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„Und die Jungs repräsentieren den geschiedenen Vater“ - Unseriöse Familienaufstellungen

Das ist die Geschichte von Sybille. Ich bin Sybille. Ich bin Ende 30 und habe drei Kinder. Meine beiden Söhne sind in der Pubertät und mein Kleiner ist jetzt ein Jahre alt. 

Angefangen hat alles 2015. Ich war seit 2013 geschieden und lebte mit meinen Kindern in einer modernen Neubauwohnung in einer großen Stadt im Ruhrgebiet. Ich hatte ein gutes Auskommen als MRT Assistentin und war mit meinen Kindern glücklich.
 
Wir gingen jeden Sonntag ins Kino und machten wunderbare Urlaube. Im Mai hatte ich Geburtstag und feierte eine Mottoparty. Viele Leute kamen verkleidet. Zu diesem Abend hatte ich auch Dirk eingeladen. Dirk hatte ich über eine Partnerannonce kennengelernt. Er war Akademiker und wohlhabend. Er kam als "Sensenmann". Relativ zügig haben wir uns verliebt, und ich war die glücklichste Frau der Welt. Wir machten tolle Reisen. Ich war fasziniert, wie sehr er sich für meine Familie interessierte, nicht nur meine „Jetztfamilie“, sondern auch meine „Herkunftsfamilie“. Das Wort Herkunftsfamilie hörte ich mehr oder weniger zum ersten Mal in dieser Wichtigkeit. Ich habe immer nur von Mama und Papa oder Oma und Opa gesprochen. Das gab mir natürlich auch eine gewisse Geborgenheit, dass ein Mensch sich so sehr in meine Familie hineindenkt. Ich konnte mich sehr zu Hause fühlen.

Er hatte zwei Kinder im jugendlichen Alter. Seine Ex-Partnerin mit den Kindern wohnte 10 km von ihm entfernt. Von seiner Ehefrau war er schon seit über zehn Jahren getrennt. Die beiden lebten aber noch mehr oder weniger zusammen, zwar in verschiedenen Wohnungen, aber sie arbeiteten zusammen, und er hat ihr jeden Sommer täglich den Rasen gesprengt und mit seinen Kindern Tennis gespielt. Sämtliche Familienfeiern, wie z. B. Weihnachten und Geburtstage, wurden noch im alten Kreise gefeiert. Am Anfang habe ich nicht bemerkt, dass er noch eine Affaire hatte. Ich selbst habe acht Stunden täglich gearbeitet und hatte bis zu sechs Nachtdienste. Abends war er selbstverständlich bei mir, wir haben zu Abend gegessen, er hat bei mir übernachtet, und am nächsten Morgen musste ich ja auch wieder früh in mein Krankenhaus fahren.

Mit Haut und Haaren wollte er mich haben, er wollte mit mir eine neue Familie gründen. Die Symmetrie wäre so passend sagte er, ich hätte zwei Kinder und er hätte zwei Kinder. Unbedingt wollten wir bis zum Tode zusammenbleiben, ein Kind kriegen, heiraten mit allem, was dazugehört. Er sagte, er habe sich wegen der Symmetrie extra eine Frau mit zwei Kindern gesucht.

Er hat sich scheiden lassen. Er war ja nur noch auf dem Papier verheiratet. Und ich war so glücklich. Wenn wir irgendwo auftauchten, strahlten wir richtig, und meine Söhne kamen gut mit ihm klar. Nach drei Monaten war ich schwanger. Ich hätte nicht gedacht so schnell noch mal schwanger zu werden.

Er hatte ein großes Haus, das relativ verwaist war, weil er gehofft hatte, dass seine Kinder öfter bei ihm leben, wohnen und übernachten würden, was aber nicht der Fall war. Also hatte er einige Zimmer zuviel. Er hat gesagt, es ist alles kein Problem, zieh bei mir ein mit deinen Kindern, und wir werden glücklich. Das habe ich dann auch getan. Ich habe meine Wohnung aufgegeben mit einem gewissen Schmerz, aber es war eben so. Meine Kinder sind brav mitgezogen und zunächst lief auch alles ganz prima. Die Wohnung war im gleichen Stadtteil in dem ich wohnte und somit gab es keine Veränderungen in Sachen Schule, Hort usw.

Schwierig wurde die Sache dann, als ich in den Mutterschutz ging. Ich war plötzlich von morgens bis abends zu Hause und stellte fest, dass er nach wie vor drüben in seiner Familie ein Familienleben fortführte. Er ging mittags mit seinen Kindern fast täglich essen. Er hatte noch einen Schlüssel zur Wohnung seiner geschiedenen Frau und ohne zu klingeln betrat er diese Wohnung. Nach dem Einreichen der Scheidung hatte seine Frau sich direkt einen neuen Job gesucht und nicht mehr in seinem Büro weitergearbeitet.

Es machte sich ein komisches Bauchgefühl breit. Warum diese engen Familienstrukturen, wenn man doch eigentlich geschieden ist, getrennt ist und sich was Neues aufbauen möchte? Ich habe nie etwas dagegen gehabt, guten Kontakt zu seinen Kindern zu kriegen, aber gewisse Regeln, dachte ich, sollte man schon einhalten, z. B. jedes zweite Wochenende oder einmal die Woche Essen gehen. So habe ich es mit meinem ehemaligen Mann auch gehalten, und wir sind damit immer gut gefahren.

Und dann kam der Kleine auf die Welt – kurz vor Ostern 2016. Wir waren bei den Schwiegereltern eingeladen. Ohne mir etwas zu denken, habe ich meine Jungs mitgenommen, und wir sind am Ostersonntag bei den Schwiegereltern mit dem neuen Baby aufgetaucht. Dort saßen dann auch noch die Ex-Frau und seine Kinder. Seine Ex-Frau hatte Tränen in den Augen, und sein Vater ging einfach weg mit den Worten: „Was sollen diese Jungs hier, die sind nicht mit mir blutsverwandt. Ich möchte an einem Feiertag keine fremden Leute hier in meiner Wohnung haben.“

Über das Baby hat sich übrigens keiner gefreut, es wurde immer nur von der neuen Situation gesprochen. Ich hätte mein Kind auch „neue Situation“ nennen können.

Ich habe Dirk gefragt, ob das so richtig ist, dass seine Ex-Frau mit dabei ist und alles so unendlich vermischt wird und was er dazu sagt, dass meine Kinder so wenig akzeptiert werden. Er hat doch auch Kinder, die von mir voll und ganz akzeptiert werden. Ich bekam Antworten wie: „Ja, das sind meine alten Familienstrukturen. Die erste Frau zählt immer mehr als die zweite Frau. Mein Vater hat eine schwere Geschichte hinter sich, er hat als Kind einen schweren Unfall mit seinem Vater miterlebt und ist wohl vermutlich in einer fremden Familie aufgewachsen. Du musst das alles mit den Herkunftsfamilien unsererseits in Verbindung bringen und verstehen. Und übrigens, ich habe mir Gedanken über Deine Familie gemacht. Letztlich repräsentierst Du Deine Großmutter. Du bist die Stellvertreterin Deiner Großmutter. Die ist auch zum zweiten Mal verheiratet gewesen und konnte die erste Familie nicht akzeptieren. Du repräsentierst die Oma Erna, und Du hast wahrscheinlich ein gesteigertes Geltungsbedürfnis. Und deswegen kannst Du das alles nicht akzeptieren, dass ich noch eine vorherige Familie habe. Außerdem musst Du sehen, es ist wie beim Märchen, die 13. Fee darf man nicht ausladen, also meine Ex-Frau darf nicht ausgeladen werden, sonst verfallen wir alle in einen hundertjährigen Schlaf. Deswegen muss meine Ex-Frau immer bei allem dabei sein.“

Ich habe die Welt nicht mehr verstanden und vor allen Dingen habe ich diese seltsamen Erklärungen nicht verstanden. Ich habe ihn gefragt, was seine Herkunftsfamilie damit zu tun hat. Und er sagte zu mir: „Pass auf, ich habe von allen Genproben genommen. Das hat mich ungefähr 20.000 € gekostet, weil ich nach einer Familienaufstellung die Vermutung hatte, dass mein Vater gar nicht in seiner bekannten Familie aufgewachsen ist. Es kam bei dieser Aufstellung heraus, dass mein Vater wahrscheinlich bei einer anderen Familie aufgewachsen ist, weil er als Kind von einem anderen Vater war, und er durfte nicht in dieser Familie aufwachsen. Er war in einen schlimmen Unfall verwickelt worden, und er ist deswegen in der Stadt bei der Arztfamilie aufgewachsen. Das kam alles in den Aufstellungen raus. Ich habe dann Genproben genommen und es wurde festgestellt, dass mein Vater doch der Sohn seines Vaters ist. Aber er wurde anders behandelt.“

Ich habe mich gewundert, dass man Genproben seiner Familie nimmt und dass man diese seltsamen Theorien aufstellt. Und was kommt raus? Es ist alles normal und trotzdem wird so seltsam darüber gedacht. Und ich zweifelte daran, dass ich meine Großmutter sein sollte.

Die Schlinge zog sich weiter zu. Plötzlich war das Baby da und meine Jungs kamen in die Pubertät. Sie waren wild, sie rangelten oft unten im Kinderzimmer, und es wuchs uns ein wenig über den Kopf. Was aber am schlimmsten war, dass er mit der ganzen Situation nicht mehr klar kam und eigentlich die Jungs gar nicht mehr im Haus haben wollte. Man muss sich das vorstellen: Ich hatte gerade entbunden, meine Jungs wurden wild, er mochte die plötzlich nicht mehr, weil sie nicht blutsverwandt seien. Plötzlich wurden mir Briefe geschrieben, dass Jungs ja eigentlich beim Vater stehen. Sie repräsentieren den Elternteil, der nicht da ist. Und das sei das Problem mit den Jungs in unserem Haushalt. Die Repräsentanz meines geschiedenen Mannes. Sie repräsentieren meinen geschiedenen Mann, sie sind die Stellvertreter meines geschiedenen Mannes. Darüber habe ich mich gewundert. Meine Jungs sind doch meine Jungs und sie sind ein Teil von mir, und sie sind die Geschwister von dem neuen, kleinen Baby. Sie sind Kinder und müssen beschützt und behütet werden. Ich durfte auch nicht über Witze von ihnen lachen, weil ich ja dann indirekt über Witze meines Ex-Mannes lachen würde.

Manchmal hatte ich auch abends Termine oder wollte mich mal mit einer Freundin treffen. Er hat zu mir gesagt: „Ich passe nicht auf Deine Jungs auf, weil, ich bin ja nicht mit denen blutsverwandt.“ Auch da verstand ich die Welt nicht mehr.

Als der Kleine vier Tage alt war, habe ich seinen Sohn bei mir zu Hause betreut. Er hat ihn zu uns nach Hause eingeladen - weil er meinte, es sei jetzt ganz wichtig, dass der Kleine, unser Baby, eine Bindung aufbaut zu seinem Bruder. Ich habe ihm gesagt, dass ich mich noch schwach nach der Geburt fühle und noch im Wochenbett sei. Auch wolle ich zunächst einmal selbst eine Bindung zu dem vier Tage alten Baby aufbauen. Das konnte er überhaupt nicht akzeptieren.

Ziemlich überfordert war ich. Ich habe mit dem kleinen Jungen Fußballbilder geklebt und habe ihm gezeigt, wie man das Baby badet. Aber eigentlich hatte ich dazu keine Kraft. Immer mehr bin ich zerbrochen. Ich habe geweint. Ich konnte tagelang nicht aufhören, zu weinen. Die Stimmung war so angespannt und meine Jungen wurden immer wilder, weil sie das unbewusst aufgefangen haben. An meinen Partner konnte ich mich nicht wenden, weil es alles mit Stellvertretertum, Repräsentanz und Herkunftsfamilie erklärt wurde. Ich bin fast verzweifelt.

Als der Kleine vier Monate war, habe ich dann meine sieben Sachen gepackt und habe mir eine Wohnung gesucht. Wir waren noch bei einer seriösen Familienberatung der Caritas. Das hatte ich angeleiert. Es hat nicht geholfen. Die Beraterin lehnte bald die Arbeit mit ihm ab.

Zuerst war ich glücklich, ausgezogen zu sein, war stark und dachte, so ist das Leben jetzt. Er hat dann meine Freunde, meine Familie angerufen und hat überall erzählt, ich hätte Musterwiederholungen, weil ich mich schon so oft von Männern in der gleichen Art und Weise getrennt habe. Und ich hätte eine Fluchtstörung und eine Panikstörung und ich sei psychiatrisch, paranoid und krank. Ich weiß nicht, ob man das Rufschädigung nennen kann. Ich glaube, es war so, dass er einfach nicht damit klar kam, dass ich als Frau ihn verlassen hatte. Das hat mich alles unendlich belastet. Ich kam aus meiner Ratlosigkeit und Verzweiflung überhaupt nicht mehr raus. Und dann die wilden Jungs, die Vorwürfe seitens meiner Freundin: „Warum bist Du bloß so früh bei ihm eingezogen? Warum hast Du nicht nachgedacht?“ Meine Jungs, die auch erst mal das letzte Jahr verdauen mussten. Und dann die durchwachten Nächte mit dem vier Monate alten Baby, das eigentlich sehr, sehr lieb war.

Irgendwann sollte trotz der Trennung eine große Taufe gefeiert werden. Der Kleine sollte nämlich in der Familie begrüßt werden – in der Herkunftsfamilie. Auch da habe ich gesagt: Wir sind getrennt, lass uns doch eine kleine Taufe machen. Ich bin im Moment nicht in der Lage, ein großes Familienfest durchzustehen. Nein, er bestand darauf, dass er in der Herkunftsfamilie begrüßt wird. Ich habe gesagt: „Er wurde bisher noch gar nicht begrüßt, er hieß nur die neue Situation. Und die zweite Frau soll sich unterordnen, und warum dann ein großes Fest? Ich verstehe dich nicht mehr“.

Und dann habe ich angefangen Tabletten zu nehmen. Gegen die Angst, gegen die Trauer und gegen den unendlichen Schmerz, gegen die schlaflosen Nächte. Die Taufe habe ich überstanden, aber meine Trauer habe ich nicht mehr überstanden. Die Frage nach dem Warum? Ich konnte irgendwann nicht mehr essen, ich konnte nicht mehr duschen, ich konnte mich nicht mehr um meine Jungs kümmern. Ich hatte einfach überhaupt keine Kraft mehr.

Zusätzlich bekam ich dann Briefe mit den Worten: „Deine Jungs haben schon immer ödipal hinter dem Sofa hergeschaut, sie haben einen geheimen Auftrag. Und jetzt haben sie den Vater der geliebten Schwester, den Mann der geliebten Mutter vertrieben. Und laut Hellinger trifft sie nämlich jetzt die Todesstrafe. Sie sollen den Weg für uns, für die neue Familie, freigeben. Das Unbewusste wird den Jungs dieses Verhalten nicht verzeihen.

Irgendwann bin ich dann selber mal zu einer Aufstellung von einem Hellingerschüler gefahren. Eine Frau, die sich nicht weiblich fühlte, sollte sich plötzlich vor der Weiblichkeit verbeugen. Eine andere Frau, die 15 Jahre lang von ihrem Ehemann betrogen wurde und nach dem Warum fragte und nach Lösungen suchte, hatte zum Schluss das Ergebnis, dass ihr Mann sie betrogen habe, weil sie eigentlich beim Vater stehe, und sie diejenige sei, die Schuld habe. Die Frau ist weinend und zitternd aus dieser Aufstellung herausgegangen.

In meiner Abwesenheit ist bei Dirk auch die Familie zerbrochen. Die Eltern hielten zwar noch mehr oder weniger zu ihm, kamen aber nicht mehr zu Feiern. Sein Bruder hat sich von ihm und diesen Aufstellungen distanziert. Seine Ex-Frau und die Kinder weiter weg sind ins Umland gezogen.
 
Und irgendwann kam ein Brief, dass er alles so sehr bedauert. Mittlerweile waren mir meine Jungs so sehr entglitten, dass sie zu ihrem Vater wollten. Ich kann ihnen noch nicht einmal einen Vorwurf machen. Die Mama war einfach zu depressiv und kraftlos, um zwei pubertäre Jungs zu betreuen. Sie blieben eine zeitlang beim Vater. Für meinen Ex-Partner war alles richtig so. Die Ordnung der Liebe war wieder hergestellt.

Zwischendurch hatte ich eine Psychiaterin kontaktiert. Dort wurde das Problem mit dem Familienstellen aber nicht so ernst genommen. Es hieß nur, dass Menschen, die Hellinger folgen, schwach seien. Erst in der Beratungsstelle des Sekten-Infos fand ich richtige Unterstützung und hier verstand man, welche negativen Auswirkungen Aufstellungen haben können.

Ich habe mir dann auch zu Hause professionelle psychologische Hilfe gesucht. Langsam, ganz langsam kommen meine Kinder zurück. Langsam, ganz langsam, bin ich mit meinen Jungs wieder eins. Man sucht die Fehler bei sich oder denkt: Hat er vielleicht doch Recht? Langsam, ganz langsam, komme ich wieder da raus. Langsam, ganz langsam erkennen die Menschen aus meinem Umfeld die Tragweite und die Gefährlichkeit. Langsam, ganz langsam stärken sie mir den Rücken, indem, dass nicht ich die Schwache bin, sondern regelrecht verdreht wurde.

Ich glaube, dass unsere Probleme durch die Familienaufstellungen meines Partners verschärft wurden. Darum möchte ich andere Menschen davor warnen. Unseriöse Aufstellungsarbeit sollte verboten werden.


(Die Namen der Personen und Orte wurden verändert.)
 
 

Eine kritische Auseinandersetzung mit der Methode des Familienaufstellens, sowie Kriterien zur Unterscheidung von seriösen und unseriösen Ansätzen finden Sie im Artikel von Uta Bange:

Ordnungen der Liebe oder lieber selber Ordnung schaffen? Familienaufstellungen und Systemische Therapie im Vergleich.