu leben. Demzufolge heißt ein Buchtitel zu totalitären, religiösen Gemeinschaften auch: „Du musst nur Deinen Kopf abgeben!“ (Gerber/ Vogel, 1984)

Glaube kann die Möglichkeiten und Grenzen des Verstandes übersteigen, transzendieren. Mit dieser Option des Vertrauens gegen den Augenschein kann Glaube „Berge versetzen“, wie es im Anklang an ein Jesuswort heißt. Die Vorstellung, dass der Glaube die Lebensqualität entscheidend beeinflusst und bei der Heilung von Krankheiten hilft, ist weitaus älter als die ebenfalls von Jesus überlieferten Worte „Dein Glaube hat Dir geholfen.“ Weder lassen sich die Ziele noch der Weg zu Heilung, Glück und Erfolg festlegen auf eine bestimmte Weltanschauung, auf positives Denken oder einen Placeboeffekt.

„Fromme Menschen sind glücklicher“ heißt eine Studie (Universität Würzburg, 2000) - „Wenn Gottesbilder die Seele krank machen“ ist Titel und Thema mehrerer anderer Publikationen (u.a. Hark, Religiöse Neurosen, 1984). Gemeinsam umreißen sie die Spannweite dessen, was Glaube „bewirken“ kann. Wenn Glaubensstrukturen aber den Verstand oder die Gesundheit torpedieren (z.T. gezielt: Gebet als alleiniges Heilmittel), müssen sie sich auf ihre Eignung für ein gelingendes Lebenskonzept befragen lassen. Religion sei Opium für das Volk hieß es vor allem in Ablehnung von Institutionen und Strukturen, welche Menschen unmündig halten. Neben die fortschreitende Säkularisierung schiebt sich allerdings eine wachsende „Esoterisierung“ der Gesellschaft:

Gott ist tot, es lebe seine Wiedergeburt, seine Reinkarnation in die vielen Götter, Götzen, Engel, Dämonen, Mächte und Kräfte - und natürlich in jeden und jeder von uns. Hexen, Druiden, Channelmedien, Rebirthingtherapeuten, schamanische Jäger verlorener Seelenanteile helfen z.B. auf dem Weg ins Licht ... Goethes Gretchenfrage „Wie hältst Du’s mit der Religion?“ ist hochaktuell.

 

Glaube: unnötig oder unvermeidbar?

Mit zunehmender Erklärbarkeit der Welt, technischem Fortschritt und wachsenden Machbarkeitsvorstellungen vollzog sich ein Rückzug Gottes als integraler Bestandteil und notwendiges sinnstiftendes Erklärungsmuster aus dem Weltbild. Die florierenden Wissenschaften fungierten lange als eine Art "Ersatzreligion" für andere Gläubige. Albert Einstein konnte zwar formulieren, dass angesichts der Harmonie der Naturgesetzlichkeiten der ernsthafte Forscher der einzig tief religiöse Mensch sei in einer materialistischen Welt. Doch wird „Gott“ (wenn überhaupt) nur noch für den unerklärlichen und wunderbaren „Rest“ oder für eine vom „realen getrennte“ spirituelle Sicht der Dinge gelten gelassen.

Psychoanalytiker in der Nachfolge Freuds haben religiöse Gefühle als Regressionsmodell gewertet. Der Rückfall in kindliche Erwartungshaltung sei demnach ein verständlicher aber unreifer Versuch mit Stress und Todesangst umzugehen. C.G. Jung-Anhänger finden dagegen in Glaubensbildern die Aktualisierung der Archetypen, die dem kollektiven Unbewussten entspringen.

Religionspsychologen sehen Religionsausbildung als universales Merkmal menschlicher Natur. Religion erfüllt einen Zweck im Überlebenskampf. Etwa als ein evolutionärer Ersatz für zurückgehende Instinkte. Auf der sozialen Ebene haben religiöse Vorschriften zumeist die Gesundheit der Gemeinschaft im Sinn und garantieren ein friedliches und produktiveres Zusammenleben. Auch machtpolitische Gründe sprechen für die Erfolge religiöser Systeme. Ein anderes Modell betrachtet Religionsausbildung als ein Begleitprodukt der Hirnentwicklung. Denn vielleicht führte das erwachende Bewusstsein des frühen Menschen zur Verunsicherung seiner selbst im Gegenüber zur übermächtigen Natur. Der Glaube an eine höhere Macht könnte demnach unsere Vorfahren davor bewahrt haben, angesichts der eigenen Sterblichkeit in Depressionen zu versinken.

In der Sicht neurobiologischer Prozesssteuerung lassen sich transzendente Zustände als Trugbild unserer Neuronen darstellen - mit schwer bestimmbaren Zweck. Erleuchtung ist dann eine „verwandte Form“ der auch als „heilige Krankheit“ bekannten Epilepsie. Das eröffnet eine moderne differentialdiagnostische Sicht z.B. des Bekehrungserlebnisses, welches den Saulus zum Paulus werden ließ: „Ein starker epileptischer Anfall, einhergehend mit zeitweiliger psychogener Blindheit, halluzinierten Stimmen und starker Migräne.“ (GEO Wissen, Nr. 29, 2002. Wer erklärt uns die Welt? Erkenntnis, Weisheit, Spiritualität) Der Prophet Mohammed, Hildegard von Bingen, die Jungfrau von Orleans und Van Gogh kommen zu ähnlichen posthumen „Ehren“.

 

Glaube und spirituelles Erleben

Solche Erklärungen helfen kulturelle Phänomene und individuelle Ausprägungen von Glauben zu verstehen und einzuordnen. Doch können sie eigene „Glaubenserfahrung“ nicht ersetzen, wie z.B. eine vorgegebene Situation in einem größeren Sinnzusammenhang begriffen und durch solche Transzendierung (auch über das Diesseitige und Augenscheinliche hinaus) neu bewertet werden kann. Erfahrungswerte spiegeln sich wieder in den verschiedenen Bedeutungen von Worten, die mit Glauben übersetzt werden: Das alte deutsche galaubjan bedeutet sich etwas lieb/ vertraut machen. Das Lateinische credere kommt von cor dare, herzlich vertrauen. Griechische Begriffe lassen sich mit vertrauen, gehorchen und auferbauen übersetzen. Hebräische haben u.a. die Bedeutung von zuverlässig sein, hoffen auf, sich bergen, Geduld haben. Der Hindu Begriff für Glauben „sraddha: sein Herz an etwas hängen“ liegt nahe an Luthers Definition: „Woran der Mensch sein Herz hängt, das ist sein Gott.“

Auch die (im jeweiligen Kontext verschiedenen) mitschwingenden Worte beim deutschen Sprachgebrauch des Wortes Glauben helfen weiter, Erfahrungswerte zu benennen: Ahnen, Hoffen, Unsicherheit, „Nicht-Wissen“, Orientierung, Sinn, Frömmigkeit, Spiritualität, Stärke, Suche, Persönlichkeitsentwicklung, Gewissheit, Zeugnis geben, Fanatismus, Leichtgläubigkeit, Naivität, Aberglaube ...

Der Umgang mit dem, was Religion und Glaube seit Menschengedenken ausmacht, verändert sich: Traditionell kann Glaube als Begriff für ein den Menschen in seiner ganzen Existenz und darüber hinaus bestimmendes Element gelten. Als Lebensmodell einer ganzen Volksgruppe. Hierzulande wird er oft als intime Privatsache verstanden - ohne sichtbar werdende Verhaltensmuster oder Bindungen. Weltanschauliches Leben zeigt sich aber auch vermehrt in loser Aneinanderreihung spiritueller Happenings, Kurse oder Therapien ohne Anspruch auf Integration in ein einheitliches Konzept. Hinzu kommen noch diverse „weltanschauliche Versatzstücke“, die neben einem formuliertem Glauben stehen können:

  • Ich bin nicht abergläubig, aber am Freitag, den 13., ist mir mulmig zumute.

  • Ich glaube an die Kraft von Edelsteinen - mit Esoterik habe ich aber nichts am Hut.

  • Ich lese täglich mein Horoskop. Irgendwas ist da bestimmt dran.

Repräsentative Umfragen (u.a. Allensbach 2002) belegen den wachsenden Glauben an Geister, magische Zusammenhänge und insbesondere an die Astrologie. Die meisten dieser „Gläubigen“ lesen vermutlich zum Vergnügen die Horoskope in einer Tageszeitung - sie lassen sich einfach gerne eine Ermunterung für den Tag mitgeben, so wie die Leser diverser Sprüchekalender oder der Bibeltageslosung. Einige kaufen auch teure astrologische Einzelanfertigungen als echte Entscheidungshilfe.

In den leerer werdenden institutionellen Großkirchen gilt es (inzwischen) als normal zu sagen: ich glaube auch nicht alles wörtlich. Vieles ist mythologisch zu verstehen. Katholischer Glaube z.B. ja, Papst nein. Autoritär monologische Glaubensvermittlung verliert sich zu Gunsten einer Freiheit, sich dialogisch auseinander zu setzen. Mit der Eigenverantwortlichkeit in der eigenen Glaubensbeschreibung differenziert sich die Gemeinschaft. Eine klar erkennbare Verbindlichkeit mit Notwendigkeit zur Ein-/ Unterordnung gibt es nicht mehr. Lehren und Riten religiöser Institutionen leisten nach wie vor vieles in Lebenshilfe und Beantwortung von Grundfragen des Lebens. Doch bieten das in einem gewissen Umfang auch Kunst, Konsum, selbst Sportereignisse mit quasireligiösem Kultcharakter und übernehmen damit Funktionen von Religion. Früher getrennte Bereiche vermischen sich: Alternative Therapien und Hilfeangebote zur Lebensbewältigung nehmen religiöse Begriffe sowie Meditationsformen unterschiedlichster religiöser Herkunft auf. Kultische Elemente finden sich in Unterhaltungsprogrammen, im Tourismus, in der Architektur, auch die Werbung bedient sich gerne religiöser Motive.

Äußere, haltgebende Gewissheiten lösen sich auf oder werden als immer wenig tragfähig angesehen. Der zunehmende Zerfall eines technikfixierten Fortschrittsglaubens, die immer deutlicher werdenden negativen Folgen menschlichen Handelns im engeren und weiteren Lebensumfeld lassen die Zweifel an herkömmlichen Lebensmustern und die Sehnsucht nach neuer Orientierung wachsen. Dadurch, dass die Selbstverständlichkeit gemeinsamer Werte durch die moderne Entwicklung in Frage gestellt wird, hat der einzelne viel mehr Freiheit, sich sein Weltbild und seinen Lebensstil selbst zusammen zu stellen. Die Respiritualisierung der Lebensbezüge wird dabei in Eigenregie übernommen. In einer Art experimentellen Glaubensrevolution sind manche denn auch „ihres eigenen Gottes Schmied“.

Mit dieser Freiheit sind viele überfordert. Es sind daher ebenso Tendenzen sichtbar zu einer gegenläufigen Radikalisierung. Die Sehnsucht nach Gewissheiten zeigt sich im Zulauf zu fundamentalistisch ausgerichteten Gruppierungen, die durch klare Richtlinien Halt und Orientierung versprechen - bei gleichzeitiger äußerer De-Institutionalisierung. Ein Beispiel christlich konservativer Werterhaltung bei äußerlichem Traditionsbruch bilden die „Jesus Freaks“ (Jesus, ich hab Bock auf Dich!).

Die Hoffnung auf gelingendes Leben kann sich jedoch ebenso in einen Machbarkeitsglauben im eigenen Handlungsbereich verlagern. Erfolgsgurus haben trotz des Misserfolgs Einzelner Hochkonjunktur. Bereitwillig wird für Powerpredigten gezahlt, die dem bedingungslosen Glauben an die eigene Kraft eine erfolgreiche Zukunft und Luxus verheißen. Verlockend und wohltuend kann die immerzu wiederholte Botschaft sein: Du bist wer, du schaffst alles, du gehörst zur Elite, nimm was dir zusteht, sei dein eigener Schöpfer. Auf dem Weg zu den erfüllten (meist konsumdiktierten) Träumen werden Kritik und Hindernisse oft schlicht ausgeblendet. Scheitern kommt nur bei den Verlierern vor - bis man dazu gehört.

Dem Wunsch nach weniger Komplexität kommen ebenfalls verschiedenste Gruppierungen und Weltanschauungsgemeinschaften nach, die sich als Essenz aller Religionen verstehen, oder als evolutionär höchststehende Ausdrucksform jeglichen religiösen Strebens und Sehnens. Allerdings entpuppt sich ein derartiges Gleichmachen ebenso wie ein tolerantes „wir glauben doch letztlich ohnehin alle an das Gleiche“ schnell als oberflächlich. Der komplexe kulturelle Ballast scheint entbehrlich, die jeweilige Tradition wird nicht wertgeschätzt. Vorsichtige Versuche interreligiösen Gespräches lassen auch die traditionellen Kirchen erkennen. Absolutheitsansprüche treten allmählich zurück und geben Raum, um Gemeinsamkeiten zu erkennen und Trennendes zu respektieren. In diesem Zusammenhang ist ein bereits langandauernder Erfahrungsaustausch bei spirituellen Erfahrungsformen mit unterschiedlichen Traditionen erwähnenswert: die experimentelle Annäherung der christlichen Mystik an buddhistische Zenmeditation oder islamisches Sufitum.

 

Spiritualität oder Aberglaube?

Während manche für ihren privaten Glauben an Gott ohne jeglichen Kult auskommen möchten, zelebrieren andere z.B. buddhistische Rituale ohne jegliche Gottesvorstellung - teils in einer Art Selbstinszenierung auf dem Weg zur Erlösung. Neben traditionellen Vorstellungen finden sich neu formulierte Gedanken die vom jeweiligen religionsgeschichtlichen Ursprung etwa so weit entfernt sind, wie der kulturgeschichtlich uns nähere Jesus von einem extraterrestrischen Lehrer, auf die Erde gesandt um die Menschen ein neues Bewusstsein zu lehren. Der Theologe Rudolf Bultmann versuchte in den 50’er Jahren noch Verstand und Glaube auszusöhnen, in dem er den Wahrheitsgehalt von Wundererzählungen neu definierte (Entmythologisierung). Die im Rahmen mythischer Weltvorstellung gesprochene Botschaft sollte auch den modernen Menschen mit seinem neuzeitlichen Verständnis von Wirklichkeit ansprechen. Die Theologie gibt sich realitätsnah, weniger auf das Heilige als auf den Puls der Zeit fokussiert. Doch die Gesellschaft hat den Glauben an das Wunderbare längst wiederentdeckt.

Eine Renaissance des „Übersinnlichen“ verklärt das nüchterne Bild von der Wirklichkeit. Erklärbarkeit reicht zur Darstellung des Erlebten oder Erhofften nicht mehr aus, noch kann sie als Gegenargument dienen. Das heutige Wissen um die Welt und ihrer Gesetze steht oft unvereinbar, aber scheinbar friedlich neben den neuen/alten geglaubten Kräften, Mächten und Wundern. Einander ausschließende Konzepte von Realität werden unwidersprochen nebeneinander akzeptiert oder postuliert. Der anhaltende Boom der Spiritualität betrifft alle Lebensbereiche:

„Ganzheitliche“ Behandlungsformen und Wellnessangebote aus der traditionellen chinesischen Medizin oder der Tradition des indischen Ayur Veda erfreuen sich wachsender Beliebtheit und sollen auch der spirituellen Entwicklung dienen. Geschäftlicher Erfolg wird als Stufe auf dem Weg zur eigenen spirituellen Vervollkommnung angesehen und in entsprechenden Erfolgsseminaren mit elitärem Gehabe und vollständiger Verdrängung jeglicher kritischer Momente beschworen. Die Wohnung kann nach Feng Shui Prinzipien eingerichtet werden, denen mit Maßnahmen zur Schadensabwehr und Kanalisierung von positiven Strömen zum Teil magische und spiritistische Vorstellungen zugrundeliegen. Meditationskurse können der Gelassenheit im Alltagsstress zugute kommen oder aber mithilfe verschiedener (auto-) suggestiver Techniken eine psychische Verunsicherung bewirken. Neben dem einfachen Schutzengel existieren apokalyptische Szenarien von Engel- und Dämonenheerscharen neben und durch uns. Atlantissteine und Baumgeister helfen uns bei der Harmonisierung mit unserer Umwelt. Kurse wollen die Fähigkeit vermitteln zu „Heilen wie Jesus“. In den Nachrichten ist von Klonexperimenten am Menschen die Rede - so wie auch das Leben auf der Erde vor 28.000 Jahren von Aliens geklont worden sei.

Wer hier den Überblick oder aber gelegentlich etwas anderes verliert, der findet klassische Hilfe im hochtechnisierten Gewand unter „www.heiligerantonius.de “. In einem „Anrufungsformular“ kann man seinen Verlust näher bezeichnen („Heiliger Antonius, du guter Mann, führe mich an ........ heran !“). Es wird dem Websurfer versichert, dass der Heilige Antonius auch Menschen hilft, die nicht besonders gläubig sind oder keiner Kirche angehören. Die freiwillige Spende aus (Vor-) Freude am Wiedergefundenen wird an die Basilika in Padua oder die Antoniuskapelle in Kressborn erbeten - sie kommt Waisenkindern und Bedürftigen zugute. Auf der Seite mit den Erfolgsberichten werden wiedergefundener Schmuck, ein Führerschein, sogar ein verlorener und neugefundener Job erwähnt.

Von „aufgeklärteren“ traditionellen Kirchen preisgegebener Boden wird von anderen neu eingesät: Das römisch-katholische „Rituale Romanum“ wird im deutschsprachigen Bereich nicht mehr (ohne weiteres) angewendet. Doch der Exorzismus erfährt in Deutschland eine neue Blüte - sowohl in katholischen Splittergruppen, als auch in manchen charismatisch-freikirchlichen Gemeinschaften. Psychische Probleme werden einseitig spirituell gedeutet. Die Dämonisierung von uneingestandenen Gefühlen oder spannungsgeladenen Beziehungen machen dann ein „Befreiungsgebet“ notwendig. „Christliche Mächte“ garantieren noch weitere spirituelle Erlebnisse der besonderen Art: Spontan-Ohnmacht, Spontanheilung, oder serienmäßig „spontane“ Marienerscheinungen. Die Zuversicht von Paulus „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch irgendeine Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus ist, unserem Herrn.“ (Römer 8,38) gewinnt im „Wassermannzeitalter“ eine ungeahnte Aktualität.

Die Vorstellung einer erlebten Gottesgegenwart z.B. der Mystiker steht neben einem spirituell gedeuteten Gefühl persönlicher Grenzerfahrungen wie etwa beim Bungee-Sprung. Die Suche nach Spiritualität verbindet sich mit dem Erlebnishunger einer „generation kick“ (Farin, generation-kick.de: Jugendsubkulturen heute; 2001) Galt früher der Glaube als ein das Leben und Sterben begleitendes Prinzip, wird heute vielfach das gesuchte (gekaufte) Erlebnis zur bewusstseinserweiternden Stufe, der weitere Stufen folgen sollen. Das religiöse Bezugssystem kann dabei zwischenzeitlich wechseln (diese Woche Edelsteintherapie, nächste Woche Reiki, dann vedische Mantren oder Kraftpyramide). Lebenslanger Glaubensarbeit mit Zweifeln und Wachsen steht ein Patchworksystem gegenüber, welches, jegliche kulturelle Verkrustung abwerfend, mit bunter Vielfalt gegen die alltägliche Eintönigkeit antritt. Wo auf der einen Seite dem „Glaubenwollen“ die glaubensgesetzliche Einengung droht, zerfließt auf der anderen Seite die spirituelle Suche in konsumorientierter Beliebigkeit und Unverbindlichkeit. Viele der Angebote können das (spirituelle) Leben bereichern. In der Vielfalt der Formen liegt durchaus die Chance zur Entwicklung eines selbstbestimmten integrativen Lebenskonzeptes. Doch kann es aufgrund der eigenen (psycho-sozialen) Befindlichkeit sowie aufgrund mangelnder Kompetenz von Anbietern auch zur psychischen Destabilisierung und Desintegration vom eigenen sozialen Lebensumfeld kommen.

Da Markt und Medien die gesellschaftliche Sicht der Realität massiv mitbestimmen, kann es nicht verwundern, wenn ein Medienkonzern eine Stiftung namens „Geistige Orientierung“ einrichtet. Im Stiftungsauftrag zeigt sich aber auch das Bewusstsein für Mitverantwortung: „Krisen überwinden helfen, die mit dem Wandel der Werte und dem Verlust von Sinnhorizonten eng verbunden sind.“ „Wenn Lebensziele und -inhalte im Pluralismus miteinander konkurrieren, sind die Eliten gefordert, der Gesellschaft wirksame Orientierungen zu vermitteln.“ Doch weder der Staat als Rechtsgemeinschaft noch der Markt als Konsumgemeinschaft dürfen, aufgrund drohenden Interessenkonfliktes, auch Heilsgemeinschaft sein - mit der Wahrheit im „Angebot“. Traditionelle religiöse Autoritäten und Institutionen leiden durch die Liberalisierung und Pluralisierung unter einem verbreitet empfundenen Verlust an Wirkmächtigkeit für das eigene Leben. Wichtig sind mediengerecht dargestellte Authentizität in der Wertevermittlung und Anpassung an den spirituellen Bedürfniswandel. Umfragen in Deutschland zufolge steht hier der Dalai Lama weit oben in der Rangfolge - unabhängig von tieferer Kenntnis buddhistischer Traditionen.

 

Wer glaubt das denn?

Woran Menschen zu glauben bereit sind, stößt leicht auf Unverständnis seitens des sozialen, betrachtenden Umfelds. Bei „Einstieg“ in eine Gemeinschaft geht es aber oft weniger um bestimmte Glaubensinhalte, die ohnehin meist erst nach und nach vermittelt werden. Existentielle Ungewissheiten und emotionale Sehnsüchte lassen nach Glaubenskonzepten greifen in der Hoffnung auf Beantwortung und Erfüllung (Die sind so nett. Sie bilden eine große Familie. Sie wirken so selbstsicher, ...). Es lockt die Zugehörigkeit zu einer „Heils“-Gemeinschaft. Die Profi(t)-Glaubenden stehen als Garanten für die Glaubwürdigkeit des Glaubensinhaltes. Begründungen und tiefere Einsichten werden delegiert. Die Glaubenshoffnung klammert sich an die immerhin für möglich gehaltene Wirkmächtigkeit dessen, wovon die anderen überzeugt zu sein scheinen. So kann eine mehr oder weniger tragfähige Gemeinschaftskonstruktion von Glaubenswirklichkeit entstehen. Eine Diskussion mit Außenstehenden auf der Ebene der Glaubensinhalte nötigt in einer apologetischen Reaktion eher zu einer Verteidigung von Inhalten, die möglicherweise selbst bezweifelt werden und dient damit der Verfestigung der Strukturen. Zweifel werden leicht verdrängt aus Angst vor Verlust dessen, was man zu haben meint oder noch zu bekommen hofft. Es droht neben möglichem Sinn- auch der Gemeinschaftsverlust. Bei „Aussteigern“ können auch Enttäuschung und Schamgefühle vorherrschen, da sie im Falle einer problematischen Gruppierung oder eines unseriösen Angebotes sich praktisch selbst mit betrogen haben. Geschädigte müssen sich fragen lassen und sich selbst fragen, ob sie das alles wirklich geglaubt haben. Die Eigenständigkeit besteht hier in der freien Wahl des Angebotes/ Versprechens, bzw. wem eine ausreichende Glaubwürdigkeit zugesprochen wird.

Ein gutes Kriterium zur Beurteilung einer weltanschaulichen Gemeinschaft ist ihr Umgang mit Zweiflern. Sie gelten oft als unsichere Kantonisten, die etwa durch offene Infragestellung die Glaubensautorität gefährden. Die Ausklammerung des Zweifels durch Abwertung oder Verbot hat mancher Gruppe das Überleben erleichtert, aber oft genug auch dem Fanatismus alle Türen geöffnet. Verdrängungen beflügeln (auch innere/ gegen sich selbst gerichtete) Gewalt. Angst vor Infragestellung führt dann zu Intoleranz und starren dogmatischen Glaubensstrukturen. „Lebendiger Glaube“ kann weniger vorformulierter Faktenglaube sein als ein Wagnis der eigenen Existenz und Ermutigung zu selbstverantwortetem Leben. Die ängstliche Umklammerung von Fakten ist in der Regel begleitet von einer erschreckenden inneren Unfreiheit. Zur urchristlichen Erfahrung z.B., nach welcher der Glaube an Jesus Christus den Menschen frei macht, steht sie in krassem Widerspruch.

 

Der Staat ist neutral

Eine Reglementierung von Seiten des Staates widerspricht dem Recht auf Religionsfreiheit. Die religiöse Neutralität des modernen Staates ist Frucht einer Jahrhunderte andauernden teils leidvollen Geschichte. Der westfälische Friede von 1648 konnte eine Basis bilden für die Suche nach einer friedenssichernden Ordnung. Die Frage war nicht mehr, welche Religion die Wahre ist, sondern wie die Bürger in Frieden miteinander leben können. Die Säkularisierung des Staates wird damit zum Garanten individueller religiöser Freiheit. So soll im Staat „jeder nach seiner Façon selig werden” wie Friedrich der Große, König von Preußen, sagte - die preußischen Tugenden standen dabei natürlich nicht zur Disposition. Doch erst das Ende der Monarchien bereitete dem „christlichen Staat“ ein Ende. 1949 schließlich konnte das Recht auf Religionsfreiheit Bestandteil des Grundgesetzes werden. Der Staat hat sich als Rechtsgemeinschaft konstituiert, nicht wie z.B. bei islamischen Theokratien auch als Heilsgemeinschaft. Weltanschauliche Neutralität dehnt sich über „religiöse Verschiedenheiten“ hinaus auch auf gesellschaftliche, politische Ideologien und wirtschaftliche Bereiche aus. Der Staat hat sie bis zu der Grenze zu tolerieren, wo sie den Grundlagen seiner Verfassung widersprechen. Heute werden die aus dem „christlichen Abendland“ erwachsenen Werte neu diskutiert. Frühere sozialstaatliche Grundüberzeugungen sind in einer veränderten Gesellschaftslage nicht mehr ohne weiteres konsensfähig. Bei Formulierungsversuchen für eine gemeinsame Wertegrundlage einer Europäischen Union entzünden sich heftige Diskussionen, ob hier das (christliche) geistig-religiöse Erbe erwähnt werden soll. Der unbefangenere Umgang etwa der USA dokumentiert sich auf jeder Dollarnote und Münze: „In God we trust“ - Wir setzen unser Vertrauen in Gott.

Am deutlichsten entwerfen von satanistischem Gedankengut beeinflusste Strömungen ein individualanarchisches Konzept, in dem die soziale Verantwortung purem Sozialdarwinismus weicht. Ein ideologieleitender Satz vom Begründer des modernen Satanismus Crowley lautet: „Tue, was du willst, soll sein das Ganze des Gesetzes.“ (Bischof Augustin sagte um 400: „Liebe, und dann tue was du willst.“)

Es ist fraglich, ob alle Organisationen, die für sich das Recht auf Religionsfreiheit in Anspruch nehmen, dies auch zu Recht tun. Der Scientology-Organisation wird mit guten Gründen der Vorwurf gemacht, die Selbstbezeichnung „Kirche“ aus durchsichtigen Gründen gewählt zu haben, um sich finanzielle Vorteile zu verschaffen. Neben fragwürdigem wirtschaftlichem Verhalten und psychologisch bedenklichen Techniken liegt der Grund für die Beobachtung der Scientology-Organisation durch Organe des Verfassungsschutzes aber in einigen zentralen totalitären, demokratiefeindlichen Grundaussagen.

Das Recht auf Religionsfreiheit ist in Artikel 4 des Grundgesetzes so formuliert:

  1. Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnis sind unverletzlich.

  2. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

Sich daraus ableitende Rechte sind heute nicht nur gegenüber dem Staat zu verteidigen und durchzusetzen, sondern auch gegebenenfalls mit dem Staat gegenüber ungerechtfertigter Inanspruchnahme. Dies gilt für missbräuchliche Einforderung von Privilegien, insbesondere aber wenn Grundrechte von Mitgliedern der Gemeinschaft oder die der ehemaligen Mitglieder und Kritikern verletzt werden. Das Grundgesetz definiert klar den rechtlichen Anspruch auf Würde, freie Entfaltung der Persönlichkeit, Meinungsfreiheit, Schutz der Familie, demokratische Grundprinzipien, usw.. Auf dieser Grundlage fußend ist ein Verbot z.B. bestimmter extremislamistischer Gruppierungen möglich, ihre eigene Einforderung religionsfreiheitlicher Rechte jedoch zum Schutz der oben genannten Rechte ausgeschlossen.

Spirituelle Themen und Therapien werden auf dem gewerblichen Lebenshilfemarkt als Waren angeboten. Hier ist der rechtliche Schutz schwieriger zu definieren:

  • Gibt es unmögliche Leistungsangebote - z.B. magische Beeinflussung Dritter gegen ihren Willen? Solche Beeinflussung wäre - wenn möglich - sittenwidrig. Verträge mit unmöglichen Inhalten aber sind nichtig. Hier kommt es auf die Formulierung der Angebote an.

  • Das Psychotherapeutengesetz hindert niemanden, aus freier Berufung und mit selbstgewählten Titeln (Lebenshelfer, Psychoberater) seinem Klientel mehr oder weniger kompetent zu helfen.

  • Psychotherapie kann auch von Heilpraktikern angeboten werden, die keine psychotherapeutische Ausbildung haben.

Ähnlich den Verbraucherschutzgesetzen wird hier seit längerem der Ruf laut nach gesetzlich geregeltem gesundheitlichen Verbraucherschutz. Der Gesetzentwurf des Lebensbewältigungshilfegesetz zur Regelung gewerblicher Lebensbewältigungshilfe vom Dezember 1997 ist im Bundestag aus Sorge vor Überreglementierung des freien Marktes gescheitert.

 

Weltanschauliche Beratung

Wie aus den vorangegangenen Themenkomplexen ersichtlich, müssen sich Kriterien für ein integrales Glaubenskonzept an der individuellen Lebensgeschichte und dem (weltanschaulich geprägten) Selbst- und Weltbild der einzelnen Person orientieren. Sie können kein statisches Muster bilden, wenn ein Glaube die existentiellen Fragen nach Sinn, Schuld, Zufall oder Endlichkeit beantworten und bei der Bewältigung von Krisensituationen helfen soll. Während Glaube Fragen und Antworten über das Sichtbare und „Irdische“ hinaus in einem größeren Bezugsrahmen transzendieren kann, sind kognitive und „innerweltlich“ bezogene Kriterien diesbezüglich nur begrenzt einsetzbar. Sie müssen sich zwar auf subjektiv empfundene Befindlichkeiten beziehen, denen aber durchaus objektive Sach- und Tatbestände zugrunde liegen können. So kann psychotherapeutische Hilfe der Konfliktbewältigung, seelischen Gesundheit, Stressbewältigung und Persönlichkeitsentfaltung dienen. Eine strenge Zuordnung seelsorglicher und psychologischer Bereiche stößt in der Praxis auf Grenzen. Psychotherapie und weltanschauliche Konzepte können in einen fruchtbaren Dialog eintreten.

Für die weltanschaulich neutrale Beratungsarbeit sind sowohl subjektive Befindlichkeiten als auch objektive Kriterien ausschlaggebend. Letztere können, angesichts der weltanschaulichen Vielfalt, letztlich nur allgemeine Anhaltspunkte sein. Nicht zuletzt weil spirituelle Probleme inzwischen auch im „Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen“ (DSM IV) aufgenommen wurden, kann die umfassende Definition von Gesundheitsförderung der Weltgesundheitsorganisation (Ottawa-Charta, 1986) als eine Richtlinie gelten:

"Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahr nehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können".

Der Einfluss spirituellen (Er-) Lebens auf die Lebensqualität ist evident, die psycho­sozialen Lebensbedingungen und die lebensgeschichtlich geprägte Bedürfnisstruktur formen wiederum die Motive für weltanschauliche Entscheidungen und Bindungen. Der Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. hat Kriterien benannt, die eine differenzierte Beurteilung ermöglichen. Eine evtl. Problemlage wird befragt nach

  1. der Ideologie (Theorie, Glauben, Ziele),
  2. einer zentralen Figur (Guru, Meister),
  3. der Gruppenstruktur (Elitegemeinschaft, Hierarchie),
  4. dem Einfluss auf das Mitglied (Bewusstseinskontrolle,
  5. Entindividualisierung, magisches Denken, Kultidentität),
  6. nach Techniken zur Persönlichkeitsveränderung
  7. (Labilisierung, „spirituelles Erlebnis“)
  8. dem Kontakt nach Außen und Umgang mit Ehemaligen und Kritikern.

Das persönliche und fachkompetente Beratungsgespräch hilft dann, allgemeine Kriterien in einen konstruktiven Dialog mit der persönlichen Lebenssituation des Hilfesuchenden/ Gesprächspartners zu bringen. Dabei müssen die weltanschaulichen Präferenzen und deren biografische Motive berücksichtigt werden. Die Hilfe besteht in der Förderung der kommunikativen, sozialen und spirituellen Eigenkompetenz zu selbstbestimmt gewählter und verantworteter weltanschaulicher Bindung oder Loslösung. Dem darf die weltanschauliche Orientierung des Beraters nicht entgegenstehen. Neben der weltanschaulichen Neutralität zählen die Freiwilligkeit des Beratung Wünschenden, die kostenlose Beratung sowie die Schweigepflicht zu den Grundsätzen. Das Arbeitsverständnis und die Besonderheiten der Beratungsarbeit im Sekten-Info Essen e.V. sind (analog zu anderen psycho-sozialen Beratungsstellen) in einem Beratungskonzept festgeschrieben.

Kriterien und Checklisten zur Überprüfung von Gruppierungen und Angeboten auf dem Gebiet der „Neuen religiösen und ideologischen Bewegungen und Psychogruppen“ versendet der Sekten-Info Essen e.V. gerne und hält sie auch auf seiner Webseite bereit.