Beratung und Information zu neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen
gefördert durch das
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Bericht über die Arbeit des Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. und über die Aktivitäten der neuen religiösen Gemeinschaften in 2020

 

Es wurden im Jahr 2020 insgesamt 1078 Anfragen beim Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. registriert. Von den 1078 Anfragen erhielten 472 Personen durch ausführliches Informa­tions­material und ein bis zwei klärende Gespräche Hilfestellung von den Mitarbei­terInnen des Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V.. In 606 Fällen war ein inten­siver und längerer Bera­tungsverlauf mit bis zu 25 Fachkontakten notwendig.

Um einen besseren Vergleich mit den Vorjahren zu ermöglichen, sind wie jedes Jahr die 472 Informationsanfragen und die 606 Beratungsfälle in zehn Kategorien zusammengefasst worden. Insgesamt sind in den zehn Kategorien Anfragen mit der Bitte um Information und Beratung zu 402 verschiedenen Gruppierungen und Anbietern enthalten (vgl. Diagramm 1).

 

 Gruppen

Diagramm 1: Summe Beratungsfälle und Informationsanfragen

Die Tendenz der letzten Jahre, dass die Informationsanfragen weniger werden und an Bedeu­tung verlieren, hat sich in diesem Jahr nicht fortgesetzt. Die Anzahl der Beratungsfälle (606) ist zwar immer noch deutlich höher als die Anzahl der Anfragen (472), aber die Anfragen sind im Vergleich zum Vorjahr um 15% gestiegen.

Besonders in der Kategorie „Psychogruppen“, in der die vielen Anfragen zu Verschwörungs­theorien gezählt wurden, haben sich die Anfragen verfünffacht. Die Corona-Pandemie hat die Verschwörungstheorien und die Probleme, die damit verbunden sind, explodieren lassen. Kon­trollverlust und das subjektive Gefühl von Machtlosigkeit spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Verschwörungsdenken. Menschen, die Verschwörungstheorien Glauben schenken, entwickeln ein generalisiertes Misstrauen gegenüber anderen Personen, aber auch gegenüber Wissenschaft, Medizin und Politik.

 

Informationsanfragen und Beratungsfälle 2020 im Einzelnen

Bei einem Vergleich der Kategorien in der Tabelle auf Seite drei fällt auf, dass im Jahr 2020 die Informationsanfragen und Beratungsfälle zu den Psychogruppen alle anderen Kategorien deutlich übertroffen haben und in diesem Jahr an erster Stelle stehen (301). In dieser Kategorie werden Anfragen und Beratungsfälle zu Verschwö­rungstheorien, unseriösen Coaching-Angeboten und zur Reichsbürgerbewegung zusammen­gefasst. Es gab mehr Beratungsfälle (196) als Informationsanfragen (105).

Bei diesen 196 Fällen stehen mehr als zwei Drittel der Beratungsfälle im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien, sie haben sich gegenüber dem Vorjahr vervierfacht (160). Es gab im letzten Jahr keinen Tag, an dem nicht ein Beratungsgespräch zum Thema Verschwörungs­theorien stattgefunden hat. Es haben sich überwiegend Angehörige gemeldet, selten die Betroffenen selbst. Die Menschen, um die es ging, waren oft schon über sechzig. Viele Menschen sind durch die Corona-Krise verunsichert und leiden unter gesund­heitlichen und existenziellen Ängsten. Gefühle der Verunsicherung und Machlosigkeit sind schwer auszuhal­ten und der ideale Nährboden für die Entstehung von Verschwörungs­theorien, denn Verschwörungstheorien bieten vermeintliche Erklärungen für das Unerklärliche. Sie bieten ein­fache Lösungen für komplizierte Sachverhalte an und suggerieren, man würde zu den „auser­wählten“ Menschen gehören, die den Durchblick haben. Das kann zunächst eine Aufwertung bedeuten und kurzfristig entlastend wirken. Man fühlt sich wichtig und die Prob­leme des Alltags erscheinen plötzlich klein und unbedeutend. Die Corona-Pandemie hat dieses Bedürfnis nach Entlastung bei vielen Menschen verstärkt und dadurch die explosions­artige Verbreitung begünstigt.

Besorgniserregend wird diese Haltung erst, wenn Verschwörungsgläubige davon überzeugt sind, dass das Böse oder die Bösen in der Welt immer mehr zunehmen und sowohl das Gute als auch die Betroffenen selbst dadurch akut bedroht sind. Sie entwickeln ein beträchtliches Misstrauen gegenüber anderen Menschen und staatlichen Institutionen. Angehörige haben oft das Gefühl, die Betroffenen würde ihnen nach und nach entgleiten. Sie leiden unter dem missionarischen Drang der Verschwörungsgläubigen, von denen sie als „Schlafschafe“ bezeichnet werden, da sie den Medien alles glaubten und von geheimen Mächten ausgenutzt würden. Es ist wichtig, möglichst frühzeitig eine Beratung in Anspruch zu nehmen, um eine Verhärtung der Fronten zu vermeiden. Wie vielschichtig das Thema ist, verdeutlicht der Fach­artikel von Christoph Grotepass.[1]

Der größte Teil der restlichen Beratungen in dieser Kategorie bezog sich auf verschiedene Coaching-Angebote (30). Die große Nachfrage nach Coaching-Angeboten zeigt, dass viele Menschen sich in ihrer Alltagsbewältigung nicht genügend unterstützt fühlen und Hilfe auch außerhalb ihres persönlichen Lebensumfeldes suchen. Viele der Coaching-Angebote sind aber leider nicht wissenschaftlich fundiert. Die Veranstaltungen erinnern eher an Rockkonzerte als an klassische Bildungsseminare. Bei übertriebenen Versprechungen, alles verändern zu können, und emotionalen Auftritten im Rahmen von Massenveranstaltungen sollte man vor­sichtig sein. Ein seriöser Coach sollte seine Grenzen kennen und TeilnehmerInnen auch zu einem PsychotherapeutIn oder ÄrztIn schicken. Vorsicht ist auch geboten, wenn bei den Verträ­gen eine Art „Geheimhaltungs-Codex“ unterschrieben werden muss. Menschen, die ein Coaching-Angebot in Anspruch nehmen wollen, sollten sich gründlich informieren. Mehrere Fachartikel sind auf unserer Internetseite zu finden und bieten eine erste Informationshilfe und Orien­tierung.[2] Auch der Flyer unserer Beratungsstelle mit einer Checkliste zur Beurteilung von Coaching-Angeboten kann hilfreich sein und auf unserer Webseite abgerufen werden.

An zweiter Stelle stehen die Anfragen und Beratungsfälle zu den fundamentalistischen Gruppen (172). Beratungsfälle (92) und Anfragen (80) sind hier gleichermaßen hoch. Zwei Drittel der Beratungsfälle steht im Zusammenhang mit dem christlichen Fundamentalismus (62). Sie verteilen sich auf 30 verschiedene freikirchliche Gemeinden. Besonders häufig ging es um Brüdergemeinden oder Pfingstgemeinden.

Konflikte entstehen hier häufig, wenn diese Gemeinden Heilungsgottesdienste anbieten, bei denen Gläubige von Krankheiten und Süchten befreit werden sollen, für die allein Dämonen verantwortlich gemacht werden. Was als wahrer Glaube „Gott schützt die Rechtgläubigen“ gepredigt wird, endet oft in Unmündigkeit und Abhängigkeit. Kranke Menschen setzen viel Hoffnung auf die vermeintliche Wunderheilung und tun alles, um den „richtigen“ Glauben zu erlangen, unter Umständen stimmen sie sogar einer Dämonenaustreibung zu. Der Glaube, Dämonen seien die Ursache für körperliche und seelische Leiden und müssten deshalb aus dem eigenen Körper vertrieben werden, kann große Ängste und in Einzelfällen sogar Psycho­sen auslösen oder psychotische Schübe begünstigen. Darüber hinaus klagen Menschen, dass sie sich in ihrer Lebensführung bevormundet gefühlt haben.

Ebenfalls zu Problemen können Konversionstherapien führen, die in einigen fundamentalis­tischen Gemeinden befürwortet werden. Diese Therapien sollen Homosexuellen angeblich helfen, ihre sexuelle Neigung zu verändern, da sie nicht „Gott gewollt“ sei. Die grundgesetzlich geschützte freie Entfaltung der Persönlichkeit wird hier nicht genügend berücksichtigt. Zusätz­lich können diese Glaubensvorstellungen zu schweren Schuld- oder Minderwertigkeitsge­fühlen beim Einzelnen führen, was die Entstehung einer depressiven Erkrankung begünstigen kann. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, in Zukunft zu berücksichtigen, dass der Bun­destag am 07.05.2020 einen Gesetzesentwurf verabschiedet hat, der ein weitreichendes Ver­bot der sogenannten „Konversionsbehandlungen“ beinhaltet und im Sommer in Kraft getreten ist. Therapien zur vermeintlichen Heilung von Homosexualität sind bei Minderjährigen in Zukunft untersagt. Darüber hinaus ist auch die Werbung für solche Therapien verboten.[3]

Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gab es im letzten Jahr mehrere Verstöße von kleineren freikirchlichen Gemeinden, die einen streng fundamentalistischen Glauben befür­worten und keinem Dachverband angehören. Mitglieder einer solchen Gemeinde glaubten, dass sie durch Gott vor dem Virus geschützt seien und haben Gottesdienste ohne Schutz­maske und Mindestabstand gefeiert. Beispielsweise in Essen, Herford, Oberhausen und Duisburg mussten Polizei und Beamte der Ordnungsämter Gottesdienste auflösen und Anzei­gen wegen des Verstoßes gegen die Corona-Schutzverordnung stellen. Diese einzelnen Vor­fälle dürfen nicht zu einer pauschalen Verurteilung aller Freikirchen führen. Der Sprecher der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) Michael Gruber betont: “Die Mitgliedskirchen der VEF haben ebenso wie die katholische oder evangelische Kirche unmittelbar nach Ausbruch des Coronavirus jeweils umfangreiche Schutz- und Hygienekonzepte entwickelt und auch ein­gehalten.“[4]

Betroffene des Islamischen Fundamentalismus wenden sich nur noch selten und meist im Rahmen einer Kindeswohlgefährdung an unsere Beratungsstelle. Das liegt vermutlich daran, dass die Landesregierung das 2014 gestartete Präventionsprogramm „Wegweiser“ gegen gewaltbe­rei­ten Salafismus weiter ausgebaut hat. Inzwischen gibt es in NRW 25 Beratungsstellen. Aus unserer Sicht erfreulich ist auch das Urteil vom 29.04.2020 des Bundesgerichtshofs in Karls­ruhe. Das Gericht hat die verhängten Geldstrafen gegen die selbst ernannte “Scharia-Polizei“ in Wuppertal wegen Verstoßes gegen das Uniformverbot bestätigt[5]. Sieben Salafisten sind im September uniformiert durch Wuppertal gezogen, um junge Muslime von hedonistischen Aktivitäten abzuhalten. Das Gericht bestätigte, dass mit diesem Verhalten eine einschüch­ternde Wirkung erzielt werden sollte. Betroffene hatten dies 2014 auch so empfunden und unserer Beratungsstelle ihre Sorgen und Ängste mitgeteilt.

An dritter Stelle stehen die Anfragen und Beratungsfälle aus dem Bereich der Esoterik (157). Hier gibt es deutlich mehr Beratungsfälle (120) als Anfragen (37). Das liegt daran, dass eso­terische Angebote in ihrer Gefährlichkeit schwer einzuschätzen sind. Man schließt sich meis­tens oder zumindest zunächst keiner neuen Gruppe an, sondern konsumiert nur ein Angebot, z.B. eine Beratung von einem Medium, ein Heilungsangebot durch Handauflegen oder eine Zukunftsdeutung. Die späteren konfliktträchtigen Auswirkungen werden oft erst sehr spät erkannt.

Grundsätzlich sollte jeder Mensch bei der Wahl eines Hilfsangebotes berücksichtigen, dass eine Lebensberatung aus fachlicher Sicht nur dann gelungen ist, wenn die Hilfesuchenden mit Unterstützung des Angebotes Verhaltensweisen und Erlebnisse, die sie als belastend oder störend erlebt, klären, verarbeiten und verändern kann. Dabei sollten sie nach einer gewissen Zeit in der Lage sein, die erlernten Strategien zur Problembewältigung alleine und eigenstän­dig anwenden zu können. Das bedeutet, dass keine längerfristigen Abhängigkeiten von der Methode oder den BeraterInnen entstehen sollten, wie dies in der Esoterik häufig der Fall ist.

Die 120 Beratungsfälle verteilen sich auf 70 verschiedene Anbieter. Bei dieser Vielfältigkeit esoterischer Angebote bietet es sich an, diese in drei bzw. vier Bereiche zu unterteilen. Wir unterscheiden:  

  1. Die Lebensberatung, sie umfasst viele Angebote vom Familienstellen über Engel­seminare und Channeling bis zu Schenkkreisen.

  2. Das Angebot der Heilung von körperlichen Beschwerden, GeistheilerInnen bieten Hilfe zur Heilung von körperlichen Krankheiten an, Reiki oder Homöopathie ebenfalls.

  3. Die Zukunftsdeutung, dazu zählen Astrologie, Wahrsagen, Hellsehen und Kartenlegen.

  4. Sektenähnliche Gruppierungen, die ein esoterisches Gedankengut vertreten, die sich aber aufgrund ihrer Organisationsstruktur von den drei anderen Bereichen unterschei­den.

Zahlenmäßig sind die Bereiche eins und zwei fast gleich, sie machen jeweils ein Drittel der genannten Beratungsfälle aus. Die beiden anderen Bereiche teilen sich das letzte Drittel.

Innerhalb des ersten Bereiches der Esoterik ragte im letzten Jahr zum wiederholten Male der Lebenshilfeguru Robert Betz heraus. Neun Beratungsfälle standen im Zusammenhang mit seiner Lehre. Überwiegend waren es Angehörige, die von Beziehungsproblemen berichteten, nachdem der Partner oder die Partnerin, Tochter oder Sohn ein Betz-Seminar besucht oder eine sogenannte Transformationstherapie absolviert hatten. Schon im Jahresbericht 2013 haben wir in einem Fachartikel auf problematische Aspekte im Zusammenhang mit seinem Angebot hingewiesen.[6]

Ein weiterer Lebenshilfeguru hat erneut intensiven Beratungsbedarf (10) ausgelöst. Er war der spirituelle Führer des “Balance Recovery Life Centers“ in Wesel. Die Staatsanwaltschaft Duisburg hat inzwischen wegen des Verdachts zahlreicher schwerer Straftaten Anklage gegen den spiritu­ellen Führer erhoben. Ihm werden gefährliche Körperverletzung, Freiheits­berau­bung, Nötigung und Vergewaltigung zur Last gelegt. Er sitzt zurzeit in Unter­suchungs­haft.[7]

Auf der Suche nach Lebenshilfe geraten Menschen immer wieder in die Hände von Scharla­tanen. Manche landen bei dieser Suche auch bei einem Schamanen oder einer Schamanin, die ihre Dienstleistungen auf Esoterikmessen und in Zeitschriften bewerben. Es gibt etliche Anbieter, die behaupten, von einem bestimmten indianischen Stamm eingeweiht oder adop­tiert worden zu sein und aus diesem Grund über tiefere, spirituelle Kenntnisse und übersinn­liche Fähigkeiten zu verfügen. Bei einer genaueren Recherche stößt man häufig auf Unge­reimtheiten.

Im letzten Jahr hatten wir mehrere Beratungsfälle und Anfragen zu einer kleinen Gemeinschaft im Ruhrgebiet mit ca. 40 Anhängern, die glauben, dass sie sich gegen vermeintlich böse Ein­flüsse schützen müssen. Die derzeitige Corona-Pandemie wird als Beweis für die Existenz dunkler Mächte herangezogen. Diese Gruppe wird von einer Frau angeführt, die sich selbst als von Indianern abstammend bezeichnet. Durch Ihre Hellsichtigkeit und ihren direkten Kon­takt zum Jenseits fühlt sie sich in der Lage, die Gruppe mit ihrem allumfassenden Rat zu leiten. Dabei steht neben der Betonung einer engen Verbundenheit mit der Natur, das Feindbild einer dunklen bösen Macht im Vordergrund der Lehre. Menschen, die nicht zur Gemeinschaft gehören, seien meist von dieser Macht manipuliert und daher sollte man zu diesen keinen Kontakt haben. In den Beratungsgesprächen wurde deutlich, wie sehr Betroffene darunter lei­den, dass der Kontakt häufig ohne jede Erklärung komplett abgebrochen wurde. Von dem Kontaktabbruch betroffen waren auch minderjährige Kinder, deren Eltern sich dieser Gruppe angeschlossen hatten.

Berücksichtigt man jedoch, dass es eine eigene Kategorie Heilergruppen mit in diesem Jahr 22 Beratungsfällen zusätzlich gibt, wird deutlich, dass das Angebot alternativer Heilmetho­den die meisten Problemfälle verursacht. Wie groß die Schäden sind, die HeilerInnen Men­schen zufügen, darüber gibt es keine Gesamtstatistik. Häufig berichten Betroffene, dass eine zunächst liebevolle Atmosphäre sie dazu verleitet hat, dem Heiler oder der Heilerin völlig zu vertrauen und not­wendige medizinische Behandlungen zu vernachlässigen. Zusätzlich sind es aber auch Ange­hörige, Geschwister oder PartnerInnen, die unsere Beratungsstelle verzweifelt um Hilfe bitten. In diesen Gesprächen wiederholt sich ein Thema immer wieder: Menschen berichten, dass sie GeistheilerInnen oder HeilpraktikerInnen oder sogar ÄrztInnen vertraut ha­ben, die nicht anerkannte unse­riöse pseudowissenschaftliche Methoden zur Diagnose von Krankheiten angewandt und mit diesen Fehldiagnosen einen großen Schaden verursacht haben.[8]

Ein Beispiel hierfür ist auch der kinesiologische Muskeltest, der folgendermaßen ausgeführt wird: Der Heiler drückt auf den ausge­streckten Arm eines Patienten, während er dem Patien­ten Fragen stellt, um dann an der Reaktion des Patienten (Widerstand des Armes) eine Diagnose zu stellen. Einige HeilerInnen wollen so sogar sexuellen Missbrauch erkennen können. Studien kommen aller­dings zu dem Ergebnis, dass diese Methode nicht verlässlich ist und zu falschen Diagnosen führen kann.[9]

Die WELT hat am 27.12.2020 über eine Heilpraktikerin im Westerwald berichtet, die zwei Familien mit dieser Methode großen Schaden und großes Leid zugefügt hat.[10] Die Heilprak­ti­kerin ist unserer Beratungsstelle durch mehrere Fälle durchaus bekannt. Bereits 2014 haben wir das zuständige Gesundheitsamt über ihre pseudowissen­schaftlichen Methoden schriftlich informiert.

Die Corona-Pandemie wurde von bekannten Esoterikern eher als harmlos gedeutet. Die 2001 geborene Christina von Dreien, eine bekannte Schweizer Esoterikerin, hat im März 2020 auf ihrer Internetseite behauptet, dass das Corona-Virus nicht so gefährlich sei, wie es dargestellt werde, die Menschen keine Angst zu haben bräuchten, und die Gelegenheit nutzen sollten, alles zum Guten zu wenden.[11]

Pia Lamberty, Doktorandin im Fach Sozialpsychologie an der Universität Mainz, kommt in ihrem Buch Fake Facts[12] aufgrund empirischer Untersuchungen zu dem Schluss, dass der Glaube an Verschwörungstheorien und Esoterik eng beieinander liegen. Auch Dr. Matthias Pöhlmann, Weltanschauungsbeauftragter der Ev. Kirche in Bayern, betont in seinem Fach­ar­tikel Im Sog der PLANdemie[13], dass es Analogien zwischen EsoterikerInnen und Verschwö­rungsgläubigen gibt. Beide Positionen wollen Antworten auf die Frage nach dem tieferen Sinn des Weltgeschehens geben, und ihr Verhältnis zur Welt ist distanziert und von Misstrauen geprägt. Er zeigt aber auch einen wesentlichen Unterschied auf. “Während Esoteriker von höheren Mächten, Energien und Kräften ausgehen, die man mit individueller spiritueller Bewusstseinsarbeit im kosmischen Prozess zu steuern meint, messen Verschwörungs­gläubige innerweltlichen Akteuren übermenschliche Kräfte zu, deren Macht durch Erkenntnis ihrer dunklen Machenschaften eingedämmt oder ganz genommen werden kann.“[14]

Diese Unterscheidung stimmt auch mit den Erfahrungen der BeraterInnen in unserer Einrich­tung überein, so dass man vorsichtig behaupten kann, dass der Glaube an Esoterik einen Nähr­boden für Verschwörungstheorien darstellt. Auch die deutliche Ablehnung gegenüber Impfun­gen hat hier ihren Ursprung.

An vierter Stelle stehen die Anfragen (35) und Beratungsfälle (36) zu den synkretistischen Neureligionen, die sich gegenüber dem Vorjahr halbiert haben (von 155 auf 71). Ungefähr zwei Drittel der Anfragen (22) und die Hälfte der Beratungsfälle in dieser Kategorie beziehen sich auf die Gruppierung der Zeugen Jehovas (19). Verglichen mit den Ergebnissen aus dem Vorjahr, da waren es 48 Beratungsfälle, ist das ein deutlicher Rückgang. Eine mögliche Erklä­rung hierfür könnte sein, dass die Corona-Pandemie die Endzeitstimmung unter den Gläubi­gen verstärkt hat. Existenzielle Entbehrungen und schwierige Zukunftsaussichten können apo­kalyptisch gedeutet und durch die Hoffnung auf das „baldige Paradies auf Erden“ ertragen werden. Versammlungsverbote werden durch eine professionelle Digitalisierung kompensiert. Statt der Haustürmission verteilen sie inzwischen persönliche, handgeschriebene Briefe.

Da in den Vorjahren viele Mitglieder die Organisation verlassen und Hilfe in unserer Bera­tungsstelle gesucht haben, kann vermutet werden, dass im letzten Jahr unzufrie­dene Mitglie­der durch die Corona-Pandemie so verängstigt waren, dass sie ihre Ausstiegs­wünsche zurückgestellt haben. Viele AussteigerInnen haben in den Jahren davor berichtet, dass sie auch nach dem Ausstieg noch Angst vor dem Weltuntergang gehabt hätten und nachts unter Alb­träumen gelitten hätten. Einen Einblick in die Glaubenswelt der Zeugen Jehovas gibt der Aus­steigerbericht „Mein Leben bei den Zeugen Jehovas und danach – Ein Erfahrungs­bericht“.[15]

Eine weitere Schwierigkeit, unter der AussteigerInnen immer wieder leiden, ist die soziale Ächtung. Hierzu gibt es ein neues wegweisendes Urteil, das im Sommer 2020 in der Schweiz rechts­kräftig geworden ist. Ein Züricher Gericht hat bestätigt, dass KritikerInnen ungestraft sagen dürfen, dass die Ächtung von AussteigerInnen bei den Zeugen Jehovas gegen die Menschenrechte verstößt. Beim Prozess ging es um eine Medienmitteilung der Fachstelle Infosekta aus dem Jahre 2015, in der die damalige Mitarbeiterin Dr. Regina Spiess die Zeugen Jehovas als „hoch­problematische Gruppe“ mit menschenverachtendem Verhalten kritisiert hatte. Das Bezirks­gericht sprach die Sektenexpertin frei und bescheinigte ihr, dass sie ihre Kritik gut belegen könne. Neben der sozialen Ächtung ging es auch um die Zwei-Zeugen-Regel. Regina Spiess hatte darauf hingewiesen, dass dem Verdacht einer Sexualstraftat an einem Kind bei den Zeugen Jehovas nur dann nachgegangen werden solle, wenn es dafür mindes­tens zwei Zeugen gäbe, was selten der Fall sei. Gäbe es die nicht, sollten die Ältesten die Angelegenheit in Jehovas Hände legen, also nichts unternehmen. Das Opfer müsse schwei­gen, sonst drohe ihm der Ausschluss. Auch diese Aussage würde laut dem Gericht im Kerngehalt der Wahrheit entsprechen.[16] Dieses Urteil könnte auch die Diskussion um die Kör­perschafts­rechte der Zeugen Jehovas in Deutschland erneut entfachen.

Shinchonji, eine Glaubensgemeinschaft aus Korea, hat im letzten Jahr 14 Beratungsfälle und sechs Anfragen verursacht. Das ist ein deutlicher Rückgang zum Vorjahr, da waren es doppelt so viele Anfragen und Beratungsfälle. Die 1984 vom selbsternannten Propheten Man-Hee Lee gegründete Gemeinschaft missioniert bereits seit einigen Jahren verstärkt in Essen. Die Mit­glieder haben immer wieder gezielt junge Menschen angesprochen, die alleine unterwegs waren, mit der Bitte, an einer Umfrage zum Thema „Glück“ oder „Religion“ teilzunehmen. Nach den ersten Kontakten wurden die Ange­sprochenen zu einem Bibelkurs eingeladen, der viermal die Woche stattfand, ohne zu wissen, um welche Gemeinde es sich handelt. Es wurde verschwiegen, dass es sich bei „Shinchonji“ um eine christliche Sondergemeinschaft handelt. Die AnhängerInnen sehen in Lee einen biblisch verheißenen Endzeitpastor. Er verkündigt die einzig wahre Deutung der Bibel und behauptet, dass die Endzeit bald bevorstehe.

Der Rückgang der Beratungsfälle in 2020 könnte in engem Zusammenhang mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie stehen. Nachdem eine 61jährige infizierte Shinchonji-Anhängerin in Südkorea bereits im Februar 2020 für eine schnelle Ausbreitung des Virus in ihrer eigenen Gemeinde und deren Umgebung gesorgt hatte, untersagte der südkoreanische Staat alle Veranstaltungen und Versammlungen von Shinchonji im gesamten Land. Sicherlich kann der Vorfall nicht als Absicht der Shinchonji-Glaubensgemeinschaft interpretiert werden, aber als ein extrem verantwortungsloses Verhalten, da bekannt wurde, dass die betreffende Frau trotz ärztlicher Warnung und entsprechender Symptome sich nicht testen ließ, stattdessen weiter missionierte und selbst an großen Versammlungen und Gottesdiensten der Glaubensgemein­schaft teilnahm. Der Vorfall passt auch zur grundsätzlichen Einstellung der Glaubensgemein­schaft, Krankheiten nicht ernst zu nehmen, sondern eher als eine Aufgabe anzusehen, die man überstehen muss, um „Gottes Willen“ zu erfüllen. Dies wird auch in ihrem Bekenntnis deutlich: “Es ist in Ordnung, selbst, wenn ich erkranke. Ich sehne mich nur danach, den Willen Gottes zu erkennen.“[17]

In Deutschland wurden im März 2020 aufgrund der Corona-Bestimmungen alle Einrichtungen von der Gruppierung selbst geschlossen und im August aufgrund der Vorfälle in Südkorea komplett aufgegeben. Allerdings wurden die AnhängerInnen über den Grund der Schließung nicht ausreichend informiert. Die meisten Aktionen, Bibelkurse, Belehrungen und Gottes­dienste finden jetzt dreimal die Woche online statt und die AnhängerInnen versuchen private Kontakte zu nutzen, um weiter zu missionieren. Es ist erstaunlich, dass diese Gruppierung es geschafft hat, trotz aller Schließungen und Schwierigkeiten in Südkorea weiterhin ein hohes Maß an sozialer Kontrolle auszuüben. AussteigerInnen und Angehörige berichten nach wie vor von hohem psychischem Druck. In Zusammenarbeit mit anderen Weltanschauungsbeauf­tragten wurde eine Informationsbroschüre erstellt, die kostenlos beim Sekten-Info NRW bestellt werden kann. Empfehlenswert ist in diesem Zusammenhang auch der sehr gut recher­chierte Fachartikel von Oliver Koch, „Shinchonji und das Corona-Virus-eine brisante Mischung“.[18]

Die Anfragen und Beratungsfälle zur Scientology-Organisation sind nicht mehr so hoch wie in früheren Jahren und nehmen in unserer Statistik momentan nur noch Platz fünf ein. Es darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich die 27 Anfragen aus der Bevölkerung auf nur eine Gruppierung beziehen, während die anderen Kategorien mehrere Gruppen umfassen, so dass die Scientology-Organisation immer noch ein großes Konfliktpotential beinhaltet und mit 23 Beratungsfällen nach wie vor einen großen Beratungsbedarf verursacht. Scientology ist keineswegs nicht mehr gefährlich.

In Deutschland wird die Scientology-Organisation weiterhin vom Verfassungsschutz beobach­tet. Der im Juni 2020 veröffentlichte NRW-Verfassungsschutzbericht weist darauf hin, dass es in NRW 350 Mitglieder gäbe und die Organisation neben dem Verkauf kostenpflichtiger Kurse und Materialien, Druck auf ihre Mitglieder ausüben würde, erhebliche Geldbeträge an Scientology zu spenden. Neben dem Versuch, sich durch Aktivitäten in der Immobilien- oder Beratungsbranche wieder mehr der Wirtschaft anzunähern, verfolgen sie weiterhin die Strate­gie, durch bekannte Werbe-Aktionen ihrer Tarnorganisationen Menschen zu ködern. Zusätz­lich bieten sie über Internetseiten Nachhilfeunterricht in Privatwohnungen an, um so gezielt den Kontakt zu jungen Menschen zu suchen.[19]

Das entspricht auch den Erfahrungswerten unserer Beratungsstelle. Im letzten Jahr wurde hauptsächlich mit Hilfe einer kleinen blauen Broschüre mit bunten Glückssymbolen “Glück versprühen und verspüren“ versucht, Passanten in NRW auf der Straße anzusprechen oder die Hefte in Geschäften sowie in privaten Briefkästen zu verteilen. In der Broschüre werden eher allgemeine Vorschläge und Anleitungen zum Glücklich sein dargestellt. Aber sie soll helfen, Menschen bewusst zu machen, dass sie gerade nicht glücklich sind und es die Möglichkeit gäbe, dies mit Hilfe von Scientology zu ändern.

Zusätzlich hat die Scientology-Organisation die Corona-Pandemie genutzt, um mit Hilfe einer weiteren neuen Broschüre „Wie man sich selbst & andere gesund hält“ mit Menschen in Kontakt zu kommen und für ihr Lebenshilfekonzept zu werben. Die Broschüre enthält selbst­verständliche und bekannte Richtlinien der WHO zur allgemeinen Hygiene, denen jeder Bürger zustimmen würde. Corona wird mit keinem Wort in der Broschüre erwähnt.[20] Diese Broschüren wurden zum Teil persönlich durch sogenannte ehrenamtliche Geistliche der Scientology-Kirche verteilt. Sie trugen gelbe Jacken und Kappen und führten ihre Aktion in vielen Groß­städten durch, auch in Düsseldorf. Vereinzelt haben sie bei Gesprächen an der Haustür oder in Geschäften den Eindruck erweckt, als seien sie als offizielle Corona-BekämpferInnen unterwegs, was zu viel Unmut bei Bevölkerung und Geschäftsleuten geführt hat. Das Schweizer Fernsehen hat einen Amateurfilm veröffentlicht, der dies belegt.[21]

Darüber hinaus bietet Scientology Menschen, die durch die Corona-Krise verunsichert, einsam oder ängstlich sind, auf ihrer Internetseite einen kostenlosen Online-Kurs mit dem Titel “Lösungen für eine gefährliche Umwelt“ an.[22] In dem Werbefilm zum Kursangebot werden PolitikerInnen, Medien und einzelne Bürger als „Chaoshändler“ und Verursacher bezeichnet, denen man nicht glauben darf. Die Corona-Pandemie wird mit keinem Wort erwähnt, als gäbe es sie gar nicht. Probleme, die weltweit bestehen, werden heruntergespielt und es werden die übli­chen Erklärungen, Lernmethoden und Lösungsvorschläge der Scientology-Lehre als Ausweg angeboten.

Einzelne ScientologInnen zeigen ihren Unmut und ihre Einstellung zum Staat wesentlich deut­licher. Sie hetzen verstärkt gegen staatlich verordnete Corona-Bestimmungen. Der Sciento­logy nahestehende Sabine Hinz Verlag hat mehrere Artikel in den eigenen Broschüren veröf­fentlicht, die unter der Überschrift „Maskenwahn“, „Weltweite Studien belegen: kein Nutzen, kein Schutz“, „Corona und die Wahrheit“ das Corona-Virus leugnen und bekannten Verschwö­rungstheorien eine Plattform bieten.[23] Dies könnte ein Hinweis sein, dass einige Sciento­logInnen sich erhoffen, die Krise nutzen zu können, um verstärkt neue Mitglieder in die eigene Organisation einbinden zu können.

Viele Betroffene verlassen die Organisation nach kurzer Zeit wieder. Aber etliche AussteigerInnen, die uns in unserer Beratungsstelle um Hilfe bitten, beklagen, dass sie sich vorwerfen, der Organisation zu viel anvertraut oder zu viel Geld gegeben zu haben.

Bei den guruistischen Gruppierungen (Platz 6) gab es im Vergleich zum überraschenden Anstieg vor zwei Jahren wieder eine rückläufige Tendenz, 11 Anfragen und 39 Beratungsfälle, die sich auf 12 verschiedene Gruppen verteilen. Auch hier gab es neue, bisher nicht in Erscheinung getretene Gruppierungen. Betroffene beschreiben, dass ihnen nach dem Ausstieg bewusst geworden sei, dass sie durch den Glauben an den Guru und die geforderte Hingabe unfähig geworden seien, eigene Lebensentscheidungen zu treffen.

Bei den Heilergruppen (22 Beratungsfälle) verursachten hauptsächlich zwei Organisationen Sorgen und Probleme, der Bruno-Gröning-Freundeskreis (6) und die Germanische Neue Medizin (6). Die Lehre des Bruno-Freundeskreises besagt, es gäbe kein unheilbar. Nur wer vom göttlichen Weg abkomme, der werde krank. Man müsse den Willen zur Gesundheit haben, dann werde man auch gesund, egal unter welcher Erkrankung man leiden würde, Krebs, Querschnittslähmung, Blindheit. Zweifel seien nicht erlaubt, auch Angehörige dürften keine Zweifel haben, das verhindere die Heilung. Man dürfe auch nicht an seine Erkrankung denken. Geworben wird nach wie vor über den Verein „Kreis für natürliche Lebenshilfe“. Hier sind überwiegend ältere Menschen betroffen. Es melden sich die besorgten Angehörigen oder Freunde, wenn sie bemerken, dass trotz einer gefährlichen Erkrankung, lebensnotwendige Medikamente abgesetzt werden.

Bei den BefürworterInnen der Germanischen Neuen Medizin gab es eine gefährliche Reak­tion auf die Corona-Pandemie und die damit zusammenhängenden Vorschriften. Der Verein Studienkreis 5BN, der sich für die Verbreitung der 5 biologischen Naturgesetze von R.G. Hamer einsetzt, hat in den sozialen Medien einen Info-Zettel verbreitet, auf dem unter dem Titel „Medizinische Information Covid-19-LV“ vor dem Tragen des Mund-Nase-Schutzes gewarnt wird. Dort ist zu lesen, die Maske könne keine Viren zurückhalten und fördere eher Lungen­krankheiten.[24] Das passt zu der Einstellung dieser Gruppierung, der Schulmedizin grundsätz­lich zu misstrauen und Verschwörungstheorien den Vorzug zu geben.[25]

Bei der Thematik Satanismus/ Okkultismus sind die Beratungsfälle (24) deutlich höher als die Anfragen (14). Insgesamt hat sich dieser Bereich kaum verändert. Bei 17 der 24 Fälle ging es um das Thema der „Rituelle Gewalt und Mind-Control“-Theorie. War Ende der 80er Jahre von „Ritueller Gewalt und Mind-Control“ im Zusammenhang mit Satanisten die Rede, so wird heute von geheimen Netzwerken und destruktiven Kulten gesprochen. Trotz jahrelangen intensiven Ermittlungen durch Polizei und Staatsanwaltschaft konnte bisher kein einziger Fall verifiziert werden, der diese Theorie bestätigen kann. Die Behauptungen basieren allein auf Betroffenenberichten. Dies führt zu einer zunehmenden Verunsicherung von TherapeutInnen und Betroffenen. Um zur Klärung und Versachlichung beizutragen, wurde schon im letzten Jahresbericht ein Fachartikel veröffentlicht.[26] Bei den restlichen Beratungsfällen ging es um außergewöhnliche Erfahrungen.

Bei der letzten Kategorie Strukturvertriebe (14) ging es hauptsächlich um Direktvertriebs­systeme, die Nahrungsergänzungsmittel verkaufen. Sie binden ihre MitarbeiterInnen an sich, indem sie mit Versprechungen, dass ein schneller Erfolg verbunden mit viel Geld und einer sinnvollen Tätigkeit zu erwarten sei, Sehnsüchte der Menschen bedienen. Dies ist aber leider beides nicht der Fall, Nahrungsergänzungsmittel können durchaus gesundheitliche Schäden verur­sachen. Im Zusammenhang mit Strukturvertrieben ging es häufig auch um Kündigungs­möglichkeiten von Verträgen bzw. um Rückgabe von bestellten Waren, so dass eine rechtliche Beratung (7) erforderlich war.

Informationsanfragen

 Diagramm 2: Informationsanfragen im Vergleich der letzten fünf Jahre

 

Beratungsfälle 

Diagramm 3: Beratungsfälle im Vergleich der letzten fünf Jahre

 

Art der Betroffenheit

Unabhängig von der jeweiligen Gruppierung, die den Beratungsbedarf ausgelöst hat, ist es interessant zu fragen, wer sich an die Beratungsstelle mit der Bitte um Hilfe gewandt hat, Menschen, die selbst betroffen sind, oder FreundInnen oder Angehörige? Im letzten Jahr betrug der Anteil der Betroffenen, die für sich selbst eine Hilfestellung erwartet haben, 26%. Weitere 37% verteilten sich auf nahe Angehörige oder den Partner. Hier ist im Gegensatz zu den Vorjahren eine Verschiebung von den Menschen, die selbst betroffen sind, hin zu den besorg­ten Angehörigen zu erkennen. Im Zusammenhang mit dem Glauben an Verschwö­rungs­theorien gab es fast niemanden, der aus eigenem Antrieb eine Beratung in Anspruch nehmen wollte, umso verzweifelter waren die Angehörigen der Verschwörungsgläubigen. Noch einmal 19% baten uns im Rahmen eines institutio­nellen Arbeitsauftrages um Hilfe (z.B. Polizei, Schule, Hochschule, Beratungsstellen, Jugendhilfe, Psychiatrien). Der Rest (18%) verteilte sich auf Anfragen, die sich auf Bekannte und Kollegen, sowie die Presse beziehen. Hier ist ein weiterer Anstieg bei den Presseanfragen (6%) gegenüber dem Vorjahr (5%) zu verzeichnen (vgl. Diagramm 4).

 

Art der Betroffenheit 

Diagramm 4: Informationsanfragen und Beratungsfälle aufgeteilt nach Art der Betroffenheit

 

Rechtsberatung

Seit Januar 2004 ist der Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. in der Lage, ergänzend zur psychosozialen Beratung, kostenlos eine fundierte Rechtsberatung anbieten zu können. Von den 606 KlientInnen im Jahr 2020 haben 129 diese Möglichkeit in Anspruch genommen. Die Tabelle zeigt den Bedarf an Rechtsberatung, unterteilt in die auch sonst üblichen zehn Kate­gorien (vgl. Diagramm 5).

 

Rechtsberatung 

Diagramm 5: Rechtsberatung

In der Rechtsberatung ging es auch in diesem Jahr zu einem Großteil um esoterische Ange­bote. Neben Sorge- und Umgangsstreitigkeiten, in denen die esoterische Ausrichtung eines Elternteils in Bezug auf das Kindeswohl rechtlich eingeschätzt werden sollte, spielte haupt­sächlich die „gewerbliche Lebenshilfe“ eine Rolle. Menschen, die für fragwürdige Angebote, wie z.B. einen „Liebeszauber“ oder eine „Partnerrückführung“ viel Geld gezahlt hatten, fragten nach Möglichkeiten, das gezahlte Honorar zurückzuerlangen. Der Schutz des Vermögens spielte auch in erbrechtlichen Beratungen eine Rolle. Hier fragten besorgte Angehörige nach rechtlichen Möglichkeiten, ihr Familienmitglied vor nachteiligen Vermögensverfügungen an die Gruppe zu bewahren. Zusätzlich passiert es immer häufiger, dass weltanschauliche Anbie­terInnen mit dem Argument, „Glaubensfreiheit“ oder „Persönlichkeitsrecht“ verlangen, dass wir kritische Texte von unserer Webseite entfernen sollen, selbst wenn gar keine Namen genannt werden, sondern es allein um eine Methode geht. Jede Form der Aufklärung soll verhindert werden. Bisher konnten wir uns erfolgreich dagegen wehren.

 

Kinder- und Jugendschutz  

Die Handlungsweise eines Menschen kann durch eine Glaubensüberzeugung so fehlgeleitet werden, dass Eltern, die ihre Kinder durchaus liebhaben, ihnen trotzdem Schaden zufügen. So gibt es beispielsweise Eltern, die aus Glaubensgründen schulmedizinische Behandlungen einschließlich notwendiger Impfungen für ihre Kinder verweigern oder ihre Kinder züchtigen oder vehement den Schulbesuch ablehnen. Wer mögliche Gefahren im Kontext neuer Glau­bensgemeinschaften tabuisiert, duldet unter Umständen erhebliche Grenzverletzungen gegenüber Kindern. Allein in unserer Beratungsstelle waren im letzten Jahr 248 Kinder betrof­fen, in 65 Fällen war das Kindeswohl beeinträchtigt.

Besonders schockierend ist die Tat einer heute 73-jährigen Leiterin einer Glau­bensgemein­schaft in Hessen, die erst jetzt öffentlich verhandelt wurde. Die Frau wurde am 24.09.2020 vom Hanauer Landgericht wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Die Rich­ter sahen es als erwiesen an, dass die „Sekten-Chefin“ einen vierjährigen Jungen an einem heißen Augusttag 1988 in einen Leinensack eingeschnürt und in ein Badezimmer gelegt hatte. Sie hatte ihn trotz seiner pani­schen Schreie sich selbst überlassen. Das Kind wurde und erstickte qualvoll an seinem Erbrochenen. Die Ermittler hatten den Tod des Jungen lange Jahre für einen Unfall gehalten. Nachdem sich ein Aussteiger im Jahr 2015 an die Medien gewandt hatte, wurden in dem Fall die Ermittlungen wieder aufgenommen. Durch den Tod des Jungen habe die Leiterin ihre Machtposition stärken wollen, sie habe den Jungen als „vom Bösen besessen“ bezeich­net. Nach seinem Tod habe sie behauptet, dass Gott das Kind geholt habe.[27]

Bereits 2018 wurde von unserer Beratungsstelle eine Publikation in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen erstellt. Sie enthält eine Dokumentation gerichtlicher Entscheidungen, aus der zu ersehen ist, wie die Gerichte im konkreten Einzelfall hinsichtlich des Kindeswohls entschieden haben. Unter dem Titel „Glaubensfreiheit versus Kindeswohl“ ist die Publikation beim Sekten-Info Nordrhein-Westfalen erhältlich. Diese wurde in den letz­ten zwei Jahren sowohl von Betroffenen als auch von Fachleuten gut angenommen und viel­fach bestellt.

 

Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit

Aufgrund der Corona-Pandemie wurden von Januar bis Dezember 2020 nur fünf Präventions­veranstaltungen durchgeführt. Insgesamt nahmen 139 Menschen an den Schulungen des Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e. V. teil. Die Veranstal­tungen waren Fachtagungen für MitarbeiterInnen anderer Beratungsstellen (3) und fanden noch im Januar und Februar statt. Ergänzend zu diesem Angebot erstreckte sich die Aufklä­rungsarbeit auf zwei weitere Vorträge in der Erwachse­nen­bildung.

Dafür wurde jedoch die Öffentlichkeitsarbeit gegenüber dem Vorjahr intensiviert. Um dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit in aktueller Weise gerecht zu werden, wurden die Recherchearbeiten der Medien in 63 Fällen unterstützt. In 30 Fällen wurde durch eine direkte Mitwirkung in einem Fernseh/Radiobeitrag oder Zeitungsartikel auf die Gefahren von Ver­schwörungstheorien, unseriösen Coaching-Angeboten und neuen religiösen Glaubens­gemeinschaften hingewiesen. Sehr gelungen war die 45-minütige Dokumentation von „Galileo Spezial“ über Verschwörungstheorien, in der auch die Arbeit der Beratungsstelle vorgestellt wurde. In der Sendung „Tatort Deutschland - aus den Akten der Justiz“ wurde Frau Riede als Expertin zu den Gefahren der Angebote auf dem Lebenshilfemarkt befragt. Ebenso nutzte auch der WDR in der Lokalzeit und in der Aktuellen Stunde ihre Expertise zum Thema „Was sind die Folgen einer Mitgliedschaft in einer strengen religiösen Gemeinschaft“. Neben mehreren Radiointerviews wurden die MitarbeiterInnen der Beratungsstelle in Veröffentlichun­gen des Spiegels, der FAZ, der Süddeutschen Zeitung, der Welt am Sonntag, der WAZ, der Rheini­schen Post, der Neuen Westfälischen Zeitung und der Skeptiker -Zeitschrift für Wissen­schaft und kritisches Denken zu den unterschiedlichsten Themenbereichen zitiert. Am häufigsten ging es um die Problematik der Verschwörungstheorien, aber auch um unseriöse Coaching-Angebote, Esoterik, Kreationismus und allgemeine Entwicklungen, Ein besonders ausführ­liches Interview über die Entwicklung der „Sektenszene“ mit Frau Riede ist in der Zeit­schrift „Geo-Wissen“, Nr.70, unter dem Titel „Von vermeintlichen Heilsbringern mit fragwür­digen Absichten“ zu finden. Einige der Interviews sind auf unserer Webseite verlinkt. Unsere Web­seite wurde im letzten Jahr von allen MitarbeiterInnen überarbeitet und von Herrn Grotepass völlig neugestaltet und modernisiert.

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Mitar­beiterInnen des Sekten-Info Nord­rhein-Westfalen e.V. LehrerInnen gern Informationsmaterial für die Aufklärungsarbeit im Unterricht zur Verfügung stellen. Dafür haben wir auf unserer Homepage eine Spalte „Material Präven­tionsarbeit“ eingerichtet. Hier können LehrerInnen zu den verschiedensten Themen unserer Beratungsstelle sowohl Infomaterial für den Unterricht als auch Fallberichte und Hintergrund­informationen erhalten. Selbstverständlich beraten wir LehrerInnen auch gern telefonisch. Leider ist es aufgrund des ständig sich erweiternden und wachsenden Beratungs­bedarfes in unserer Einrichtung nicht mehr möglich, allgemeine Informationsveranstaltungen an Schulen durchzu­führen, sondern nur, wenn unsere Unterstützung im Rahmen eines kon­kreten Vorfalles an der Schule benötigt wird. Inzwischen bieten wir hier verstärkt Einzelge­spräche in Zusammenarbeit mit SchulsozialarbeiterInnen an.

 

Gremienarbeit

Der Informationsaustausch über Trends in der aktuellen Sektenszene fand dieses Jahr nur eingeschränkt statt. Viele Workshops mit anderen Sektenberatungsstellen, kirchlichen Sek­tenbeauftragten und Betroffeneninitiativen fielen Corona bedingt in der ersten Jahreshälfte aus. Vorstandssitzungen waren hiervon nicht betroffen, sie konnten mit dem nötigen Abstand trotzdem stattfinden. In der zweiten Jahreshälfte wurden Veranstaltungen in digitaler Form angeboten, so konnten die Mitarbei­terInnen insgesamt an zwölf Gremiensitzungen und weite­ren sechs Einzelgesprächen teilnehmen. Zusätzlich haben die MitarbeiterInnen sich im Rah­men von zwei verschiedenen Fortbildungsveranstaltungen zum Kinderschutz weitergebildet.



[3] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/2020/2-quartal/beschluss-verbot-konversionstherapien.html, abgerufen am 25.02.2021.

[4] www.nrz.de/region/niederrhein/corona-verstoesse-in-mehreren-freikirchen-bloss-einzelfaelle-id231271568.html, abgerufen am 25.02.2021.

[5] BGH, Urteil vom 29.04.2020, Az.3 StR 547/19.

[7] https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/prozess-duisburg-100.html, 19.11.2020, abgerufen am 15.03.2021.

[8] vgl. hierzu den Bericht einer betroffenen Ehefrau, Auf der Suche nach Heilung – Ein Erfahrungsbericht und Anja Gollan, "Rechtliche Grenzen nicht wissenschaftlicher Heilmethoden“, auf unserer Webseite.

[9] Edzard Ernst, Alternativmedizin – Was hilft, was schadet, 2021, S. 74.

[10] www.welt.de/politik/deutschland/plus223141182/Umstrittene-Heilpraktikerin-Die-Wunderheilerin-die-Familien-spaltet.html, abgerufen am 27.12.2020.

[11] www.christinavondreien.ch/news/newsletter/corona-als-chance, abgerufen am 25.02.2021.

[12] Lamberty, P. & Nocun, K. (2020). Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen. 2020

[13] Matthias Pöhlmann, Im Sog der „PLANdemie“, EZW-Texte 268/2020.

[14] Matthias Pöhlmann, Im Sog der „PLANdemie“, EZW-Texte 268/2020, S. 152.

[16] https://jz.help/medienmitteilung-vom-8-juli-2020/, abgerufen am 12.03.2021.

[17] Oliver Koch: Shinchonji und das Corona-Virus - eine brisante Mischung, EZW-Texte 268/20, S. 80.

[18] Oliver Koch: Shinchonji und das Corona-Virus - eine brisante Mischung, EZW-Texte 268/20, S. 71-88.

[19] Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen, 2019, S. 263-269.

[20] https://www.scientology.de/staywell/, abgerufen am 12.3.2021.

[21] https://www.blick.ch/schweiz/mehrere-geschaefte-sind-schon-auf-die-sekte-hereingefallen-scientologen-tarnen-sich-als-corona-bekaempfer-und-gehen-von-tuer-zu-tuer-id15918574.html, abgerufen am 12.3.2021.

[22] https://www.scientology.de/courses/solutions/overview.html, abgerufen am 12.3.2021.

[23] Kent-Depesche 20+21/2020, Kirchheim.

[24] www.mimikama.at/allgemein/faktencheck-zu-medizinische-information-covid-19-lv/, abgerufen am 15.03.2021.

[25] vgl. hierzu Christoph Grotepass, Die "Germanische Neue Medizin" von Ryke Geerd Hamer auf unserer Webseite.

[27] www.hessenschau.de/panorama/sekten-chefin-wegen-mordes-an-kind-verurteilt,sektechefin-hanau-urteil-100-html, abgerufen am 25.09.2020.