Beratung und Information zu neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen
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Bericht über die Arbeit des Sekten-Info NRW und die Aktivitäten neuer religiöser Gemeinschaften 2019

Es wurden im Jahr 2019 insgesamt 975 Anfragen beim Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. registriert. Von den 975 Anfragen erhielten 411 Personen durch ausführliches Informationsmaterial und ein bis zwei klärende Gespräche Hilfestellung von den MitarbeiterInnen des Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V.. In 564 Fällen war ein intensiver und längerer Beratungsverlauf mit bis zu 20 Fachkontakten notwendig.

Um einen besseren Vergleich mit den Vorjahren zu ermöglichen, sind wie jedes Jahr die 411 Informationsanfragen und die 564 Beratungsfälle in zehn Kategorien zusammengefasst worden. Insgesamt sind in den zehn Kategorien Anfragen mit der Bitte um Information und Beratung zu 480 verschiedenen Gruppierungen und Anbietern enthalten (vgl. Diagramm 1).



Diagramm 1: Summe Beratungsfälle und Informationsanfragen

 
Erstaunlicherweise hat sich die Tendenz der letzten fünf Jahre, dass die Informationsanfragen rückläufig sind, in diesem Jahr nicht fortgesetzt, die Anzahl der Beratungsfälle ist zwar immer noch höher als die Anzahl der Anfragen, aber die Anfragen sind im Vergleich zum Vorjahr wieder gestiegen. Besonders in der Kategorie „Sekten allgemein“ sind die Anfragen um 50% gestiegen. Vermutlich haben zwei erschreckende Ereignisse, über die in den Medien ausführlich berichtet wurde, dazu geführt, dass viele BürgerInnen weltanschaulichen Angeboten, dem längst vergessenen „Sektenthema“ wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben.

Auf einem abgelegenen Bauernhof in den Niederlanden entdeckt die Polizei eine Familie, die seit neun Jahren völlig isoliert gelebt hat. Der Vater soll mit seinen sechs Kindern im Keller gehaust und auf das „Ende der Zeit“ gewartet haben. Unbemerkt von den Behörden und den Nachbarn sind die Kinder neun Jahre lang eingesperrt und misshandelt worden. Der Vater soll nach Berichten niederländischer Medien religiöse Botschaften im Internet verbreitet haben.[1]
 
Das zweite Ereignis betrifft den „Armbrust-Fall“, dieses traurige Ereignis hat fünf Todesopfer gefordert. Die Untersuchungsbehörden haben nur wenige Einzelheiten bekannt gegeben. Drei Menschen sind durch Pfeile aus einer Armbrust getötet worden. Zwei weitere Frauen wurden an einem anderen Tatort aufgefunden. Ihre Leichen wiesen keine Spuren von Gewalteinwirkung auf, sie haben laut Aussage der Staatsanwaltschaft wohl gemeinschaftlichen Suizid begangen. Im Mittelpunkt stand der 53-jährigen Thorsten W., der Kampfsportler und ein Fan der mittelalterlichen Fantasy-Szene war, die Frauen sind offensichtlich Opfer seiner Wahnideen geworden. Sie glaubten anscheinend durch ihren gemeinsamen Tod einen Kreislauf von Wiedergeburten zu durchbrechen und in einer anderen Zeit sowie an einem anderen Ort ein neues System erschaffen zu können.[2]
 
Bei den konkreten Beratungsfällen des letzten Jahres war für die MitarbeiterInnen der Beratungsstelle die Erfahrung besorgniserregend, dass selbst Fachleute im Gesundheitswesen sich von Verschwörungstheorien beeinflussen lassen. Die psychologische Forschung zu Verschwörungstheorien existiert noch nicht lange, aber aus der Grundlagenforschung lässt sich ableiten, dass Kontrollverlust und das subjektive Gefühl von Machtlosigkeit eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Verschwörungsdenken spielen. Menschen, die Verschwörungstheorien Glauben schenken, entwickeln ein generalisiertes Misstrauen gegenüber anderen Personen, aber auch gegenüber Wissenschaft und Politik und sind schließlich der Meinung, dass die Welt von verborgenen Mächten beherrscht wird. Je mehr jemand mit Verschwörungstheorien sympathisiert, desto mehr befürwortet er auch alternative Heilmethoden (Pia Lamberty, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz).[3] Dieser Entwicklung können sich auch Fachleute manchmal nicht entziehen, was sich dann auf die Wissenschaftlichkeit und Qualität ihrer Arbeit auswirken kann. Das kann im Einzelfall bei ÄrztenInnen und TherapeutenInnen zu schweren gesundheitlichen Folgen für die zu betreuenden PatientenInnen führen. Der Betroffenenbericht zum Thema „Zersplitterung nach Therapie“ verdeutlicht dies.[4]

Informationsanfragen und Beratungsfälle 2019 im Einzelnen

Bei einem Vergleich der Kategorien in der Tabelle auf Seite drei fällt auf, dass im Jahr 2019 die Informationsanfragen und Beratungsfälle zu den fundamentalistischen Gruppen mit 165 Anfragen und Beratungsfällen die Kategorie Esoterik knapp übertroffen haben und in diesem Jahr an erster Stelle stehen.

Diese Kategorie bekam 2011 durch die Salafisten eine neue Gruppierung hinzu. Die Salafisten sind dem islamistischen Fundamentalismus zuzurechnen und laut NRW-Innenministerium ist die Zahl der AnhängerInnen dieser radikal-islamistischen Bewegung im letzten Jahr in NRW nicht weiter angestiegen, viele Akteure befinden sich in Haft. Die Gefangenenhilfe habe deshalb inzwischen einen hohen Stellenwert und die Justizvollzugsanstalten verfügen über SozialarbeiterInnen mit besonderer fachlicher Kompetenz, die extremistische Gefährdungen erkennen und ansprechen sollen.[5] 

In unserer Beratungsstelle gab es im letzten Jahr zu diesem Bereich nur noch drei Beratungsfälle. Das liegt wahrscheinlich daran, dass es in NRW inzwischen ein gutes Netzwerk von Hilfsmöglichkeiten zum Thema Salafismus gibt, unter anderem das Präventionsprogramm “Wegweiser“ und das Beratungsnetzwerk „Grenzgänger“. Empfehlenswert für LehrerInnen ist in diesem Zusammenhang der neue Sketch-Kanal „Jihadi-Fool“ auf YouTube, der mit satirischen Mitteln versucht, die Absurdität von Radikalisierung und Islamismus zu thematisieren. Nordrhein-Westfalen ist das erste deutsche Bundesland, dessen Sicherheitsbehörden bei der Radikalisierungsprävention diesen Weg gehen. Der Verfassungsschutz richtete darüber hinaus noch einen zweiten YouTube-Kanal ein, hier liegt der Schwerpunkt auf der seriösen Vermittlung von Wissen rund um das Phänomen Salafismus. Dieser nennt sich "hintergründlich".

Der größte Teil der Beratungsfälle in dieser Kategorie (68) steht im Zusammenhang mit dem christlichen Fundamentalismus. Sie verteilen sich auf 22 verschiedene freikirchliche Gemeinden. Häufig sind es Angehörige, die sich melden, weil der Partner, die Partnerin oder das inzwischen erwachsene Kind sich nach dem Kontakt zur neuen Gemeinde verändert hat. Sie wollen eine Einschätzung, ob und wie gefährlich die jeweilige Gemeinde ist.

Bedenklich sind Gemeinden, die Heilungsgottesdienste anbieten, bei denen Gläubige von Krankheiten und Süchten befreit werden sollen, für die allein Satan verantwortlich gemacht wird. Was als wahrer Glaube „Gott schützt die Rechtgläubigen“ gepredigt wird, endet oft in Unmündigkeit und Abhängigkeit. Kranke Menschen setzen viel Hoffnung auf die vermeintliche Wunderheilung und tun alles, um den „richtigen“ Glauben zu erlangen, unter Umständen stimmen sie sogar einem Exorzismus zu. Der Glaube, Satan sei die Ursache für körperliche und seelische Leiden und müsse aus dem eigenen Körper vertrieben werden, kann große Ängste und in Einzelfällen sogar Psychosen auslösen oder psychotische Schübe begünstigen. Ebenfalls zu Problemen können Konversionstherapien führen, die in einigen fundamentalistischen Gemeinden befürwortet werden. Diese Therapien sollen angeblich Homosexuellen helfen, ihre sexuelle Neigung zu verändern, da sie nicht „Gott gewollt“ sei. Die grundgesetzlich geschützte freie Entfaltung der Persönlichkeit wird hier nicht genügend berücksichtigt. Zusätzlich können diese Glaubensvorstellungen zu schweren Schuld- oder Minderwertigkeitsgefühlen beim Einzelnen führen, was die Entstehung einer depressiven Erkrankung begünstigen kann.

Vereinzelt befürworten christliche Fundamentalisten immer noch die körperliche Züchtigung und sind der Meinung, dass der Eigenwille eines Kindes Sünde sei. Sie vertreten ein dualistisches Weltbild und predigen, dass das Ende der Welt verbunden mit einem Strafgericht Gottes nahe sei. Diese Vorstellungen können bei Kindern große Ängste auslösen und auch im Erwachsenenalter noch nachwirken. Dies wird in unseren Beratungsgesprächen immer wieder deutlich, wenn Menschen zur Beratung kommen, die in eine fundamentalistische Gemeinde hineingeboren wurden.

Im August 2019 haben WissenschaftlerInnen der Freien Universität Berlin mit ihrer Arbeit, ein digitales Archiv über die „Colonia Dignidad“ zu erstellen, begonnen. Im Rahmen des vom Auswertigen Amt finanzierten Projektes werden Interviews mit 50 Zeitzeugen geführt und wissenschaftlich aufbereitet. Der Gründer der Colonia Dignidad Paul Schäfer hatte sich 1961 mit gleichgesinnten christlichen Fundamentalisten aus dem Münsterland nach Chile abgesetzt und dort eine deutsche Kolonie gegründet. Die Siedlung im Süden von Chile war hermetisch von der Außenwelt abgeschirmt, und die Bewohner waren zu absolutem Gehorsam verpflichtet. Paul Schäfer bestimmte über alle Lebensbereiche seiner Anhänger. Während der chilenischen Militärdiktatur (Pinochet-Regime von 1973-1990) diente die Kolonie sogar als Folterlager für die chilenische Geheimpolizei. Nach dem Ende des Regimes konnten die Verbrechen aufgedeckt werden, über welche die Menschen, denen die Flucht aus der Kolonie gelungen war, bereits in Deutschland jahrelang berichtet hatten. Schäfer wurde wegen Mordes, sexuellen Missbrauchs Minderjähriger und weiterer Verbrechen zu 20 Jahren Haft verurteilt. Im April 2010 ist er verstorben. Einige der ehemaligen Bewohner der Kolonie sind nach Deutschland zurückgekehrt und leiden noch heute unter ihren schlimmen Erfahrungen. Zwei Betroffene sind im letzten Jahr von unserer Beratungsstelle betreut worden. Die jahrelang zugefügten Verletzungen haben ein tiefsitzendes Misstrauen verbunden mit großen Ängsten gegenüber ÄrztInnen und HelferInnen bewirkt, das nicht verändert werden konnte.

An zweiter Stelle stehen die Anfragen und Beratungsfälle aus dem Bereich der Esoterik. Der seit Jahren große Bedarf an Beratung zur Esoterik hat sich auch im Jahr 2019 nicht verändert. Esoterische Angebote sind in ihrer Gefährlichkeit schwer einzuschätzen. Man schließt sich meistens oder zumindest zunächst keiner neuen Gruppe an, sondern konsumiert nur ein Angebot, z.B. eine Beratung von einem Medium, ein Heilungsangebot durch Handauflegen oder eine Zukunftsdeutung.

Die Individualisierung und fortschreitende Loslösung von vorgegebenen Strukturen und Lebensentwürfen kann zu einer gefühlten Haltlosigkeit führen. Immer mehr Menschen suchen eine spirituelle Begleitung für ihre spezifischen Lebenssituationen oder Krisen, ohne einer bestimmten religiösen Tradition anzugehören. Wer durch Kurse, Seminare und den Austausch mit spirituell Gleichgesinnten einen neuen Glauben findet, kann sich der Bedeutsamkeit seiner Existenz versichern, ohne zunächst seinen Lebensstil verändern zu müssen. Aus diesem Grund sind Menschen empfänglich für den „spirituellen Supermarkt“, können sich dabei aber langfristig den unterschiedlichsten Gefahren aussetzen. Immer wieder begeben sie sich bei ihrer Suche in eine finanzielle und seelische Abhängigkeit, die ihnen schadet.

Grundsätzlich sollte jeder Mensch bei der Wahl eines Hilfsangebotes berücksichtigen, dass eine Lebensberatung aus fachlicher Sicht nur dann gelungen ist, wenn der Hilfesuchende mit Unterstützung des Angebotes Verhaltensweisen und Erlebnisse, die er als belastend oder störend erlebt, klären, verarbeiten und verändern kann. Dabei sollte er nach einer gewissen Zeit in der Lage sein, die erlernten Strategien zur Problembewältigung alleine und eigenständig anwenden zu können. Das bedeutet, dass keine längerfristigen Abhängigkeiten vom Berater oder der Methode entstehen sollten, wie dies in der Esoterik häufig der Fall ist.

In unserer Beratungsstelle konnten in diesem Jahr 123 Beratungsfälle und 33 Informationsanfragen gezählt werden, die sich auf 90 verschiedene Anbieter verteilen. Bei der Vielfältigkeit esoterischer Angebote bietet es sich an, diese in drei bzw. vier Bereiche zu unterteilen. Wir unterscheiden:

  1. Die Lebensberatung, sie umfasst Angebote vom Familienstellen über Engelseminare und Channeling bis zu Schenkkreisen.

  2. Alternative Heilmethoden, Geistheiler und Schamanen, sie bieten Hilfe zur Heilung von körperlichen Krankheiten an.

  3. Die Zukunftsdeutung, sie beinhaltet Astrologie, Hellsehen und Kartenlegen.

  4. Esoterische Gruppierungen, die sich von den anderen drei Bereichen aufgrund ihrer Größe und Organisationsstruktur unterscheiden.

Zahlenmäßig sind die Bereiche eins und zwei fast gleich, sie machen jeweils ein Drittel der genannten Beratungsfälle aus. Die beiden anderen Bereiche teilen sich das letzte Drittel.

Innerhalb des ersten Bereiches der Esoterik ragte im letzten Jahr zum wiederholten Male der Lebenshilfeguru Robert Betz heraus. 12 Beratungsfälle standen im Zusammenhang mit seiner Lehre. Überwiegend waren es Angehörige, die von Beziehungsproblemen berichteten, nachdem Partner oder Partnerin, Tochter oder Sohn ein Betz-Seminar besucht oder eine sogenannte Transformationstherapie absolviert hatten. Betz bietet eine von ihm selbstentwickelte neue Transformationstherapie an, die mit wissenschaftlicher Psychologie nicht viel zu tun hat. Er behauptet, dass seine Therapie Menschen in die Lage versetze, Leidenszustände aller Art zu verwandeln. Die Menschen werden dabei von der Kraft der Engel und Ahnen begleitet. Betz bedient die Sehnsucht vieler Menschen, dass alles machbar sei und am Ende gut ausgehen würde. Zunächst kann die Botschaft, man sei alleiniger Erschaffer seines Lebensglücks, einen positiven Effekt haben, langfristig entspricht sie nicht der Realität und dem heutigen Stand der psychologischen Forschung. Schon im Jahresbericht 2013 wiesen wir in einem Fachartikel auf problematische Aspekte im Zusammenhang mit seinem Angebot hin.[6] 

In diesem Zusammenhang ist es auch erschreckend, dass die längst in Vergessenheit geglaubte Methode der esoterischen Lichtnahrung erneut ein Todesopfer gefordert hat. Diese Ideologie vertritt die Vorstellung, dass Menschen angeblich lernen können, sich allein von Lichtenergie zu ernähren und auf feste und flüssige Nahrung verzichten zu können. Die AnhängerInnen organisieren sich übers Internet und treffen sich auf Seminaren. Die Umsetzung dieser Ideologie ist sehr gefährlich, weil beim vollständigen Verzicht auf feste und flüssige Nahrung bereits ab dem dritten Tag das Risiko einer tödlichen Dehydration steigt. Wird diese Methode bei Kindern angewandt, sollte man sofort das Jugendamt informieren. Drei Fälle waren im Rahmen unserer Beratungsarbeit von dieser Ideologie betroffen.

Berücksichtigt man jedoch, dass es eine eigene Kategorie „Heilergruppen“ mit in diesem Jahr 25 Beratungsfällen zusätzlich gibt, wird deutlich, dass der Markt der alternativen Heilmethoden die meisten Problemfälle verursacht. Auf der Suche nach alternativen Heilmethoden geraten immer wieder Menschen in die Hände von Scharlatanen. Beispielsweise behandelte der Heilpraktiker Klaus R. KrebspatientInnen mit dem nicht zugelassenen Mittel 3-Brompyruvat, das angeblich in den Stoffwechsel von Krebszellen eingreift und diese aushungern würde. Drei PatientInnen starben, das Landgericht Krefeld verurteilte den Heilpraktiker im Juli 2019 zu zwei Jahren Haft auf Bewährung. Um solche Fälle in Zukunft zu verhindern, wären neben einer verstärkten Aufklärungsarbeit auch strengere juristische Konsequenzen für die Zukunft wünschenswert.

Härter fiel das Urteil für den Geschäftsmann Dennis H. aus, er muss für drei Jahre und zwei Monate in Haft. Er hatte mit seinem Bruder über Jahre das Mittel „Miracle Mineral Supplement“ (MMS) als Heilmittel verkauft und einen Erlös von 350.000 Euro erzielt. MMS ist eine gefährliche Natriumchloritlösung, die als Bleich- oder Desinfektionsmittel genutzt werden kann, z.B. für die Reinigung von Swimmingpools. Der Bundesgerichtshof wies die Revision der Verteidigung im Juli 2019 zurück. Trotz der Haftstrafe zeigt aber auch dieser Fall, dass HeilerInnen in Deutschland oft jahrelang ihr Unwesen treiben können, denn der Verkauf fand bereits seit 2008 statt.[7] 

Wie groß die Schäden sind, die HeilerInnen Menschen zufügen, darüber gibt es keine Gesamtstatistik. Im Dezember 2018 hat sich der brasilianische Heiler Joao Teixeira de Faria der Polizei gestellt, nachdem Hunderte von Frauen, darunter auch Frauen aus Deutschland, Missbrauchsvorwürfe gegen ihn erhoben hatten. Im Dezember 2019 ist er wegen sexuellen Missbrauchs zu 19 Jahren und 4 Monaten Haft im geschlossenen Vollzug verurteilt worden.[8] Missbrauchsvorwürfe im Zusammenhang mit HeilerInnen sind uns auch aus unserer Beratungspraxis bekannt.

Häufig berichten Betroffene, dass eine zunächst liebevolle Atmosphäre sie dazu verleitet hat, dem Geistheiler völlig zu vertrauen und notwendige medizinische Behandlungen zu vernachlässigen. Zusätzlich sind es aber auch Angehörige, Geschwister oder Partner, die unsere Beratungsstelle verzweifelt um Hilfe bitten.

An dritter Stelle stehen die Anfragen (61) und Beratungsfälle (94) zu den synkretistischen Neureligionen, die gegenüber dem Vorjahr erneut angestiegen sind. Die Hälfte der Beratungsfälle in dieser Kategorie, 48, bezieht sich auf die Gruppierung der Zeugen Jehovas. Einerseits hat die Organisation es geschafft, in allen Bundesländern den Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts zu erhalten, andererseits gibt es vermehrt negative Berichte von ehemaligen Mitgliedern in der Öffentlichkeit und viele junge Mitglieder verlassen die Organisation. Sie werden dann von den übrigen Zeugen Jehovas als Abtrünnige tituliert, gemieden und leiden unter dem Verlust ihres bisherigen sozialen Umfeldes. Selbst Eltern erwachsener AussteigerInnen halten sich an diese Regel. Diese Situation spiegelt sich auch in unserer Beratungsarbeit wieder. Viele berichten, dass sie auch nach dem Ausstieg noch Angst vor dem Weltuntergang hätten, nachts unter Albträumen litten und gerne Kontakt zu ihren Familien hätten.

Am 26.07.2019 gab es wieder einen internationalen Gedenktag für die Opfer der Wachturmgesellschaft. Ehemalige Mitglieder haben an diesem Tag aus ihrer Sicht auf problematische religiöse Vorschriften der Zeugen Jehovas hingewiesen. Unter anderem beklagten die AussteigerInnen den Umgang mit sexuellem Kindesmissbrauch durch die Führungsgremien der Zeugen Jehovas.[9] 

Damit befassten sich auch die ForscherInnen der Universität Utrecht in den Niederlanden. 751 Fälle von sexuellem Missbrauch innerhalb der Zeugen Jehovas waren ihnen gemeldet worden, die meisten lagen mehr als 10 Jahre zurück. Dreiviertel der Opfer klagten über die Reaktion ihrer Führungsgremien, diese hätten ihnen dringend abgeraten, Anzeige zu erstatten. Das niederländische Justizministerium hatte die Untersuchung in Auftrag gegeben und der Bericht darf veröffentlicht werden, das entschied ein Gericht in Utrecht im Januar 2020. Die Glaubensgemeinschaft hat in den Niederlanden nach eigenen Angaben 30.000 Mitglieder.[10] In Deutschland sind es ca.165.000.

Ebenfalls einen hohen Beratungsbedarf hat die zahlenmäßig kleinere Gruppierung Shinchonji aus Korea im letzten Jahr mit 31 Beratungsfällen und 26 Anfragen verursacht. Die 1984 vom selbsternannten Propheten Man-Hee Lee gegründete Gemeinschaft missioniert seit einiger Zeit verstärkt in Essen. Dabei verwenden sie unterschiedliche Namen, die positiv klingen, wie “International Peace Center“ oder „Ein Herz für die Bibel“. Auch in Dortmund gibt es ein Zentrum, im gesamten Ruhrgebiet sind es etwa 200 MitgliederInnen. Sie sprechen gezielt junge Menschen an, die alleine unterwegs sind, mit der Bitte, an einer Umfrage zum Thema „Glück“ oder „Religion“ teilzunehmen. Nach dem ersten Kontakt werden die Angesprochenen zu einem Bibelkurs eingeladen, der zunächst dreimal, nach einiger Zeit sogar fünfmal die Woche stattfindet, ohne zu wissen, um welche Gemeinde es sich genau handelt. Es wird verschwiegen, dass es sich bei Shinchonji um eine christliche Sondergemeinschaft handelt. Die AnhängerInnen sehen in Lee einen biblisch verheißenen Endzeitpastor. Er verkündigt die einzig wahre Deutung der Bibel und dass die Endzeit bald bevorstehe. Manchmal versuchen Mitglieder andere Kirchengemeinden, Initiativen oder Friedensgruppen zu infiltrieren. AussteigerInnen berichten von hohem psychischem Druck und dass sie aufgrund dessen Freunde und Familie vernachlässigt hätten. Auch waren sie besorgt, was mit den vielen Informationen geschehen würde, die sie der Gruppe mitgeteilt hätten. Aufgrund der neuen Datenschutzgrundverordnung kann jede/r BürgerIn, der von der Organisation nicht mehr kontaktiert werden möchte, dies der Organisation per Einschreiben mitteilen und um Datenlöschung bitten.

In Zusammenarbeit mit anderen Weltanschauungsbeauftragten wurde eine 16-seitige Informationsbroschüre erstellt, die kostenlos unter Infomaterial erhältlich ist.

Bei den 91 Fällen der Kategorie Psychogruppen, die in unserer Statistik den 4. Platz einnehmen, stehen mehr als die Hälfte der Beratungen im Zusammenhang mit Coaching-Angeboten (49). Viele der Coaching-Angebote sind nicht wissenschaftlich fundiert. Die Veranstaltungen erinnern eher an Rockkonzerte als an klassische Bildungsseminare. Bei übertriebenen Versprechen, alles verändern zu können und emotionalen Auftritten im Rahmen von Massenveranstaltungen sollte man vorsichtig sein. Ein seriöser Coach sollte seine Grenzen kennen und Menschen bei Bedarf zu einem Psychotherapeuten oder Arzt schicken. Menschen, die ein Coaching-Angebot in Anspruch nehmen wollen, sollten sich gründlich informieren. Mehrere Fachartikel sind auf unserer Internetseite zu finden und bieten eine erste Informationshilfe und Orientierung.[11] 

Auch der neue Flyer unserer Beratungsstelle mit einer Checkliste zur Beurteilung von Coaching-Angeboten kann hilfreich sein.

Der größte Teil der restlichen Beratungen in dieser Kategorie bezog sich auf verschiedene Verschwörungstheorien. Geheime Wahrheiten und Komplotte üben auf viele Menschen eine große Faszination aus. Besorgniserregend wird diese Faszination erst, wenn Verschwörungsgläubige glauben, dass das Böse oder die Bösen in der Welt immer mehr zunehmen und sowohl das Gute als auch die Betroffenen selbst dadurch akut bedroht sind. Menschen, die sich ausgegrenzt fühlen oder einen schweren Schicksalsschlag erlitten haben, neigen eher dazu, Verschwörungstheorien Glauben zu schenken. Das eigene erlebte Leid in ihrem Leben erhält dadurch einen Sinn. Sie entwickeln ein beträchtliches Misstrauen gegenüber anderen Menschen und staatlichen Institutionen. Angehörige haben oft das Gefühl, der Betroffene würde ihnen nach und nach entgleiten. Sie leiden unter dem missionarischen Drang der Verschwörungsgläubigen, von denen sie als „Schlafschafe“ bezeichnet werden, da sie den Medien alles glauben und von geheimen Mächten ausgenutzt werden. Es ist wichtig, möglichst frühzeitig eine Beratung in Anspruch zu nehmen, um eine Verhärtung der Fronten zu vermeiden. Viele der Verschwörungstheorien haben keinen religiösen Inhalt. Wie leicht man mit Verschwörungstheorien in Berührung kommt, verdeutlicht der Betroffenenbericht „Im Sog der Verschwörungstheorien“.[12]

Typische Merkmale einer Verschwörungstheorie wurden in der neuen Checkliste Verschwörungstheorien zusammengefasst. Sie kann auch als Flyer zusammengefasst von unserer Webseite abgerufen werden.
 
Bei den guruistischen Gruppierungen gab es im Vergleich zum überraschenden Anstieg im letzten Jahr wieder eine rückläufige Tendenz. Interessant war die Austrittserklärung des Buddhistischen Dachverbandes Diamantweg e. V. (so bezeichnet sich die Bewegung um Ole Nydahl) aus der Deutschen Buddhistischen Union (BDU). Bereits dreimal gab es zuvor eine Debatte darüber, ob die Diamantweg-Bewegung nicht aus der DBU auszuschließen sei. Bereits seit vielen Jahren fällt Ole Nydahl durch rechtslastige und frauenfeindliche Äußerungen auf. Mehr als einmal riet er seinen Anhängern, die AfD zu wählen und schießen zu lernen, um gegen den Islam gewappnet zu sein.[13]

Die Anfragen und Beratungsfälle zur Scientology-Organisation sind nicht mehr so hoch wie in früheren Jahren und nehmen in unserer Statistik momentan nur noch Platz sechs ein. Es darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich die 32 Anfragen aus der Bevölkerung auf nur eine Gruppierung beziehen, während die anderen Kategorien mehrere Gruppen umfassen, so dass die Scientology-Organisation immer noch ein großes Konfliktpotential beinhaltet und mit 20 Beratungsfällen nach wie vor einen großen Beratungsbedarf verursacht. Scientology ist keineswegs nicht mehr gefährlich.

In Deutschland wird die Scientology-Organisation weiterhin vom Verfassungsschutz beobachtet. Der im Juli 2019 veröffentlichte NRW-Verfassungsschutzbericht weist darauf hin, dass es in NRW 350 Mitglieder gäbe und die Organisation neben dem Verkauf kostenpflichtiger Kurse und Materialien, Druck auf ihre Mitglieder ausüben würde, erhebliche Geldbeträge an Scientology zu spenden. Neben dem Versuch, sich durch Aktivitäten in der Immobilien- oder Beratungsbranche wieder mehr der Wirtschaft anzunähern, verfolgen sie weiterhin die Strategie, durch altbekannte Werbe-Aktionen Menschen zu ködern.[14] 

Das entspricht auch den Erfahrungswerten unserer KlientenInnen. Besonders ein Selfmade-Millionär und Immobilieninvestor aus Düsseldorf hat mit seinem Buch “Reicher als die Geissens“ und seinen 43 Gesetzen des Erfolges auch Klienten unserer Beratungsstelle beschäftigt. Alex Fischer ist Anhänger von Scientology und hat nach eigener Aussage gegenüber der WirtschaftsWoche etwa 150 000 bis 200 000 Euro an die Organisation bezahlt. Er sei bis zur siebten OT-Stufe (zweithöchste Stufe bei Scientology) gekommen und halte die öffentliche Kritik an Scientology für völlig übertrieben.[15] 

Außerdem haben Mitglieder der Scientology-Organisation mit Hilfe ihrer Broschüre “Der Weg zum Glücklichsein“ im letzten Jahr versucht, Passanten in NRW anzusprechen oder die Hefte auf öffentlichen Ständen und in privaten Briefkästen zu verteilen. Inzwischen gibt es das Heft auch auf Türkisch. In der Broschüre werden eher sehr allgemeine Vorschläge und Anleitungen zum Glücklichsein dargestellt. Aber sie soll helfen, Menschen bewusst zu machen, dass sie gerade nicht glücklich sind und es die Möglichkeit gäbe, dies mit Hilfe von Scientology zu ändern. Zusätzlich wurde an einem Stand in der Neusser Innenstand ein kostenloser Stresstest angeboten. Auch dahinter verbirgt sich Scientology. Viele Bürger fordern deshalb mehr Transparenz nach dem Motto, „Wo Scientology drinsteckt, soll auch Scientology draufstehen!“

Schon in früheren Jahren haben Scientologen versucht, über persönliche Kontakte Menschen für Scientology zu begeistern, dabei haben sie auch Facebook und Dating Portale nicht ausgelassen. Seit 2018 gibt es eine eigene Datingseite im Internet unter dem Namen „Free Spirit Singles“. Auf der Seite wird betont, wir sind eine Gruppe, die „The Way to Happiness“ (Den Weg zum Glücklichsein) unterstützt und im Impressum taucht der Name L.R. Hubbard auf. Auch hierzu gab es Anfragen im letzten Jahr.

Ebenso besorgniserregend ist es, dass einige Scientologen verstärkt Impfgegner und gefährliche Anbieter der Alternativmedizin, wie z.B. die von R.G. Hamer propagierte Germanische Neue Medizin, unterstützen. Der Scientology nahestehende Sabine Hinz Verlag hat werbende Artikel in den eigenen Broschüren veröffentlicht. Dies könnte ein Hinweis sein, dass einige Scientologen sich erhoffen, auf diesem Wege neue Mitglieder zu gewinnen.

Folgenschwer sind auch die Aktionen der scientologischen Tarnorganisation „Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte“, die im letzten Jahr öffentlich die Arbeit der staatlichen Kinder- und Jugendlichenhilfe unter dem Motto „staatlicher Kinderklau“ kritisiert und damit Angst verbreitet haben. Die polemische Formulierung weist auf die Inobhutnahme von Kindern hin, deren Wohl durch die Erkrankung ihrer Eltern akut gefährdet ist, und entbehrt laut Aussage des Hamburger Verfassungsschutzes jeglicher Grundlage.[16] 

Viele Betroffene verlassen die Organisation nach kurzer Zeit wieder. Aber etliche AussteigerInnen, die uns in unserer Beratungsstelle um Hilfe bitten, beklagen, dass sie sich vorwerfen, der Organisation zu viel anvertraut oder zu viel Geld gegeben zu haben.

Bei der Thematik Satanismus/Okkultismus sind die Beratungsfälle (21) deutlich höher als die Anfragen (12). Bei 16 der 21 Fälle ging es um das Thema der „Rituelle Gewalt und Mind-Control“-Theorie. War Ende der 80er Jahre von „Ritueller Gewalt und Mind-Control“ im Zusammenhang mit Satanisten die Rede, so wird heute von geheimen Netzwerken und destruktiven Kulten gesprochen.[17] Trotz jahrelangen intensiven Ermittlungen durch Polizei und Staatsanwaltschaft konnte bisher kein einziger Fall verifiziert werden, der diese Theorie bestätigen kann. Die Behauptungen basieren allein auf Betroffenenberichten. Dies führt zu einer zunehmenden Verunsicherung von TherapeutInnen und Betroffenen. Der Fachartikel in unserem Jahresbericht soll zur Klärung und Versachlichung beitragen.[18] 

Von den restlichen fünf Beratungsfällen litten zwei unter außerkörperlichen Erfahrungen und drei unter Besessenheitsgefühlen, die ihnen Angst gemacht haben. Außerkörperliche Erfahrungen sind ein Phänomen, das noch nicht vollständig erforscht ist, aber sie treten bei Menschen mit Gleichgewichtsstörungen häufiger auf. Deshalb vermuten Wissenschaftler, dass die Ursache ein Mix aus inkohärenten Wahrnehmungsinformationen und psychischer Belastung sein könnte. Menschen, die diese Erfahrung gemacht haben, berichten, dass sie die Welt von außerhalb ihres Körpers, oft aus der Vogelperspektive, wahrgenommen haben.[19] 

Bei der letzten Kategorie Strukturvertriebe ging es hauptsächlich um Direktvertriebssysteme, die Nahrungsergänzungsmittel verkaufen. Sie binden ihre Mitarbeiter an sich, indem sie mit Versprechungen, dass ein schneller Erfolg verbunden mit viel Geld und einer sinnvollen Tätigkeit zu erwarten sei, Sehnsüchte der Menschen bedienen. Dies ist aber leider beides nicht der Fall, Nahrungsergänzungsmittel können gesundheitliche Schäden verursachen. Empfohlen sei hierzu der Beitrag des SWR „Juice Plus, Marktcheck deckt auf“ vom 14.01.2020.
 
 
Informationsanfragen
Diagramm 2: Informationsanfragen im Vergleich der letzten fünf Jahre
 
 

Beratungsfälle
Diagramm 3: Beratungsfälle im Vergleich der letzten fünf Jahre
 
 
Unabhängig von der jeweiligen Gruppierung, die den Beratungsbedarf ausgelöst hat, ist es interessant zu fragen, wer die Beratungsstelle mit der Bitte um Hilfe aufgesucht hat, Menschen, die selbst betroffen sind, oder Freunde und Angehörige? Im letzten Jahr betrug der Anteil der Betroffenen, die für sich selbst eine Hilfestellung erwartet haben, 29%. Weitere 33% verteilten sich auf nahe Angehörige oder den Partner. Noch einmal 21% baten uns im Rahmen eines institutionellen Arbeitsauftrages um Hilfe (z.B. Polizei, Schule, Hochschule, Beratungsstellen, Jugendhilfe, Psychiatrien). Der Rest (17%) verteilte sich auf Anfragen, die sich auf Bekannte und Kollegen, sowie die Presse beziehen (vgl. Diagramm 4).

Betroffenheit
Diagramm 4: Informationsanfragen und Beratungsfälle aufgeteilt nach Art der Betroffenheit

 

Rechtsberatung 2019


Seit Januar 2004 ist der Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. in der Lage, ergänzend zur psychosozialen Beratung, kostenlos eine fundierte Rechtsberatung anbieten zu können. Von den 564 Klienten im Jahr 2019 haben 124 diese Möglichkeit in Anspruch genommen. Die Tabelle zeigt den Bedarf an Rechtsberatung, unterteilt in die auch sonst üblichen zehn Kategorien (vgl. Diagramm 5).
 
 
Recht
Diagramm 5: Rechtsberatung

 
Der größte Teil der Rechtsberatung befasste sich in 2019 mit Fragestellungen zu esoterischen Lebensberatern und deren Hilfeangeboten. Häufig werden - bedingt durch schwierige Lebensumstände, wie Trennung, berufliche Probleme oder Erkrankungen - esoterische Anbieter als vermeintliche Hilfe zu Rate gezogen. Neben der Gefahr in eine psychische Abhängigkeit zu dem „allwissenden“ spirituellen Lebensberater zu gelangen, fällt auf, dass die Ratsuchenden häufig über die Grenze ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit gehen und sogar bereit sind, sich zu verschulden. Gegenstand der Rechtsberatung ist dann vielfach die Frage, ob das gezahlte Honorar zurückverlangt werden kann. Letztendlich hängt dies vom Einzelfall ab. Betroffene sollten sich daher nicht scheuen, ihren Fall juristisch überprüfen zu lassen und gegebenenfalls auch vor einer gerichtlichen Durchsetzung nicht zurückschrecken. Daher soll an dieser Stelle auf zwei Fälle hingewiesen werden, bei welchen es – aus Sicht der Betroffenen – zu sehr erfreulichen Ergebnissen kam.

In einem Ende 2019 abgeschlossenem Verfahren vor dem Oberlandesgericht München[20], ging es um die Frage der Rückzahlung für ein nicht in Anspruch genommenes schamanisches Heilritual. Die betroffene Frau litt aufgrund von mehreren Autounfällen seit vielen Jahren an starken Schmerzen und befand sich nach eigenen Aussagen in einer schwierigen psychischen Phase. Eine Freundin erzählte ihr von einer Schamanin, an welche sie sich schließlich wandte. Um ihr zu helfen, schlug die Schamanin ein schamanisches Heilritual für 25.000 € vor. Ein entsprechender Vertrag wurde abgeschlossen und eine Anzahlung von 12.500 € an die Schamanin gezahlt. Kurz bevor das Ritual abgehalten werden sollte, bekam die Frau jedoch Zweifel, erklärte den Rücktritt vom Vertrag und verlangte die Rückzahlung der 12.500 €. Die Schamanin verweigerte dies, so dass es zur Klage auf Rückzahlung in erster Instanz vor dem Landgericht Traunstein[21], später vor dem Oberlandesgericht München kam. Vor Gericht trug die Betroffene vor, dass die Schamanin davon gesprochen habe, dass sie eine schwere schädliche Besetzung habe, die sie leiden ließe und die auch auf die nachfolgenden Generationen übergehen könne. Die Schamanin habe in Aussicht gestellt, sie von dieser Besetzung zu befreien. Die Schamanin bestritt dies und führte aus, dass sie eine international anerkannte Schamanin sei. Das Ritual sei als religiöse Zeremonie zu verstehen, bei welcher ein Heilungsritual erfolge, weil Reaktionen und Antworten auf Fragen erfolgen sollen. Die Schamanen gälten hierbei als Vermittler zwischen den Menschen und der Geisterwelt. Während das Landgericht Traunstein die Klage auf Rückzahlung der Anzahlung in Höhe von 12.500 € in erster Instanz abwies, bewertete das Oberlandesgericht München den Vertrag als sittenwidrig und empfahl der Schamanin „dringend“, einem Vergleich zuzustimmen und 7.500 € aus der Anzahlung zurückzugeben. Die Schamanin nahm dies letztlich auch an.

Das Oberlandesgericht bezog sich bei seiner Einschätzung der Rechtslage vor allem auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2011, wonach die Hürden für eine Sittenwidrigkeit bei Verträgen um esoterische Dienstleistungen nicht allzu hoch gelegt werden dürfen.[22] Der Hintergrund ist, dass esoterische Angebote oftmals Menschen ansprechen, die nur eingeschränkt oder überhaupt nicht in der Lage sind, sich kritisch mit dem Angebot auseinanderzusetzen: Personen, die verzweifelt sind, sich in schwierigen Lebensumständen befinden und Wege aus der Krise suchen oder leichtgläubig und unerfahren sind und daher für Versprechungen besonders empfänglich sind. Erfreulicherweise hat das Oberlandesgericht diesen wichtigen Aspekt berücksichtigt und festgehalten, dass die Vorinstanz die Hürde für die Annahme einer Sittenwidrigkeit zu hoch angesetzt hatte.

Was genau die Schamanin für die hohe Summe von 25.000 € überhaupt zu leisten beabsichtigte, blieb bis zum Ende der Verhandlung unklar. Die Betroffene sagte aus, dass das Ritual für einen Tag angesetzt worden sei, als Ort habe eine leerstehende Fabrikhalle dienen sollen und sie habe ein Nachthemd mitbringen sollen. Die Schamanin selbst sagte nicht, wie das Ritual hätte ablaufen sollte. Die Rituale seien immer „individualisiert“.[23]

Auch in einem weiteren Fall setzte sich das OLG München[24] mit den Folgen vermeintlich übersinnlicher Fähigkeiten auseinander und entschied ebenfalls zu Gunsten der Betroffenen. Ein esoterisch interessiertes Ehepaar befreundete sich mit einem als Coach und Meditationslehrer tätigen Mann, der angab ein umfangreiches Wissen zu Meditations- und Heilmethoden zu haben. Sie wurden seine spirituellen „Meisterschüler“, die er umfassend lehrte. Nach seiner Lehre war es ihm als „Adept“ möglich, Kontakt zu den „Unsterblichen“ aufzunehmen und diesen, Geld zu übergeben. Die „Unsterblichen“ würden dann das Geld zum Wohle der Menschheit einsetzen. Er vereinbarte mit dem Ehepaar, dass diese ihm den „Zehnten“ melden und nach Rechnungsstellung entsprechende Überweisungen an ihn vornehmen. Im Vertrauen auf die Richtigkeit seiner Angaben, zahlten die Eheleute über sechs Jahre lang, jeweils zehn Prozent ihres monatlichen Bruttoeinkommens, insgesamt einen Betrag in Höhe von 109.500, 88 €. Auf diese Weise wollte das Ehepaar Gutes in der Welt tun, um so selbst auf ihrem meditativ-spirituellen Weg voranzukommen.

Anstatt das Geld aber zum Wohle der Menschheit auszugeben, verwendete der spirituelle Lehrer die ihm überwiesenen Beträge für eigene Zwecke. Dies fand seine Ehefrau heraus und informierte das betroffen Ehepaar. Diese klagten auf Rückzahlung des Geldes. Das OLG München entschied im Sinne der Vorinstanz, des Landgerichts Kempten[25], welches in dem Verhalten des Mannes einen Betrug sah und ihn zur Rückzahlung der kompletten Summe verurteilt hatte.

Zwar hielt das Oberlandesgericht fest, dass es kaum nachvollziehbar sei, wie jemand daran glauben könne, dass eine physisch reale Geldübergabe an in Wirklichkeit lange verstorbene Persönlichkeiten erfolge. In Anbetracht der Rahmenumstände und des persönlichen Eindrucks von dem Ehepaar, sei es aber innerhalb dieses Systems logisch und nachvollziehbar, dass sie ihrem Lehrer - als langjährige Schüler - die Aussagen geglaubt haben. Es sei äußerst fernliegend, dass sich das Ehepaar ausgerechnet einen solchen für Außenstehende kaum nachvollziehbaren Sachverhalt ausgedacht haben könnten. Der spirituelle Lehrer hatte angegeben, dass die Geldzahlung als Gegenleistung für „umfassende Beratung“ erfolgt sei und versuchte die Klage als Ergebnis eines „Rosenkriegs“ - angezettelt durch seine inzwischen von ihm getrenntlebende Ehefrau -, darzustellen. Das Gericht schätzte dagegen jedoch auch die Aussage seiner Ehefrau als glaubhaft ein. Diese hatte ebenfalls an die Lehre ihres Mannes geglaubt und sagte aus, dass sie sich inzwischen in Therapie befinde und dies alles nur so erklären könne, dass es ähnlich sei, wie bei Personen, die sich auf eine Sekte einließen.

Der restliche Teil der Rechtsberatung hat, wie in den Jahren zuvor auch, eine sorgerechtliche und umgangsrechtliche Problematik zum Inhalt und betrifft alle Bereiche bis auf den der Strukturvertriebe. Im Zusammenhang mit Strukturvertrieben ging es um Kündigungsmöglichkeiten von Verträgen bzw. um Rückgabe von bestellten Waren. Zusätzlich passiert es immer häufiger, dass weltanschauliche Anbieter mit dem Argument, „Glaubensfreiheit“ oder „Persönlichkeitsrecht“ verlangen, dass wir kritische Texte von unserer Webseite entfernen sollen, selbst wenn gar keine Namen genannt werden, sondern es allein um eine Methode geht. Jede Form der Aufklärung soll verhindert werden. Bisher konnten wir uns erfolgreich wehren.

Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit

Von Januar bis Dezember 2019 wurden 15 Präventionsveranstaltungen und Multiplikatorenschulungen durchgeführt. Insgesamt nahmen 416 Menschen an den Schulungen des Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e. V. teil.

Der größte Teil der Veranstaltungen waren Fachtagungen für LehrerInnen und MitarbeiterInnen des Allgemeinen Sozialen Dienstes (5). Ergänzend zu diesem Angebot erstreckte sich die Aufklärungsarbeit des Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. auf weitere Vorträge in der Erwachsenenbildung (Volkshochschulen, Gemeinden, Elternkreise) (4) und für MitarbeiterInnen in anderen Beratungsstellen und bei der Polizei (5). Außerdem fanden auch Präventionsveranstaltungen direkt mit SchülerInnen (1) statt.

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die MitarbeiterInnen des Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. LehrerInnenn gern Informationsmaterial für die Aufklärungsarbeit im Unterricht zur Verfügung stellen. Dafür haben wir auf unserer Homepage eine Spalte „Material Präventionsarbeit“ eingerichtet. Hier können LehrerInnen zu den verschiedensten Themen unserer Beratungsstelle sowohl Infomaterial für den Unterricht als auch Fallberichte und Hintergrundinformationen erhalten. Selbstverständlich beraten wir LehrerInnen auch gern telefonisch. Leider ist es aufgrund des ständig sich erweiternden und wachsenden Beratungsbedarfes in unserer Einrichtung nicht mehr möglich, allgemeine Informationsveranstaltungen an Schulen durchzuführen, sondern nur, wenn unsere Unterstützung im Rahmen eines konkreten Vorfalles an der Schule benötigt wird. Inzwischen bieten wir hier verstärkt Einzelgespräche in Zusammenarbeit mit SchulsozialarbeiterInnen an.

Um dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit in aktueller Weise gerecht zu werden, wurden die Recherchearbeiten der Medien in 45 Fällen unterstützt. In 23 Fällen wurde durch eine direkte Mitwirkung in einem Fernseh-/Radiobeitrag oder Zeitungsartikel auf die Gefahren neuer religiöser Glaubensgemeinschaften hingewiesen.

Veröffentlichung einer Publikation zum Kinder- und Jugendschutz
Die Handlungsweise eines Menschen kann durch eine Glaubensüberzeugung so fehlgeleitet werden, dass Eltern, die ihre Kinder durchaus liebhaben, ihnen trotzdem Schaden zufügen. So gibt es beispielsweise Eltern, die aus Glaubensgründen schulmedizinische Behandlungen für ihre Kinder verweigern oder ihre Kinder züchtigen oder vehement den Schulbesuch ablehnen. In einigen wenigen Fällen gibt es sogar Eltern, die Ihre Kinder bereits im Sinne des radikalen Salafismus erziehen. Wer mögliche Gefahren im Kontext neuer Glaubensgemeinschaften tabuisiert, duldet unter Umständen erhebliche Grenzverletzungen gegenüber Kindern.

Aus diesem Grund wurde eine Publikation in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen erstellt, sie enthält eine Dokumentation gerichtlicher Entscheidungen, aus der zu ersehen ist, wie die Gerichte im konkreten Einzelfall entschieden haben. Unter dem Titel „Glaubensfreiheit versus Kindeswohl“ ist die Publikation seit November 2018 beim Sekten-Info Nordrhein-Westfalen für 9,50 Euro erhältlich. Diese wurde im letzten Jahr sowohl von Betroffenen als auch von Fachleuten gut angenommen und vielfach bestellt.

Broschüre KindeswohlGlaubensfreiheit versus Kindeswohl.
Familienrechtliche Konflikte im Kontext religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften
128 Seiten
Köln 2018
Bestellbar unter Infomaterial
 

 


Gremienarbeit

Der Informationsaustausch über Trends in der aktuellen Sektenszene fand wie jedes Jahr in zahlreichen Workshops mit anderen Sektenberatungsstellen, kirchlichen Sektenbeauftragten und Betroffeneninitiativen statt. Auch nehmen die MitarbeiterInnen des Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. regelmäßig an den Fachgesprächen im Landtag teil. Auf Landesebene ist der Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. im „Arbeitskreis Beratungsstellen“ des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands integriert. Trotz der großen zeitlichen Belastung konnten die MitarbeiterInnen insgesamt an 22 Gremiensitzungen teilnehmen. Zusätzlich haben die MitarbeiterInnen sich im Rahmen von sechs verschiedenen Fortbildungsveranstaltungen zum Daten- und Kinderschutz selber weitergebildet.
 
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Endnoten

(1) www.rtl.de/cms/familie-auf-bauerhof-in-ruinerwold-festgehalten-vater-fuehrte-sekten-webseite-im-internet-4424149.html (abgerufen am 22.10.2019).

(2) www.morgenpost.de/vermischtes/article227008031/Armbrust-Fall-abgeschlossen-Behoerden-gehen-von-Suizid-aus.html (abgerufen am 6.9.2019).

(3) www.medical-tribune.de/meinung-und-dialog/artikel/alternativmedizin-beliebt-bei-verschwoerungstheoretikern/ (abgerufen am 24.04.2019)

(4) vgl. hierzu Erfahrungsbericht im Artikel Zersplitterung nach Therapie - Bedenkliche Auswirkungen der „Rituelle Gewalt Mind-Control“-Theorie.

(5) www.wz.de/nrw/islam-und-konfliktforscher-eroertern-deradikalisierung (abgerufen am 08.08.2019)

(6) vgl. Uta Bange, Robert Betz und die Transformationstherapie - eine esoterische Pseudotherapie im Fokus der Kritik.

(7) medwatch.de/2019/10/31/warum-heilpraktiker-trotz-todesfaellen-weiter-patienten-behandeln-duerfen (abgerufen am 31.10.2019), medwatch.de/2019/07/23erloese-von-350-000-euro-bundesgerichtshof-bestaetigt-haftstrafe-fuer-mms-verkaeufer (abgerufen am 23.07.2019)

(8) vgl. orf.at/stories/3148257 (abgerufen am 20.12.2019).

(9) http://jw.help/medienmitteilungen/ (abgerufen am 23.7.19)

(10) www.tagesspiegel.de/politik/universitaet-utrecht-stellt-bericht-vor-jahrelanger-missbrauch-der-zeugen-jehovas-gerichtlich-bestaetigt/25467818.html (abgerufen am 24.01.2020)

(11) vgl. Anja Gollan, Coaching – mehr schlecht als Recht? Anmerkungen zum Erfahrungsbericht. Oder Anonym, Ich bin entsetzt über dieses Menschenbild - Erfahrungsbericht eines unseriösen Erfolgsseminars.

(12) vgl. "Im Sog der Verschwörungstheorien - Erfahrungsbericht"

(13) https://allgaeu-rechtsaussen.de/2019/03/04/lama-ole-nydahl-hetze-oder-religionskritik/ (abgerufen am 5.3.2019)

(14) vgl. Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen, 2018, S.271-275.

(15) Wirtschaftwoche 47/8.11.2019, vgl. S. 85.

(16) www.mopo.de/hamburg/staatlicher-kinderklau-in-hamburg-verfassungsschutz-warnt-vor-scientology-fake-news-32391594/ (abgerufen am 17.04.2019)

(17) Die Theorie basiert auf der Annahme, dass bei den Opfern durch Missbrauch und Folter gezielt eine Persönlichkeitsstörung erzeugt wird und die Betroffenen mit Hilfe von „Mind-Conrol“ Methoden programmiert werden.

(18) vgl. Bianca Liebrand, Zersplitterung nach Therapie - Bedenkliche Auswirkungen der „Rituelle Gewalt Mind-Control“-Theorie.

(19) www.spektrum.de/news/wie-entstehen-ausserkörperliche-erfahrungen/1577232 (abgerufen am 19.07.2019).

(20) Zitiert nach beck-aktuell, Verlag C.H. Beck, 11. Dezember 2019, abrufbar unter https://rsw.beck.de/aktuell/ meldung/vergleich-schamanin-muss-7.500-euro-zurueckzahlen (Stand: 03.02.2020).

(21) Landgericht Traunstein, Urteil vom 05.04.2019, Az. 9 O 2789/18, juris.

(22) Vgl. dazu Gollan, Kartenlegen vor Gericht - Das Urteil des Bundesgerichtshofs zur Wahrsagerei.

(23) Vgl. beck-aktuell, Verlag C.H. Beck, 11. Dezember 2019, abrufbar unter https://rsw.beck.de/aktuell/meldung/vergleich-schamanin-muss-7.500-euro-zurueckzahlen (Stand: 03.02.2020).

(24) OLG München, Urteil vom 10.12.2015 - 14 U 915/15, abrufbar unter https://www.gesetze-bayern.de/(X(1)S (q3i12o4wm0btwvtzb0pnjes2))/Content/Document/Y-300-Z-BECKRS-B-2015-N-20408?AspxAutoDetectCookie Support=1&fontsize=small (Stand: 05.02.2020).

(25) Landgericht Kempten, Urteil vom 05.02.2015, Az. 21 O 697/14, juris.