Beratung und Information zu neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen
gefördert durch das
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Persönlicher Rückblick - 42 Jahre soziale Arbeit für Betroffene konfliktträchtiger religiöser Gemeinschaften

Im letzten Jahr habe ich mich aus gesundheitlichen Gründen entschieden, die Geschäfts­führung und die Leitung der Beratungsstelle abzugeben, um nach einer kurzen halbjährigen Übergangsphase in den Ruhestand zu treten. Die Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen, da ich meine Arbeit in der Beratungsstelle als eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe angesehen und mit viel Überzeugungskraft und voller Begeisterung erfüllt habe. Zusätzlich habe ich das Gefühl, dass durch die Problematik der Verschwörungstheorien die Einsicht in der Politik und in der Gesellschaft gewachsen ist, dass religiöse und ideologische Gemeinschaften so gefähr­lich werden können, dass sie nicht nur dem einzelnen Menschen Schaden zufügen, sondern unter Umständen sogar unsere Demokratie gefährden können. Viele neue Arbeitsgruppen haben sich gebildet, die Anlass zu der Hoffnung geben, dass der Problematik in Zukunft mehr Beachtung geschenkt und sie ernst genommen wird.

Das erste Mal kam ich Anfang der 80er Jahre während meines Studiums mit dem Thema in Berührung. Mitglieder der Vereinigungskirche haben versucht, an der Universität Gesamt­hochschule Essen zu missionieren. Ich war neugierig und habe bei meinem Besuch im dama­ligen Zentrum der Vereinigungskirche in Essen sehr freundliche junge Menschen kennen­gelernt, aber auch erfahren, dass der Gründer Sun Myung Moon einen dritten Weltkrieg als eine Möglichkeit in Betracht ziehen würde, um den Kommunismus zu besiegen. Diese befremdliche Erfahrung war der Anstoß, sowohl an der Uni, als auch beim Jugendreferat der Ev. Kirche nachzufragen, was über diese Vereinigungskirche bekannt sei. Der Ev. Kirche war die Vereinigungskirche durchaus ein Begriff und ich wurde in den kommunal-ökumenischen Arbeitskreis „Jugend­sekten“ der Stadt Essen eingeladen. Dort habe ich die damalige Leiterin des Arbeitskreises Heide-Marie Cammans kennengelernt und war beeindruckt von ihrem Engagement und ihrer praxisnahen Schilderung der Problematik. Daraufhin habe ich mich an der Uni mit Literatur versorgt, in das Thema eingelesen und dann die Organisation und Beglei­tung von regelmäßig stattfindenden Treffen einer Gruppe junger ehemaliger Mitglieder über­nommen. Eigentlich ging es dabei um eine gemeinsame Freizeitgestaltung, aber der Rede­bedarf der einzelnen Teilnehmer*innen war so groß, dass sich auch ein Gesprächskreis gebil­det hatte. Auf diese Weise hatte ich schon, bevor der Verein „Sekten-Info“ gegründet wurde, viele Informationen über die Methoden und Lehren damaliger sogenannter „Jugendsekten“ erfahren. Viele Schil­derungen von Ehemaligen haben mich sehr nachdenklich und betroffen gemacht. Alle wollten sich für eine bessere Welt oder bessere Lebensumstände einsetzen und sind tief enttäuscht mit vielen seelischen Verletzungen wieder ausgestiegen, fühlten sich aber inzwischen in der Außenwelt fremd und nicht verstanden. Sie litten unter großen Ängsten und fürchteten sich vor einer möglichen Racheaktion der Gruppe oder sogar vor der Bestrafung durch eine trans­zendente Macht. Parallel wurden sie von ihrem Umfeld teilweise mit Vorwürfen und guten Rat­schlägen überhäuft und mit Sätzen, wie z.B. „Wie kann man nur so dumm sein“, stigmatisiert. Sie fühlten sich mit ihren Ängsten allein gelassen und nicht verstanden. Die Angebote des bestehenden damaligen sozialen Netzwerkes wurden ihnen nicht gerecht. Angehörige wollten, dass sie möglichst schnell in ihr altes Leben zurückkehrten. Damalige Mitarbeiter*innen aus kirchlichen Organisationen wollten ihnen erklären, warum der Glaube falsch sei und Psycho­log*innen fühlten sich nicht genügend informiert oder wollten sich mit dem Thema nicht aus­einandersetzen.

Diese Erfahrung hat dazu geführt, dass ich mir Gedanken gemacht habe, wie man eine bessere Unterstützung bzw. professionelle Versorgung dieser Menschen erreichen könne. Heide-Marie Cammans ging es ähnlich. In ihrem Rückblick berichtet sie:

„Meine Vorstellung war, dass die Beratung Betroffener aus der Ehrenamtlichkeit und der Privatheit herausgenommen werden und in ein bestehendes Beratungssystem integriert wer­den müsse […]. Im Januar 1984 erfolgte die Gründung des Vereins „Sekten-Info Essen e.V.“, im April 1984 trat der neue Verein dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV) bei. Schon im März 1984 hielt ich die Schlüssel für die heutigen Beratungsräume in der Rott­straße 24 in Händen, d.h. nur die Schlüssel, ohne schriftlichen Beschluss seitens der Stadt Essen, ohne Mitarbeiter, ohne Möbel, ohne Telefon und ohne Geld ... doch mit viel Zuversicht […] Teilnehmer aus den Betroffenengruppen standen mit Rat und Tat zur Seite, rückten mit Nähmaschinen, Putzeimer und Werkzeugkästen an, andere tippten die ersten Briefe. Und zwi­schen all diesen Aktivitäten fanden sich bereits die Vertreter der verschiedenen Gruppierungen ein, um einzuschätzen, welche Gefahr wohl künftig von der „Rottstraße“ ausgehen werde […]“    

Am 24. Mai 1984 war es dann soweit. Der Verein „Sekten-Info Essen e.V.“ eröffnete mit 140 Gästen und vielen guten Wünschen sein Informations- und Beratungszentrum. Es war ein freudiger Tag! Die Arbeit, wenn auch noch auf vollständig ehrenamtlicher Basis, hatte endlich Raum gefunden und Gestalt angenommen. Die Stadt Essen trat in die Förderung ein. Mittels AB-Maßnahmen konnten die ersten Mitarbeiter*innen gefunden werden.“[1] Auch meine erste Anstellung beim damaligen Sekten-Info-Essen e.V. wurde zunächst über eine Arbeits­be­schaffungsmaßnahme finanziert, diese begann am 01.Juli 1987 und wurde drei Jahre später in eine Festanstellung umgewandelt. Seit 1990 war ich stellvertretende Leiterin und seit März 2003 bis Januar 2024 Geschäftsführerin verbunden mit der Leitung der Beratungsstelle.

In den ersten drei Jahren war mein Arbeitsschwerpunkt, Präventionsarbeit an Schulen zu leis­ten. Als ausgebildete Lehrerin hat es mir sehr viel Freude bereitet, mit Schüler*innen ins Gespräch zu kommen und sie über okkulte Praktiken aufzuklären. Dabei ging es darum Jugendlichen wissenschaftliche Erklärungen für auf den ersten Blick unerklärliche Phänomene zu vermitteln, z.B. den „Carpenter-Effekt“ beim Pendeln und Gläserrücken, die Methode des „Cold-Reading“ bei Wahrsagern oder die Wirkung einer selbsterfüllenden Prophezeiung.

Einige Schüler*innen suchten im Anschluss an eine Aufklärungsveranstaltung zusätzlich das persönliche Gespräch, dabei wurde deutlich, dass die Beschäftigung mit Okkultismus einer­seits durch Neugierde, andererseits durch individuelle Probleme ausgelöst worden war. Die häufigsten Inhalte waren Einsamkeit, eigene Zukunftsängste und das Thema Tod und die damit verbundene Ungewissheit. Jugendliche hatten keine Gesprächspartner*innen, mit denen sie über ihre Fragen diesbezüglich hätten reden können. Eltern fühlten sich überfordert und Lehrer*innen dachten diese Themen seien Privatsache. Durch die intensive Präventions­arbeit fanden auch Familien und Jugendliche den Weg in die Beratungsstelle.

Berufsbegleitend habe ich eine Fortbildung in Gesprächsführung und Krisenintervention bei der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie absolviert und wurde danach auch in die Beratungsarbeit integriert. Im Laufe der Zeit kamen weitere Fortbildungen hinzu, u.a. die Fortbildung zur Kinderschutzfachkraft gemäß §§ 8a SGB und § 4 KKG.

Die Nachfrage nach Präventionsveranstaltungen an Schulen wurde zu Beginn der 90ziger Jahre bedingt durch die zusätzliche Problematik der Scientology-Organisation immer zahlrei­cher. Als sie nicht mehr zu bewältigen war, wurde der Schwerpunkt auf die Schulung von Lehrer*innen und Multiplikator*innen verlegt. Diese Aufgabe habe ich gerne übernommen.

Trotz des großen Bedarfs und der erfolgreichen Arbeit waren die ersten Jahre von ständigen Geldsorgen geprägt. Die Situation, die Frau Cammans (Geschäftsführerin von 1984 -2003) in ihrem Abschlussbericht beschreibt, kann ich nur bestätigen und sie hat auch mich sehr geprägt: „Den Arbeitsanforderungen entsprechend kam es darauf an, einen gut qualifizierten und längerfristig stabilen Mitarbeiter*innenstamm zu erreichen. Über lange Zeit schien dies nahezu unmöglich zu sein. Trotz verhältnismäßig hoher Spendeneingänge war die Einrichtung jahrelang in relativ kurzen Abständen von der Schließung bedroht. Frau Riede und ich waren in dieser Zeit auf vielen Bittgängen unterwegs. Es blieb uns nur „fundraising“ ohne Ende. Und damit hatten wir immerhin so viel Erfolg, dass es immer irgendwie weitergehen konnte.“[2]

Neben den finanziellen Sorgen gab es auch juristische Probleme, z.B. Abmahnungen infolge einer kritischen Berichterstattung. Klageandrohungen, die sich auf den Schutz von Art.4 des Grundgesetzes bezogen haben, hatten das Ziel die Fortsetzung unserer Arbeit zu verhindern.

Nachdem mir der Vorstand 2003 die Geschäftsführung übertragen hatte, war mein erstes Ziel, einen festangestellten Juristen oder eine festangestellte Juristin ins Team zu integrieren. Einerseits um mehr Sicherheit bei eigenen Veröffentlichungen zu gewährleisten, andererseits aber auch um betroffene Menschen besser unterstützen zu können, die durch „Sogenannte Sekten“ oder Psychogruppen geschädigt wurden. Vom Strafrecht über das Familienrecht und Schulrecht bis hin zu rechtlichen Fragestellungen im Bereich des Heilwesens sind viele Rechtsgebiete betroffen und rechtliche Konsequenzen spielen eine große Rolle. Seit 2004 ist die Beratungsstelle in der Lage, hilfesuchenden Menschen ergänzend zur psychosozialen Beratung kostenlos eine fundierte Rechtsberatung anzubieten. Diese wichtige Aufgabe wird seit 2006 von der Juristin Anja Gollan wahrgenommen, der ich an dieser Stelle ausdrücklich für ihre hervorragende Arbeit danken möchte.

Ein weiteres erfreuliches Ereignis war die 20-jährige Jubiläumsfeier, die am 04.Juni 2004 mit dem damaligen Oberbürgermeister Dr. Reiniger sowie rund 100 weiteren Gästen im Haus der Evangelischen Kirche in Essen stattgefunden hat. Das war eine gute Gelegenheit, die ersten 20 Jahre Revue passieren zu lassen und rückblickend festzustellen, dass seit 1984 viel erreicht worden war und sich aber auch einiges verändert hatte: Die Bezeichnungen für die konfliktträchtigen Gruppierungen und ein Teil der Gruppierungen selbst. Die weltanschauliche Szene war und ist einem ständigen Wandel ausgesetzt.

Nachdem bereits die ersten Jahre von ständiger finanzieller Unsicherheit überschattet waren, musste ich 2006 aufgrund einer Etatkürzung von 8%, von der alle Beratungsstellen des Lan­des NRW betroffen waren, erneut dringend nach zusätzlichen Fördermitteln suchen. Eine erste Idee, dass alle Ruhrgebietskommunen sich an der Förderung unserer Beratungsstelle mit einem geringen Beitrag beteiligen könnten, erwies sich als nicht Erfolg versprechend, da unter anderem die Ortsbezeichnung in unserem Namen als störend empfunden wurde. Da der Sekten-Info Essen e.V. bereits seit seiner Gründung Ansprechpartner für Klient*innen aus ganz NRW war, wurde in der Mitgliederversammlung einstimmig beschlossen, den Namen des Vereins zu ändern. Nachdem die Änderung beim Amtsgericht Essen im Vereinsregister eingetragen worden war, musste auch das Logo und die Webseite der Beratungsstelle erneu­ert werden. Diese Änderung erwies sich dann als sehr hilfreich bei der Suche nach neuen Fördermöglichkeiten. Die Ev. Kirche im Rheinland, das Bistum Essen und die Stadt Bochum waren bereit, uns finanziell zu unterstützen, so dass die Kürzungen des Landes NRW zum Teil aufgefangen werden konnten. In diesem Zusammenhang möchte ich Irmenfried Mundt, dem ehemaligen Superintendenten des Evangelischen Stadtkirchenverbandes Essen, und Gary Albrecht, dem Weltanschauungsbeauftragten des Bistums Essen, sowie Herrn Pfarrer Alfred Labusch aus Bochum für ihre Unterstützung herzlich danken.

Trotzdem blieben uns die finanziellen Probleme weiter erhalten und bei der Finanzierung des Gesamtetats der Beratungsstelle waren wir immer wieder auf eine große Spendensumme und zusätzliche Projektmittel angewiesen. Bei allen Projekten war aber im Vorhinein klar, dass sie zeitlich begrenzt sein würden, und nicht auf Dauer angelegt sind. Ein Beispiel hierfür ist das wissenschaftliche Projekt „Beratung und Hilfe für Menschen mit außergewöhnlichen Erfahrun­gen“ des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) in Freiburg, welches von 1997 bis 2008 gefördert wurde. Ziel des Projektes war es, aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Fällen unserer Beratungsstelle eine Analyse darüber zu erstellen, welcher Art die von den Klient*innen beschriebenen außergewöhnlichen Erfahrungen sind, in welchem Zusammenhang sie zu anderen psychologischen Merkmalen der Klienten*innen stehen und ob es einen Bedarf für eine spezialisierte Beratung zu diesem Thema gibt. Leiter des Projektes war PD Dr. med. Lic. Phil. et theol. Ulrich J. Niemann SJ von der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. George. Vier Jahre (Von 2004 bis 2008) war Diplom- Psychologin Uta Bange wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projektes, heute ist sie beim Sekten-Info NRW e.V. ange­stellt und bringt ihre Erfahrungen aus dieser Zeit mit ins Team ein.

Das Gleiche galt für die Stelle des Pastors im Sonderdienst für Sekten- und Weltanschauungs-fragen beim Ev. Stadtkirchenverband Essen. Die Aufgabe, die von 1993 - 2001 durch Frau Annette Stolte wahrgenommen wurde, wurde im März 2002 Herrn Christoph Grotepass über­tragen und endete nach fünf Jahren. Es ist mir aber gelungen, Herrn Grotepass für die Arbeit in unserer Beratungsstelle zu begeistern und seinen Arbeitsplatz dauerhaft zu finanzieren. In diesem Jahr gehört er bereits 22 Jahre zum Team der Beratungsstelle und verfügt über ein umfangreiches Wissen über neue religiöse Bewegungen. Zusätzlich pflegt er unsere Internet­seite und aktualisiert sie regelmäßig. Ich bin dankbar, dass er all die Jahre die Arbeit so enga­giert mitgetragen hat.

Trotz intensiver Spendenakquise, die durchaus erfolgreich war, gab es immer wieder Prob­leme, die Gehälter der Mitarbeiter*innen zu finanzieren. Auch für Renovierungen, Neuanschaf­fungen und Fortbildungen fehlte immer das Geld.

Erst 2011 gelang es mir die zuständige Fachreferentin des Familienministeriums NRW davon zu überzeugen, dass unter diesen Bedingungen eine professionelle soziale Arbeit auf Dauer nicht möglich sei. Nach vielen Gesprächen wurde die Finanzierung unserer Beratungsstelle von der Projektförderung in eine institutionelle Förderung umgewandelt. Nach 8 Jahren als Geschäftsführerin hatte ich es endlich geschafft. Es gab einen festen Stellenplan und die tariflich bedingten Lohnerhöhungen konnten auch umgesetzt werden. Seitdem können die Spenden für wichtige Neuanschaffungen oder zusätzliche Projekte genutzt werden.

Neben den juristischen und finanziellen Problemen gab es immer wieder viele Diskussionen mit Menschen, die unsere Arbeit nicht verstanden und als Eingriff in die Glaubensfreiheit angesehen haben. Menschenrechtsverletzungen wurden heruntergespielt und die alleinige Verantwortung dem einzelnen Betroffenen zugewiesen. Erkenntnisse der Sozialpsychologie wurden oft nicht ausreichend berücksichtigt. Vermutlich war das auch immer wieder der Grund, warum Politiker*innen sich viele Jahre mit unserer Thematik nicht auseinandergesetzt haben. In solchen Situationen war es mir immer wichtig, unsere Arbeit verständlich und sachlich zu erklären und Vorurteilen entgegen zu wirken. Glaube kann stark machen, aber auch schaden. Wo Menschen Gefahr laufen, durch eine Glaubensgemeinschaft in ihren Grundrechten einge­schränkt, psychisch, finanziell oder gesundheitlich geschädigt zu werden, da sollte es in einer sozialen Gesellschaft selbstverständlich sein, diesen Menschen Hilfe und Unterstützung anzubieten. Bei aller Wertschätzung der in Artikel 4 GG verbürgten Glaubensfreiheit, so endet diese, wenn andere Grundrechte in Gefahr sind oder verletzt werden, wie z. B. der Schutz der Menschenwürde (Artikel 1 GG) oder das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2 GG).

Glaubenseinstellungen und die dadurch beeinflussten Lebensgewohnheiten können zu viel­fältigen Konflikten führen. Mir war es wichtig, dass eine Beratung zum Themenfeld Glaube freiwillig, weltanschaulich neutral und trotzdem lösungsorientiert angeboten wird. Menschen, deren Werte und Wirklichkeitsdeutungen durch eine Glaubensgemeinschaft erschüttert wurden, sollen so unterstützt werden, dass sie eigene, selbstbestimmte Lösungswege finden können.

Die Präventionsarbeit sollte sachlich erfolgen, aber auch Missstände aufzeigen und vor Unwissenheit schützen, damit eine eigenverantwortliche Entscheidung möglich ist. Die Fach­artikel, die von Mitarbeiter*innen unserer Beratungsstelle verfasst worden sind, sollen hierbei helfen. Wenn man die jährlichen Berichte über die Entwicklung der weltanschaulichen Szene mitrechnet, so sind in den letzten 20 Jahren über 80 Fachartikel geschrieben und veröffentlicht worden, die ein hohes fachliches Niveau belegen und von einer Hetze gegen Andersgläubige weit entfernt sind. Im Gegenteil: sie tragen zur Klärung bei, manchmal sogar zur Beruhigung, indem sie helfen, eine radikale Verhaltensänderung eines Menschen durch eine Gruppe besser zu verstehen. Auch Aussteiger*innen fragen sich oft: “Wie konnte mir das passieren?“ Antworten auf diesen Themenkomplex findet man in dem gelungenen Fachartikel: „Wenn die Gruppe Druck macht“ von Bianca Liebrand.[3] Sie ist Masterpsychologin und gehört seit 2017 zu unserem Team. Sie hat sich erstaunlich schnell in die Thematik eingearbeitet und ich möchte Ihre Expertise nicht mehr missen.

Zusätzlich wurden für Jugendliche und Erwachsene einfache Flyer mit Checklisten erstellt, damit jeder die Möglichkeit erhält, eigenständig Angebote und Versprechungen von Glaubens­gemeinschaften zu überprüfen. Nicht der Inhalt eines Glaubens ist Gegenstand der Kritik, son­dern die Auswirkungen auf das Handeln und die damit verbundenen Folgewir­kungen für das Leben und die Gesundheit des einzelnen Menschen.

Ein weiteres wichtiges Ziel, das mir sehr am Herzen lag, war die Rechte von Kindern, die bedingt durch ihre Eltern in „Sogenannten Sekten“ aufwachsen, besser zu schützen. Schon seit einigen Jahren meldeten sich junge Menschen in unserer Beratungsstelle, die der zweiten Generation angehörten. Damit sind Menschen gemeint, die sich ihre Religionszugehörigkeit nicht selbst ausgesucht haben, sondern in diese hineingeboren wurden und unter den konflikt­trächtigen Erziehungspraktiken und Glaubensvorstellungen ihrer Eltern gelitten haben.

Es wandten sich aber auch Großeltern an uns, die sich Sorgen um ihre Enkelkinder gemacht haben, weil der eigene Sohn oder die Tochter aufgrund eines neuen Glaubens plötzlich die Kinder nicht mehr zur Schule geschickt oder den Arztbesuch abgelehnt oder die Kinder den ganzen Tag sich selbst überlassen hat. Auch andere dem Kind nahestehende Personen, wie z. B. Lehrer*innen, waren mitunter beunruhigt und erlebten die Einbindung eines Kindes in neue religiöse und weltanschauliche Zusammenhänge als Zwang und Abschottung und hatten unsere Beratungsstelle um Hilfe gebeten.

Die Handlungsweise eines Menschen kann durch eine Glaubensüberzeugung so fehlgeleitet werden, dass Eltern ihren Kindern Schaden zufügen, obwohl sie sie durchaus liebhaben. Ins­besondere die Anbindung an autoritäre und verabsolutierende Glaubensgemeinschaften, die nicht erlauben, das vermittelte Weltbild in Frage zu stellen, kann die Sozialisation von Kindern gefährden.

Für das Umfeld ist es oftmals schwierig einzuschätzen, ob ein religiös oder weltanschaulich geprägtes Erziehungsmodell zwar „anders“, aber im Rahmen des elterlichen Erziehungs­freiraums akzeptiert werden muss oder ob es bereits als Gefährdung des Kindeswohls anzu­sehen ist. Insbesondere aufgrund der von den Eltern ins Feld geführten Glaubensfreiheit, bestehen oft Unsicherheiten dahingehend, wo diese Grenze zu ziehen sei. Und diese Unsi­cherheit war sogar bei Jurist*innen und Jugendamtsmitarbeiter*innen zu spüren.

Vor diesem Hintergrund war es mir wichtig, eine Publikation zu veröffentlichen, die sowohl interessierten Laien als auch Menschen, die sich aus beruflichen Gründen für das Wohl von Kindern einsetzen, eine Orientierungshilfe zu geben. Es sollten mögliche Beeinträchtigungen und Gefahren für Kinder, die durch eine religiös geprägte Erziehung entstehen können, dar­gestellt und anhand von wichtigen Gerichtsentscheidungen rechtliche Handlungsmöglich­keiten zum Schutz der Kinder verdeutlicht werden. Unter dem Titel „Glaubensfreiheit versus Kindeswohl“ ist diese Idee als Broschüre im November 2018 erschienen.

Von den heute durchschnittlich 600 Beratungsfällen, die in unserer Beratungsstelle jährlich betreut werden, sind bei einem Viertel der Fälle Kinder betroffen. Ihre Beeinträchtigungen reichen von einer nicht dem Wohl des Kindes entsprechenden Erziehung bis zu Kindeswohl­gefährdungen nach §1666 BGB.

 

Resümee

Es war eine sehr intensive, aber auch spannende soziale Tätigkeit, die ich persönlich als wich­tig und sinnvoll angesehen habe. Die Auseinandersetzung mit immer wieder neuen Ideologien und der ständige Zeitdruck, sowie die Grenzen der Beratungsarbeit haben aber auch viel Geduld und Durchhaltevermögen erforderlich gemacht. Gerne hätte ich manchen Menschen noch viel mehr Unterstützung angeboten.

Viele Beratungsfälle werden mir noch lange in Erinnerung bleiben, nur zwei möchte ich an dieser Stelle stellvertretend in Erinnerung rufen. Ein junger 19-jähriger Mann schloss sich 2007 im Vertrauen darauf, einen Arbeitsplatz zu bekommen, einer christlich-fundamentalistischen Gruppe an. Er wurde von dieser Gruppe in verschiedene Zentren ins Ausland gebracht, um dort für die Gruppe zu arbeiten. Sein Ausweis wurde ihm abgenommen und seine Rück­kehr nach Deutschland verweigert. Ich bin nach Rücksprache mit der Polizei und dem deut­schen Konsulat mit dem Zug nach Mailand gereist, und habe ihn nach Hause begleitet. Er war krank und hatte Angst, dass er den Weg nach Hause nicht schaffen würde. Nachlesen kann man meinen Bericht über diesen Fall auf unserer Internetseite.[4] Hinzukommen die Gespräche mit Aussteiger*innen aus der Glaubensgemeinschaft der „Zwölf Stämme“ im Jahr 2013. Auch hierzu gibt es einen berührenden Betroffenenbericht[5] auf unserer Internetseite, einen Fach­artikel[6] und eine Rezen­sion über ein empfehlenswertes Buch von Robert Pleyer mit dem Titel „Der Satan schläft nie“.[7] Besonders belastend waren und sind Beratungsfälle im Zusammen­hang mit Gewalt und Kindesmissbrauch. Umso beruhigender, wenn wir dazu beitragen konn­ten, dass es in einigen Fällen zu einer Verurteilung der Straftäter gekommen ist.

Es gab viele Erfolge und viele der spannenden inhaltlichen Themen, die unsere Beratungs­stelle beschäftigt haben, habe ich in dem Bericht über "40 Jahre Beratungs- und Informationsarbeit zu neuen religiösen Bewegungen und kein Ende in Sicht" beschrieben.

Auch die Zusammenarbeit mit den Medien war eine interessante Erfahrung. Neben meiner Mitwirkung an Nachrichtensendungen, wie beispielsweise der Aktuellen Stunde des WDR oder bei informativen Sendeformaten wie beispielsweise Planet Wissen oder Galileo Spezial, erin­nere ich mich an drei Talkrunden besonders gern. Die Talkrunde „Menschen bei Maischberger zum Thema „Das Geheimnis der Sekten: Gehirnwäsche oder wahres Glück?“ (05.11.2013) und zum Thema „Wenn Glaube gefährlich wird“ (11.11.2014). Das dritte Beispiel bezieht sich auf die Sendung „Hart, aber fair“. Dem Fernsehsender ARD war es gelungen, unter strenger Geheimhaltung einen spannenden, informativen Spielfilm mit dem Titel „Bis nichts mehr bleibt“ zu produzieren, der die Aktivitäten der Scientology-Organisation ohne Übertreibung korrekt und wirklichkeitsnah wiedergegeben hat. Der Film erhielt den Bayrischen Filmpreis. 8,7 Millio­nen Zuschauer*innen haben den Film nach Aussage der ARD verfolgt, als er am 31.03.2010 um 20.15 Uhr ausgestrahlt wurde. Die anschließende Diskussionsrunde „Hart, aber fair“ mit Frank Plasberg hatten 7,4 Millionen Zuschauer*innen live angesehen. Schon im Vorfeld hatten wir das Team von Herrn Plasberg bei Recherchearbeiten unterstützt. Ich habe zusammen mit Herrn Günther Beckstein (ehem. Ministerpräsident von Bayern) als Expertin an der Sendung teilgenommen. Die Sendung hat in den folgenden Wochen zu einem enormen Anstieg der Anfragen zur Scientology-Organisation geführt. Dar­über hinaus haben sich aber auch Betroffene anderer Psychokulte gemeldet, die bisher nicht gewusst haben, wo sie über ihre Erfahrungen reden und Unterstützung bekommen können. Das hatte verdeutlicht, dass der Bedarf an Hilfe weitaus höher lag, als bisher angenommen.

Ich freue mich, dass heute der Sekten-Info NRW e. V. als kompetente Spezialberatungsstelle mit integrierter Rechtsberatung anerkannt ist. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass mehr Bundesländer bereit wären, so eine Beratungsstelle zu finanzieren. Ein Schritt in diese Rich­tung wurde mit der Gründung der Beratungsstelle „Zebra“ in Baden-Württemberg gemacht.

Das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen und die Stadt Essen fördern seit Jahren unsere Arbeit. Dafür möchte ich mich ausdrücklich bei der Leiterin des für uns zuständigen Referats Barbara Knappstein und dem Oberbürgermeister der Stadt Essen Thomas Kufen bedanken.

Zum Abschluss möchte ich dem Vorstandsmitglied Monika Kapteina ganz besonders danken. Sie hat seit 2010 die Buchführung für den Verein ehrenamtlich geleistet. Aber ich danke auch allen anderen Vorstandsmitgliedern und selbstverständlich meinem gesamten Team, ohne die gute vertrauensvolle Zusammenarbeit wäre das Ergebnis nicht möglich gewesen. Für die Zukunft wünsche ich dem neuen Team unter der Leitung von Christoph Grotepass weiterhin viel Erfolg!!



[1] Heide-Marie Cammans, Rückblick auf 20 Jahre Sekten-Info Essen im Jahresbericht 2002, auf unserer Webseite.

[2] ebenda.

[3] Bianca Liebrand, "Wenn die Gruppe Druck macht!", Jahresbericht 2018, auf unserer Webseite.

[5] Anonym, "Erfahrungsbericht zu der Glaubensgemeinschaft der "Zwölf Stämme", Jahresbericht 2013, auf unserer Webseite.

[6] Sabine Riede, Kindeswohlgefährdung bei der Glaubensgemeinschaft der "Zwölf Stämme", Jahresbericht 2013, auf unserer Webseite.

[7] Heike Heinz, Rezension zu "Der Satan schläft nie - Mein Leben bei den zwölf Stämmen", auf unserer Webseite.